Am 29. September 1297 verlieh der Landmeister von Preußen, Meinhard von Querfurt, dem bereits seit einigen Jahren dünn besiedelten Gebiet Pazlok an der Weeske im Bistum Pomesanien das Stadtrecht, wobei er in Anlehnung an die Herkunft der dortigen Bewohner seiner Neugründung den Namen Hollant gab (seit dem 17. Jahrhundert erweitert zu Preußisch Holland). Die hochkarätige Zeugenliste, die in der Urkunde aufgeführt ist, darunter zahlreiche Landkomturen, läßt vermuten, daß zu diesem Zeitpunkt an ihrem Ausstellungsort Elbing gerade ein Landkapitel stattfand. Indem die Stadtrechtsverleihung nach kulmisch-magdeburgischem – also deutschem – Recht erfolgte, belegt sie beispielhaft eines der Phänomene, die die nach dem Wormser Konkordat von 1122 massiv einsetzende Ostkolonisation durch Siedler aus dem mitteleuropäischen Raum maßgeblich prägten, nämlich die enge Verknüpfung von Kolonisierung und Christianisierung mit der Übernahme deutschen Rechts für den bislang rechtlich kaum erschlossenen Raum jenseits der Oder. Vor allem aber bot dieser Transfer deutscher Rechtskultur den deutschstämmigen Siedlern der neugeschaffenen Städte in Schlesien, Pommern und Preußen die nötige zivilisatorische Entwicklungshilfe, um sich in ihrer agrarisch-feudal geprägten Umgebung behaupten und eine eigene Lebens- und Wirtschaftsidentität mit den für städtisches Leben erforderlichen Freiheiten ausbilden zu können.
Wie überall im Bereich des mittelalterlichen deutschen Rechts war diese Entwicklung von der Bildung einzelner Rechtskreise geprägt. Während sich entlang der Ostseeküste das Recht der Stadt Lübeck ausbreitete und im Altreich unter anderem die Stadtrechte von Wien, Köln, Ingelheim, Nürnberg, Frankfurt a.M. oder Soest dominierten, wurde im östlichen Binnengebiet zwischen Oder und Memel, in Polen, Litauen, Galizien und der Ukraine, Magdeburg zur Metropole, ja zur ”Hauptstadt des Ostens”, das auf dem Sachsenspiegel basierende Magdeburger Recht geradezu zum Synonym für eine deutsche Rechtsverfassung. Die Bewidmung einer Stadt mit einem bestimmten Stadt-recht stellte dabei keine einmalige Handlung dar, vielmehr wurde die Rechtseinheit innerhalb einer Stadtrechtsfamilie, aber auch die – wenn auch nur vorsichtig – modernisierende Weiterentwicklung des ursprünglich verliehenen Rechts durch regel-mäßige Anfragen aus der Tochter- bei der als Oberhof dienenden Mutterstadt gewährleistet. Zu einem solchen – für den Rechtsuchenden, bei dem es sich um eine Partei, aber auch das Gericht selbst handeln konnte, recht kostspieligen – Rechtszug kam es meist in konkreten Rechtsstreitigkeiten, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage besonders kompliziert oder von der eigentlichen (abstrakten) Rechtsmitteilung nicht erfasst war. Die Ratmannen oder (z.B. in Magdeburg) Schöffen der Mutterstadt trafen in der Regel auf solche Anfragen hin kein abschließendes, verbindliches Urteil, sondern fällten eine Eventualentscheidung, die dann eine Beweiserhebung des – auf der Grundlage des erteilten Rechtsrats – entscheidenden Gerichts der Tochterstadt erforderlich machte. Zu einem kontinuierlichen Absterben dieser Praxis kam es erst, als im 16./17. Jahrhundert die erstarkenden Territorialherren im Rechtszug an ein ausländisches Gericht, nicht zuletzt auch wegen konfessioneller Differenzen, einen nicht mehr tolerierbaren Eingriff in ihre Souveränität sahen, weshalb sie die Aktenversendung nur noch innerhalb ihres Staatsgebietes zuließen.
