Die Herausgabe der Stafette steht für das Weiterleben der rumäniendeutschen Literatur in der angestammten Heimat Rumänien.
Nach dem Umbruch von 1989 und dem Massenexodus der Rumäniendeutschen danach, besonders in den Jahren 1990 und 1991 mit über 100.000 verkauften Seelen von Ceaucescu an die Bundesrepublik, siedelten von den verbliebenen ca. 300.000 Rumäniendeutschen nochmals ungefähr 200.000 aus, so dass unter 100.000 Seelen zurückblieben in ihrer angestammten Heimat Rumänien, während die große Mehrheit in ihre historische Heimat Deutschland zurückkam. In dieser schlimmsten Phase ihrer Existenz für die verbliebenen Rumäniendeutschen – von denen die Siebenbürger Sachsen schon über 800 Jahre in Rumänien lebten und die Banater Schwaben immerhin auch schon 300 Jahre – fasste die bekannte Temeswarer banatschwäbische Autorin, Kunsthistorikerin und Deutschprofessorin An-nemarie Podlipny-Hehn den beherzten Entschluss, in dem im ganzen Land bekannten und berühmten Temeswarer Nikolaus-Lenau-Lyzeum einen deutschsprachigen Literaturkreis „Stafette“ zu gründen.
Dieser sollte, wie schon sein Name besagt, die Stafette der rumäniendeutschen Literatur nicht in die Vergangenheit fallen lassen, sondern in die Zukunft weitertragen.
So schwierig auch die Entstehungsumstände sein mochten, die Temeswarer Literaturbegeisterten, unter Führung von Annemarie Podlipny-Hehn, ließen sich nicht entmutigen und begannen 1992 – nachdem der Exodus der Rumäniendeutschen abgeebbt war – mit den alten banatschwäbischen Tugenden des Fleißes, der Zielstrebigkeit und vor allem des organisierten gemeinschaftlichen Zusammenarbeitens eine literarische Werkstätte zunächst für das Lenau-Lyzeum und dann auch für alle Literaturinteressierten einzurichten und kontinuierlich mit regelmäßigen Sitzungen mit Leben zu erfüllen.
Es war zunächst für lange Zeit die einzige deutschsprachige regelmäßig tagende Literaturvereinigung, die vor allen Dingen als „Stafette“ symbolisch bestrebt war, der rumäniendeutschen Literatur eine junge Generation heranzubilden, diese zu erhalten und damit überhaupt der bis dahin selbstständigen rumäniendeutschen Literatur eine Zukunft zu ermöglichen. Denn nur wer die Jugend hat, hat auch Zukunft. Eine Literatur, die nicht mehr gegenwartsbezogen gelesen werden kann, weil keiner mehr da ist, der in ihr schreibt und somit ihr Leben garantiert, hat aufgehört aktuell zu sein. Gerade in unserer heutigen ge-genwartsfokussierten Zeit, wo so gut wie alles auf das Hier und Heute bezogen wird und die geschichtliche Dimension in den Hintergrund gerückt wird, ist die Herausbildung einer jungen Generation von Autorinnen und Autoren das A und O, das wirklich Wesentliche, was eine lebendige Literaturszene ausmacht.
Es ist Annemarie Podlipny-Hehns und dann auch ihrer engagierten Mitarbeiterin und Stellvertreterin Lorette Bradiceau-Persem gelungen, die Stafette zunächst an reifere Autoren wie Erika Scharf und Ignaz Bernhard Fischer weiterzureichen.
Vor allen Dingen aber gelang es ihnen, eine jüngste Generation der rumäniendeutschen Literatur heranzubilden, die man mit Fug und Recht „Stafette-Generation“ nennen kann, weil sie im Rahmen des Stafette-Literaturkreises im Laufe der Zeit von 20 Jahren heranwuchsen zu Autorinnen und Autoren mit zahlreichen Veröffentlichungen in den Anthologien der Stafette, von denen es inzwischen 17 Sammelbände gibt. Heute haben einige von diesen Autorinnen und Autoren sogar Eigenbände an Lyrik, Prosa und sogar dramatischen Texten. Damit strahlen sie über ihr literarisches näheres Umfeld Stafette-Literaturkreis Temeswar, Banat, Rumänien, sogar bis in den deutschsprachigen Raum der Bundesrepublik, Österreichs, ja der Schweiz, ja sogar bis nach Südtirol in Italien und Nordschleswig in Dänemark.
