Ereignis vom 20. März 1921

Volksabstimmung in Oberschlesien

Oberschlesien 1905

Im Zuge des Ersten Weltkrieges arbeitete US-Präsident Woodrow Wilson in seinem berühmten 14-Punkte-Prograrnm einen Ansatz für eine neue Gesellschaftsordnung heraus, deren Hauptmotiv vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gekennzeichnet war. Ein wesentlicher Punkt davon waren Volksabstimmungen. Diese Pläne scheiterten jedoch gleich bei den Verhandlungen zum Friedensabkommen von Versailles. Dort wurde u.a. eine Volksabstimmung in Oberschlesien beschlossen, bei der jedoch kaum der Wille des Volkes bekundet werden sollte. Oberschlesien war Handlungsobjekt inmitten des deutsch-französischen Konfliktes. Zum einen versuchte die französische Regierung unter Premierminister Georges Clemenceau, der seine antideutsche Haltung gar nicht zu verbergen versuchte, das Deutsche Reich empfindlich zu schwächen und das wiederbegründete Polen zu stärken, um sich selbst seinen Hegemonialanspruch auf dem Kontinent zu verschaffen. Zum anderen muss die Haltung der französischen Delegation auf den Vorverhandlungen zu dem Friedensabkommen auch vor dem emotionalen Hintergrund des verlorenen deutsch-französischen Krieges und der Krönung Kaiser Wilhelms I. in Versailles 1871 gesehen werden. Daher ist es kein Zufall, dass der Verhandlungsort des Friedensabkommens ausgerechnet in Versailles ausgesucht wurde. Eine andere Position nahm die britische Verhandlungspartei unter der Führung Premierministers David Lloyd George ein. Die Briten sahen das Deutsche Reich weiterhin als Großmacht an und wollten es auf das internationale Parkett zurückzuführen. Durch die extensive Machtausweitung Frankreichs zuungunsten des zu stark geschwächten Deutschlands sahen sie das politische Gleichgewicht auf dem Kontinent empfindlich geschwächt, so dass sie bereits in der Phase der Vorverhandlungen zum Versailler Friedensvertrag immer mehr in starke Opposition zu Frankreich gerieten. US-Präsident Wilson zog sich sehr früh aus den Sitzungen heraus, weil er seinen politischen Ansatz als verletzt ansah, und so unterzeichneten die USA den Versailler Vertrag nicht. Wilson sah voraus, dass die Idee der Selbstbestimmung der Völker an zu divergierenden Interessen aller Beteiligten gescheitert ist, was Nährboden für weitere politische und ethnische Konflikte in dieser Region schuf.

Im Zuge der Verhandlungen in Versailles 1918 versuchte zunächst Premier Clemenceau, die Forderungen der polnischen Delegation unter der Leitung von Roman Dmowski, dem Führer der polnischen Nationaldemokratie, aus den bereits geschilderten politischen Erwägungen vollends zu unterstützen. Diese sahen eine bedingungslose Abtretung Oberschlesiens an Polen vor. Der britische Premierminister konnte diese Forderungen verhindern und so wurde der Kompromiss beschlossen, eine Volksabstimmung in Oberschlesien durchzuführen. Die französische und die polnische Regierung waren sich sicher, dass die Volksabstimmung zugunsten Polens ausfallen würde. Dieser Optimismus resultierte aus der amtlichen deutschen Volkszählung von 1910, wonach 52,9 % der Oberschlesier Polnisch als ihre Muttersprache deklariert hatten, während 40% Deutsch angegeben hatten. 7% hatten erklärt, sie seien zweisprachig und 0,1% war auf den mährischen Dialekt entfallen. Die Nationaldemokratie unter Dmowski beanspruchte die Zweisprachigen für die polnische Seite, was eine polnischsprachige Majorität von 60% ergab.

Der britische Premierminister setzte in zähen Verhandlungen durch, dass die Volksabstimmung von einer unparteilichen Kommission überwacht werden sollte. Am 11. Februar 1920 übernahm die Interalliierte Regierungs- und Plebiszit-Kommission die Regierungsgewalt in Oberschlesien. Die deutschen Regierungsvertreter mussten das Gebiet verlassen. Da jedoch zur gleichen Zeit schwere Arbeiterunruhen in Großbritannien ausbrachen, zog die britische Regierung ihre Soldaten aus Oberschlesien zurück und konzentrierte sich in erster Linie auf die innenpolitischen Spannungen. Aus diesem Grunde wurde die Kommission von nun an von den Franzosen dominiert, deren Haltung sich durch eine eklatante Parteilichkeit zugunsten der polnischen Regierung auszeichnete.

Am 28. Dezember 1919 hatte Warschau Wojciech Korfanty zum Leiter der gesamten Plebiszitkampagne bestimmt. Im Februar 1920 konstituierte sich schließlich in Beuthen das „Polnische Plebiszitkommissariat“. Dem gegenüber stand der vom neuen Propagandachef für Oberschlesien, Hans Lukaschek, geleitete „Schlesische Ausschuss“. Die Kandidatur des oberschlesischen Zentrumspolitikers Carl Ulitzka wurde vom Leiter der Interalliierten Kommission, General Le Rond, zurückgewiesen. Aus taktischen Erwägungen wurde der Bürgermeister von Roßberg bei Beuthen, Kurt Urbanek, zum deutschen Plebiszitkommissar berufen. Am 5. Mai 1920 rief Urbanek öffentlich zur Bildung eines Deutschen Plebiszitkommissariats auf. Anfang Juli waren die Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen.

