Grenzüberschreitende Bemühungen zur Bewahrung von Zeugnissen deutscher Geschichte und Kultur im östlichen Europa
Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse am 19. März 2006
Rege von Besuchern frequentiert war der Stand, mit dem die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse nicht nur ihre eigenen Publikationen präsentierte, sondern auch die Arbeit weiterer, gemäß § 96 BVFG geförderter Institutionen, wie der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, des Schlesischen Museums zu Görlitz, der Copernicus-Gesellschaft sowie verschiedener historischer und germanistischer Universitätsinstitute in Sachsen.
Mit „Deutsches Kulturerbe des Ostens“ war der Messestand überschrieben. Als „Kulturgut der Vertreibungsgebiete“ wird dieses Erbe im genannten Paragraphen des Bundesvertriebenengesetzes bezeichnet, das es „in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten“ gelte. Die 1953 getroffene Formulierung lässt erkennen, dass man in der Zeit eines vom „Eisernen Vorhang“ geteilten Europa vornehmlich geistig zu bewahrendes Kulturgut meinte, kaum aber dingliche Kulturgüter, die sich – bis auf das in den Westen verbrachte Inventar von Archiven, Bibliotheken und Museen – jeglichen Maßnahmen zur Pflege und Erhaltung von deutscher Seite entzogen. Dies änderte sich bekanntlich spätestens mit der politischen Wende von 1989/90. Zu rechtlichen Voraussetzungen des Kulturgüterschutzes und ebenso zu Beispielen grenzübergreifenden Engagements für konkrete Kulturgüter des historischen deutschen Ostens äußerten sich auf Einladung der Kulturstiftung im Rahmen einer während der Buchmesse veranstalteten, von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, TU Chemnitz, moderierten Podiumsdiskussion anerkannte Fachleute.
Prof. Dr. Frank Fechner, TU Ilmenau, bedauerte einleitend, dass es im Bereich des Völkerrechts eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs „Kulturgut“ nicht gebe, ja schon wegen der unterschiedlichen Auffassungen über den Begriff der „Kultur“ auf nationaler und internationaler Ebene nicht geben könne. Unstrittig sei lediglich, dass es sich bei einem Kulturgut um etwas Einzigartiges, Unwiederbringliches handeln müsse. Fechner selbst definierte Kulturgüter als Objekte der Geschichte oder Kunst, die für Personen, Gemeinschaften, Völker oder die Menschheit insgesamt Bedeutung haben. Beim Rechtsinstrument des Kulturgüterschutzes handle es sich um eine sog. Querschnittsmaterie, d.h. es sei auf nationaler Ebene gleichzeitig in sehr unterschiedlichen Rechtsgebieten wie dem Zivilrecht, dem Strafrecht und dem öffentlichen Recht angesiedelt, auf europäischer und internationaler Ebene im Kriegs- und im Friedensvölkerrecht. Dies mache die Handhabung des Kulturgüterschutzes nicht eben leichter. Auch wenn das Friedensvölkerrecht Begriffe wie „Erbe Europas“ oder „Erbe der Menschheit“ kenne, so sei es grundsätzlich doch der einzelne Staat, dem der Schutz der auf seinem Territorium befindlichen Kulturgüter allein obliege. Eine völkerrechtlich vereinbarte gemeinsame Verantwortlichkeit mehrerer Staaten für ein als gemeinsam empfundenes Kulturerbe bestehe nicht, was bis heute auch den Umgang mit Zeugnissen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Ausland erschwere.
Die Definition dessen, was ein Kulturgut ausmacht, fiel Dr. Idis B. Hartmann, Oldenburg, vormals am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa tätig, als Kunsthistorikerin leichter als dem Völkerrechtler Prof. Fechner. Unter den Kulturgütern einer Region verstand sie alle dort befindlichen Unikate, die mit bildender Kunst zu tun haben. Ein umfangreicher Bestand an bedeutenden Bauwerken war z.B. in Schlesien vor 1945 intensiv von der staatlichen Denkmalpflege betreut worden, darunter ca. 2.000 überwiegend private Schlösser und Herrenhäuser samt Parks. Mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung gingen nun nicht allein die Besitzer verloren, die bis dahin für den Erhalt gesorgt hatten, sondern fielen diese Bauten auch einer ideologiebedingten Vernachlässigung anheim. Die polnische Denkmalpflege sah sich mit entsprechenden Vorgaben konfrontiert: So sollte im Sinne der „wiedergewonnenen Gebiete“ alles vermeintlich „Piastische“ erhalten werden, während das, was als „preußisch“ galt, zum Untergang bestimmt war. Die Denkmalpflege vor Ort wusste dergleichen Vorgaben indes oft geschickt zu umgehen, so dass in den Nachkriegsjahrzehnten viel Positives für den Erhalt der schlesischen Kulturgüter erreicht wurde. Andrzej Tomaszewski, polnischer Generalkonservator 1995 bis 2000, führte den Begriff des „gemeinsamen Kulturerbes“ ein und eröffnete damit deutschem, meist privat, etwa von Heimatkreisen, getragenem Engagement für den Erhalt von Kulturdenkmälern in Schlesien neue Möglichkeiten. Auch wenn sich Tomaszewskis Plan einer deutsch-polnischen Stiftung für das gemeinsame Kulturerbe bislang nicht verwirklichen ließ, bei manchen von deutscher Seite initiierten Projekten widrige behördliche Bestimmungen bewältigt werden müssen, bleibt zu konstatieren, dass der Schutz der Zeugnisse deutscher Geschichte und Kultur in Schlesien und in ganz Polen heute einen weit stärkeren grenzübergreifenden Charakter besitzt, als dies angesichts der immer noch eher nationalen Sichtweisen verhafteten rechtlichen Vorgaben zu erwarten wäre.