Die deutschsprachige Literatur Rumäniens nach dem Umbruch 1989, diese ehemals sogenannte fünfte deutsche Literatur, nach der der Bundesrepublik, der der verblichenen DDR, der Österreichs und der der Schweiz, hat dabei heute eine zusätzliche Sonderrolle und damit eine Zusatzaufgabe erhalten.
Die rumäniendeutsche Literatur von heute nach dem Umbruch 1989 ist die einzige selbstständige deutschsprachige Literatur – vital wirkend in allen literarischen Gattungen, Lyrik, Prosa, Drama, Drehbuch, Feature, Essay und Literaturkritik – die die komplexe und wahrlich komplizierte Transformationsperiode von der härtesten Diktatur des Ostblocks, der Willkürherrschaft des Ceaucescu-Clans zur Demokratie in osteuropäischen balkanesischen Bedingungen existenziell miterlebt und mitgestaltet. Außerdem ist diese nach wie vor selbstständige rumäniendeutsche Literatur auch eine europäische Einmaligkeit in ihrer völkerverbindenden Ausgangslage.
Nach dem Auszug so vieler Rumäniendeutscher gelang es den Verbliebenen nur mit großzügiger Hilfe der neuen rumänischen Demokratie und der rumänischen und auch ungarischen Mitbürger, die beachtliche deutschsprachige kulturelle Infrastruktur Rumäniens – deutschsprachige Kindergärten, Schulen, Kirchen, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Theater – zu bewahren.
So gibt es zur großen Verwunderung trotz dem Massenexodus 1990-1991 nach wie vor in Rumänien noch immer in einigen ländlichen Gemeinden, aber vor allem in den großen Städten Siebenbürgens und des Banats sowie in der Hauptstadt Bukarest, deutschsprachige Kindergärten und Schulen, wo Deutsch die Unterrichtssprache bis zum Abitur ist.
Die Mehrheit der Kinder in diesen sehr begehrten Bildungseinrichtungen, die auch mit Hilfe von Erziehern, Lehrern und Pädagogen aus der Bundesrepublik und Österreich wirken, ist inzwischen muttersprachlich Rumänisch, zum Teil auch Ungarisch, aber immer noch auch zu einem gewissen Prozentsatz Deutsch, selbst wenn dieser mitunter auch bescheiden nur 10% oder in Ausnahmefällen sogar nur 5% beträgt.
Doch auch dieser inzwischen geringe Anteil muttersprachlich deutscher Kinder verhilft allen Besuchern, dass diese Kindergärten und Schulen zu wahren Begegnungsstätten mit Deutsch als Alltagssprache und Unterrichtssprache werden können, da die rumänischen und mitunter auch ungarischen Kinder der deutschen Schulklassen meist schon aus den ebenfalls in die Transformationszeit hinübergeführten deutschen Kindergärten der deutschen Sprache durchaus von Anfang an schon mächtig sind.
Im Verlaufe ihrer weiteren Schulbildung avanciert Deutsch dann zu ihrer ersten Bildungssprache, und erfreulich viele Schülerinnen und Schüler begnügen sich dann in den höheren Klassen nicht mehr nur damit, deutsche Literatur zu lesen, sondern sie gehen einen ganz entscheidenden Schritt weiter und schreiben auch selbst deutsche Literatur, die es durchaus in sich hat.
Diese allerjüngste rumäniendeutsche Literatur hat es auch des-halb in sich, weil sie ein einmaliges literarisches Phänomen des zusammenwachsenden Europas nicht nur über Länder-, sondern auch über Sprachgrenzen hinweg ist.
Außerdem erfährt die deutschsprachige Literatur hier eine zusätzliche atmosphärische und stimmungsvolle Mentalitätsbereicherung durch die von Hause aus lateinisch-romanisch-rumänisch geprägten Autorinnen und Autoren rumänischer Muttersprache, die geistigen Erben des römischen Reiches über seine ehemalige Kolonie Dacia Romana auf dem Gebiete des heutigen Rumäniens.
Ein sehr guter Beleg dafür ist zum Beispiel das Gedicht Man sagt … des 1985 geborenen Andrei Cherascus aus seinem Eigenband Das Ende der Kindheit, Lyrik im Artpress Verlag Temeswar 2004 erschienen. Der damals 19-jährige Autor des Lenau-Lyzeums stellt fest: „Man sagt, die Zeit heilt jede Wunde. / Man sagt, das Feuer exorziert. / Man sagt, alte Gewohnheiten sind schwer zu verlieren. / Man sagt vieles …“
Dieser wahrhaft altrömische Lakorismus beweist ein übriges Mal, dass Rumänien, das Mentalitätserbe der uralten römischen Kolonie Dacien bis auf den heutigen Tag weiterführt.