Beide Seiten starteten eine groß angelegte Propagandamaschinerie, um die Bevölkerung von ihrer Position zu überzeugen. Die Hauptstrategie der deutschen Propaganda waren die jahrhundertlange Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland, Appell an nationales Zugehörigkeitsgefühl, Protest gegen das sog. „Versailler Diktat“ und die politische und ökonomische Unfähigkeit Polens. Sehr in den Vordergrund rückte Korfanty, der stellvertretend für alle Polen als skrupelloser Verbrecher dargestellt wurde.

Das Propagandakonzept Korfantys war zweigleisig: Zum einen bewegte es sich auf der nationalistisch-emotionalen Ebene und sollte den Hass und die Rache gegen alles Deutsche schüren. Andererseits wurde die ökonomisch-rationale Ebene betont, wonach das schwache Deutschland ein ewig geschlagenes Land bleiben würde.

Nach den „Vorschriften für die Volksabstimmung in Oberschlesien“ , sollten alle dort nicht geborenen Personen, die nach dem Stichtag vom 1. Januar 1904 ihren Wohnsitz im Abstimmungsgebiet eingenommen hatten, vom Plebiszit ausgeschlossen wurden. Das betraf ca. 50.000-100.000 deutsche Facharbeiter, ausgebildete Personen und Beamten, die in der Blütezeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in diese Region gekommen waren. Andererseits wurde alle Polen, die nach dem 1. Januar 1904 von deutschen Behörden ausgewiesen worden waren, das Wahlrecht eingeräumt. Darunter waren zahlreiche illegale polnische Einwanderer und Industriearbeiter, die von den deutschen Behörden aufgegriffen und ausgewiesen wurden.

Die Volksabstimmung fand am 20. März 1921 statt. Die Wahlbeteiligung war mit 97,5% gewaltig hoch. Das Plebiszit brachte ein völlig umgekehrtes Ergebnis als die Kommunalwahl von 1919: 59,6% der gültigen Stimmen entfielen auf den Verbleib bei Deutschland, 40,4% auf Polen. Das Ergebnis brachte den Deutschen zwar Erleichterung, aber auch Ernüchterung , weil der Südosten klar für Polen votierte, und zwar die Kreise Rybnik, Pless und Tamowitz, sowie zusätzlich Groß Strehlitz. Interessant ist, dass selbst im polnischsprachigen, aber stark protestantisch geprägten Kreis Kreuzburg mit mehr als 96% für Deutschland gestimmt wurde. Ebenso aufschlussreich ist auch das Verhältnis von Muttersprache und Abstimmungsverhalten, da ca. 42% der polnischsprachigen Oberschlesier für den Verbleib in Deutschland stimmten. Dieses Abstimmungsverhalten hing vom Grad der Industrialisierung, Bildung und Verstädterung der Bevölkerung ab. Heimatgefühle überwogen gegenüber dem Nationalgefühl. Die Bevölkerung wählte nach sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Bezügen, in denen sie lebte.

Bis heute wird häufig irrtümlicherweise geglaubt, dieses Endergebnis hätte bedeuten müssen, dass Oberschlesien beim Deutschen Reich verbleibe. Dies war jedoch von vorneherein nicht vorgesehen. Dass Oberschlesien trotz anders lautenden Abstimmungsergebnisses geteilt werden würde, war eigentlich der deutschen Seite von Anfang an klar. Art. 88 des Versailler Friedensvertrags sah ausdrücklich keine Gesamtsicht des Resultats vor, sondern eine Bewertung nach der örtlichen Verteilung der Bevölkerungsvoten. Daher konnte Polen nach diesen Maßstäben östlich der Oder zumindest die gesamten Kreise Rybnik und Pless sowie Teile der Landkreise Beuthen-Land und Kattowitz-Land für sich reklamieren.

In zwei südlichen Regionen Oberschlesiens wurde keine Volksabstimmung durchgeführt: Der südöstliche Teil des Landkreises Ratibor wurde 1918 als sog. „Hultschiner Ländchen“ an die Tschechoslowakei abgetreten. Im ehemals zu Österreich gehörigen sog. Teschener Schlesien wurde ursprünglich ein Plebiszit vorgesehen. Aufgrund der chaotischen politischen Verhältnisse entschied am 28. Juli 1920 der Botschafterrat der Alliierten seinen Schiedsspruch bezüglich der Teschener Frage, das ,,Olsagebiet“ bedingungslos an die CSR abzutreten.

Die Volksabstimmung in Oberschlesien und die mit ihr verbundenen gewaltigen Auseinandersetzungen, die bis heute als sog. „Aufstände“ politisch stilisiert werden, gehören sicherlich zu den größten Tragödien der oberschlesischen Geschichte. Aus ideologischen Gründen wurde insbesondere zur Zeit des Kommunismus die Interpretation vertreten, es hätte sich um einen deutsch-polnischen Konflikt gehandelt, weil sich die oberschlesische und somit polnische Bevölkerung gegen den deutschen „Besatzer“ erhoben habe. Neuerdings werden in Oberschlesien sogar Vergleiche mit einem Bürgerkrieg gezogen. Tatsächlich handelte es hierbei um einen europäischen und vor allem deutsch-französisch dominierten Großkonflikt, der in Oberschlesien ausgetragen wurde. Diese für das Deutsche Reich bedeutende Industrieregion wurde somit zum Spielball der Großmächte.

Lit.: Guido Hitze: Carl Ulitzka (1873-1953) oder Oberschlesien zwischen den Kriegen. (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 40), Düsseldorf: Droste 2002.

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Gregor Ploch (OGT 2011,287)