Die wohl systematischste und planmäßigste Übertragung des Magdeburger Stadtrechts auf ein größeres Gebiet erfolgte im Deutschordensland. Bereits die Kulmer Handfeste von 1233, mit der die Städte Kulm und Thorn durch den Hochmeister des Deutschen Ordens Hermann von Salza nach Magdeburger Recht gegründet wurden, war von vornherein nicht nur als bloßes Stadtrechtsprivileg gedacht, sondern auch als Grundlage für die Besiedlung der neu erworbenen Gebiete des Deutschen Ordens unter einer einheitlichen Rechtsordnung, gewissermaßen als ”Grundgesetz des Ordensstaates”. Ganz in diesem Sinne erfolgten auch durchweg alle weiteren Städtegründungen im Ordensland in den Folgejahren nach Magdeburger Recht, das man, auf Grund geringfügiger Modifikationen, die die Kul-mer Handfeste im Interesse einer Anpassung an die spezi¬fi-schen Bedürfnisse des Ordens vorsah, meist als Kulmisches Recht bezeichnete. Als einheitlicher Oberhof für alle Städte des Ordenslandes fungierte zunächst Kulm, nach dem Zweiten Thor¬ner Frieden von 1466 Königsberg. Wie es der für den Mag-deburger Rechtskreis typi¬schen Mehrstufigkeit des Rechts¬zugs entsprach, konnten nicht nur nach einer Entschei¬dung die¬ses Oberhofes – gelegentlich sogar unmittelbar, unter dessen Um-ge¬hung – die Mag¬de¬burger Schöffen angerufen werden, sondern es bildeten sich auch kleinere Oberhöfe inner¬halb des Ordenslandes, die um Rechtsrat angegangen wurden, noch bevor man den Rechtsweg nach Thorn bzw. Königsberg beschritt. Hierzu gehörte auch Preußisch Holland, dessen zuletzt zwölfköpfiges Schöffenkollegium von einigen kleineren Städten des Oberländischen Kreises, vornehmlich bei gravierenderen Strafsachen, regelmäßig um Rat ersucht wurde.
Abgesehen von der Bewidmung mit Kulmischem Recht enthielt die Urkunde von 1297 eine Reihe von Einschränkungen der städtischen Selbstverwaltung zugunsten des Deutschen Ordens, der sich unter anderem die Zuständigkeit für die im Ort befindlichen Mühlen, die Münze, die Burg Pazlok (das Deutsch-Ordenshaus), die Straßengerichtsbarkeit und die Gerichtskompetenz bei Prozessen gegen oder unter Slaven vorbehielt, aber auch die Errichtung von Walküren und Stadtbefestigungen von seiner Zustimmung abhängig machte. Vor allem aber war die Übertragung des Stadtrechts mit einer Vielzahl von Abgaben verknüpft, die die Stadt dem Orden zu entrichten hatte. Während das Kulmer Recht spätestens ab dem 17. Jahrhundert zunehmend durch neuere Vorschriften verdrängt wurde, blieb es bei diesen Zahlungen an den Fiskus bis ins späte 19. Jahrhundert, als das (preußische) Gesetz über die Einführung einer allgemeinen Gebäudesteuer vom 21. Mai 1861 dieser Pflicht zum 1. Januar 1865 ein Ende setzte. Noch 20 Jahre später kam es allerdings zu einem Rechtsstreit über die 1297 festgelegten Abgaben, da die Stadt Preußisch Holland in Unkenntnis der nicht mehr bestehenden Zahlungsverpflichtung nicht nur jahrelang weiter alle Abgaben entrichtet, sondern 1882 mit dem Fiskus auch einen Ablösevertrag geschlossen hatte, um gegen Zahlung einer größeren Ablösesumme von dieser Pflicht freizukommen. Erst nachdem das Reichsgericht – wie in der Vorinstanz bereits das Landgericht Königsberg II – 1892/93 zweimal zugunsten Preußisch Hollands entschieden hatte, erfolgte die Rückzahlung dieser irrtümlich und rechtsgrundlos gezahlten Beträge an die Stadt.
Quelle: Preußisches Urkundenbuch, Politische (allg.) Abtlg., Bd. I, 2. H., Nr. 680, Neudr. d. Ausg. 1909 (1961), S. 423 ff. Abdruck der Quelle mit deutscher Übersetzung auch bei: Georg Conrad, Preußisch Holland einst und jetzt (1897), Anlage 1, S. 277 ff.
Lit.: Georg Conrad: Preußisch Holland einst und jetzt (1897). – Friedrich Ebel: Der Magdeburger Schöppen¬stuhl, in: JuS 1981, S. 330 f. – Ders.: Kulmer Recht – Probleme und Erkenntnisse, in: 750 Jahre Kulm und Marienwerder, hg. von Bernhart Jähnig/Peter Letkemann (1983), S. 9 ff. – Wilhelm Ebel: Deutsches Recht im Osten (1952). – Ina Ebert: 600 Jahre Alter Kulm, in: Ostdeutsche Gedenktage 1994, S. 241 ff. – Gertrud Schubart-Fikentscher: Die Verbreitung der dt. Stadtrechte in Osteuropa (1942), v.a. S. 327 ff. – Guido Kisch: Die Kulmer Handfeste2 (1978). – Johannes Voigt: Geschichte Preußens IV, Neudr. d. Ausg. 1830 (1968), S. 136 ff.
Foto: Wappen von Preußisch Holland / Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=902556
Ina Ebert