Petra Curescu, die inzwischen mit zwei Eigenbänden hervorgetreten ist, Regenbogen der Nacht 2001 – damals 18 Jahre alt – und Warum rede ich (nicht) 2010, bekennt freimütig, dass Deutsch ihre Bildungssprache im europäischen Sinn einer Gemeinschaft von 100.000 Millionen Sprechern ist und sie sich dieser mitteilen will. Die spezifischen Belange der rumäniendeutschen Kulturbesonderheiten sind nicht ihr vorrangiges Thema, wenn sie auch selbstverständlich das Alltagsdeutsch Rumäniens gern liest in der ebenfalls in die Transformationszeit hinübergerettete rumäniendeutsche Tagespresse. Die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien aus Bukarest ist die einzige deutsche Tageszeitung aus dem ganzen ehemaligen Ostblock. Ebenfalls hört Petra Curescu auch gerne Deutsch im ebenfalls in die Transformationszeit hinübergeführten selbstständigen Deutschen Theater Temeswars.
Dafür fühlt sich der inzwischen ebenfalls mit zwei Eigenbänden Als das Wort zu Ende war, Eurobit Verlag Temeswar 2000 und Lyrisches Tagebuch Cosmopolitan Art Verlag 2008, bekanntgewordene Lucian Manuel Varsandan – 1975 in Arat geboren, aber Absolvent des Nikolaus-Lenau-Lyzeums aus Temeswar – auch für die Kultur seiner banatschwäbischen Mitbürger zuständig, zumal er inzwischen auch zum Intendanten des Deutschen Theater Temeswar gewählt wurde.
In seinem Gedicht Entschluss über das Verbleiben zweier Banatschwaben in München lässt er in tragischer Ironie – ein ebenfalls lateinisch-römisch-rumänische Mentalitätsbeleg – für die kundigen Landsleute die 300-jährige Geschichte der Banatschwaben in ihrer angestammten Heimat Rumänien im Hintergrund aufleuchten: „Jetzt / wo wir schon so lange da sind / wo wir eine Wohnung haben / und einen Wagen haben / – jetzt bleiben wir hier / – schriebst du mir neulich / aus München.“
In seinem zweiten Band Lyrisches Tagebuch setzt Lucian Manuel Varsandan den verlassenen ehemals mustergültigen banat-schwäbischen Häusern ein lyrisches Denkmal. „Die schwäbischen Häuser aneinandergereiht / Giebel an Giebel / Zaun an Zaun / – dunkelgelb / und verwaschen / – die Fenster starren einander / über die Dorfgasse an / – als ob sie fragen würden / wieso die Menschen / sich verspäten.“ Die pünktlichen Banater Schwaben verspäteten sich nicht.
Mit dieser Stafettegeneration ist es Annemarie Podlipny-Hehn, Lorette Bradiceanu-Persem und allen anderen Mitwirkenden an diesem Literaturkreis gelungen, einen Pfeiler der jüngsten rumäniendeutschen Literatur zu errichten, der auch erfreulicherweise hauptsächlich in der angestammten Heimat Rumänien, zunehmend aber auch im deutschsprachigen Ausland, wahr-genommen wird.
Einige Stafettemitglieder sind inzwischen Mitglieder des rumänischen Schriftstellerverbandes, Filiale Temeswar, geworden, Petra Curescu, Lucian Manuel Varsandan, Henrike Bradiceanu-Persem, Lorette Bradiceanu-Persem und Robert Tari steht – inzwischen auch Autor zweier Eigenbände – kurz davor.
Auch im deutschsprachigen Ausland wird die in die Transformationszeit hinübergerettete selbstständige rumäniendeutsche Literatur zusehends wahrgenommen. Es gab Lesungen mit den Stafette-Autoren in großen deutschen Städten – Köln, Düsseldorf, Bonn, München, Ulm – wie auch in Wien und Budapest.
2010 wurde vier Mitglieder des Stafette-Literaturkreises in den internationalen PEN deutschschreibender Autoren im Exil aufgenommen und überzeugten dabei mit einer Lesung aus ihren Werken. Lucian Manuel Varsandan, Petra Curescu, Annemarie Podlipny-Hehn und Balthasar Waitz, ein in der alten Heimat verbliebener banatschwäbischer Autor aus dem früheren, Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis, dessen Tradition er nun in der Stafette weiterführt.
Dies hat er zuletzt mit seinem neuen Erzählband Krähensommer. Geschichten aus dem Hinterland, Cosmopolitan Art Verlag Temeswar 2011, eindrucksvoll bewiesen. Der Bukarester Literaturkritiker Hans Liebhardt hat es als das wichtigste banatschwäbische Buch seit Herta Müllers Niederungen in der Allgemeinen Deutschen Tageszeitung besprochen.
Das Weiterleben der rumäniendeutschen Literatur mit ihrem unverwechselbaren Profil in der angestammten Heimat Rumänien ist nicht nur für Rumänien und seinen nach wie vor trotz aller Schwierigkeiten durchaus beachtlichen Minderheitenpolitik wichtig, sondern auch für den deutschsprachigen Raum, ja selbst für Gesamteuropa, denn ohne diesen Brückenpfeiler im Osten Europas könnte man diese völkerverbindende Kulturbrücke Ost/West nicht schlagen, weil jede Brücke wenigstens zwei Brückenpfeiler, auf beiden Seiten mindestens jeweils einen benötigt, damit diese Verbindung getragen werden kann. Fehlt der eine Brückenpfeiler, gibt es auch keine Brücke mehr, und was die rumäniendeutsche Literatur anbelangt, bleibt noch hoffentlich eine lange Zeit bestehen, der rumäniendeutsche Brückenpfeiler in der angestammten Heimat Rumänien.
Eine sehr wesentliche Stütze dieses Pfeilers ist der Stafette-Literaturkreis besonders mit seiner jungen Stafette-Generation.
Welches reiche literarische Potenzial die Leitung dieses Literaturkreises und alle ihre Mitwirkenden zu mobilisieren imstande sind, beweist der zuletzt 2011 erschienene Stafette-Sammelband Nr. 17, in dem die unglaublich hohe Zahl von 15 jüngsten Mitgliedern des Kreises vorgestellt werden: Alles Schüler des Nikolaus-Lenau-Lyzeums Temeswar, an dem die stellvertretende Leiterin des Stafette-Literaturkreises Lorette Bradiceanu-Persem als Deutschlehrerin beispielgebend unterrichtet und in ihrer Freizeit zusätzlich die entdeckten Begabungen fördert.
Von den 15 vorgestellten jüngsten Autorinnen und Autoren hat Karina Körösi in ihrem 9. Schuljahr für einen im Stafette-Kreis demokratisch ausgewählten Text 2011 den Libeth Rieping-Literaturpreis für die beste literarische Schülerleistung des Jahres erhalten.
Die viel zu früh verstorbene Autorin, Ärztin und Lehrerin Libeth Rieping, eine treue Freundin und großzügige Förderin der Stafette-Autorinnen und Autoren, die diese auch mit nach Deutschland einlud, beherbergte und zu deren Lesungen und Veranstaltungen führte, hatte immer wieder auf die Notwendigkeit eines kreativen Deutschunterrichtes hingewiesen.
Ihr Mann, der Exil-Iraner Ali Schafii, ein Informatiker und ebenfalls Freund und Förderer der Stafette, hat ab 2011 diesen Libeth-Rieping-Gedächtnispreis gestiftet mit der besonderen Bitte, ihn gleichmäßig nach einer demokratischen Wahl zu dritteln. Einen für Lyrik, einen für Prosa oder Drama und einen für einen Schülertext.
Im vergangenen Jahr 2011 wurde als beste Schülertextautorin Karina Körösi gewählt, die die damit in sie gesetzte Erwartungen auch sofort erfüllte, indem sie in der darauf folgenden Deutscholympiade für ganz Rumänien den ersten Preis in ihrer Klassenstufe – inzwischen die zehnte – sich erschrieb.
Ein neuerlicher Beweis für das glückliche Händchen von Annemarie Podlipny-Hehn, Lorette Bradiceanu-Persem sowie al-ler Teilnehmer des Stafette-Literaturkreises, die auch diese gelungene Auswahl demokratisch getroffen hatten. Symptomatisch auch dieses Ergebnis für den Glücksfall, den der Literaturkreis-Stafette darstellt.
Er möge uns allen zum Nutzen der deutschsprachigen Literatur Rumäniens und darüber hinaus über den deutschsprachigen europäischen Raum auch für ganz Europa als ein Beispiel völkerverbindenden literarischen Schaffens noch recht lange erhalten bleiben!
Bild: Logo des Nikolaus-Lenau-Lyzeums / Quelle: Von unbekannt – http://ro.wikipedia.org/wiki/Imagine:Sigla_Nikolaus_Lenau_Lyzeum.png, Logo, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3486189
Ingmar Brantsch