Ein solch positives Bild lässt sich für das nördliche Ostpreußen, die russische Oblast Kaliningrad, nicht zeichnen, wie BdV-Vizepräsident Hans-Günther Parplies, Vorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und Mitglied des Förderkreises zur Rettung der sog. „Ännchen“-Kirche von Tharau/Ostpr., betonte. Dort seien nach 1945 neben den Schlössern und Herrenhäusern auch die Kirchen in besonderer Weise dem Verfall preisgegeben, wenn nicht gar abgerissen worden, galt doch, einen religionsfreien Raum für den neuen sozialistischen Menschen zu schaffen. Man habe die Kirchen nicht als Kulturgüter gewertet und allenfalls dort, wo sich eine wirtschaftliche Nutzung als Traktorenstation, Getreide- oder Düngerlager anbot, weiter baulich unterhalten. Was von den ehemals 224 Gotteshäusern im Jahr 1995 noch auffindbar war, hat Anatolij Bachtin, Mitarbeiter am Kaliningrader Staatsarchiv, fotografisch dokumentiert. Bereits damals waren 91 der Kirchen gänzlich verschwunden, 67 nur noch ruinös erhalten. Wenn es, so Parplies, inzwischen auch keinen ideologisch motivierten Abriss von Kirchen mehr gebe, so schreite deren Verfall nach dem Ende der die Bauten nutzenden Kolchosen bis heute doch in erschreckendem Maße fort, würden viele von ihnen, obwohl von den russischen Denkmalschutzbehörden erfasst, unbekümmert als Steinbrüche missbraucht. Es seien vor allem private Initiativen von vertriebenen Ostpreußen, die sich um die Rettung wenigstens einiger der Kirchen in der Kaliningrader Oblast bemühten. Wie Parplies am Beispiel der bis zur Eindeckung des Daches gediehenen Sicherungsarbeiten an der mittelalterlichen Kirche von Tharau darstellte, sind es nicht allein die Schwierigkeiten der Finanzierung, Materialbeschaffung, Erlangung von Genehmigungen etc., die den Erfolg eines solchen Unternehmens in Frage stellen können, sondern ist es angesichts des Fehlens einer christlichen Gemeinde vor Ort insbesondere die Ungewissheit hinsichtlich der künftigen sinnvollen Nutzung. Nur eine solche könne den erneuten Verfall verhindern. Selten, wie etwa in Friedland, finde sich eine russisch-orthodoxe Gemeinde, welche die restaurierte Kirche mit neuem gottesdienstlichem Leben zu erfüllen vermag, doch schmerze es dort die deutschen Initiatoren der Wiederherstellung, dass ihnen selbst es nicht vergönnt sei, in der Kirche einen evangelischen oder katholischen Gottesdienst zu feiern, käme dies nach orthodoxer Auffassung doch der Entweihung des Gotteshauses gleich.
Die Leipziger Podiumsdiskussion konnte und wollte nur ausgewählte Aspekte der komplexen Problematik behandeln. So wurden Fragen nach der in russischen Museen und Archiven lagernden Beutekunst oder nach dem bei Flucht und Vertreibung in den Westen verbrachten und unlängst an polnische Pfarrgemeinden übergebenen Archivgut lediglich angerissen. Die Diskussion machte indes deutlich, dass ein Schutz der Kulturgüter der historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebiete nicht allein durch rechtliche Regelungen gewährleistet werden kann. Fruchtbar, wenn auch etwa für das nördliche Ostpreußen mühsam, erscheinen konkrete grenzübergreifende, meist private Initiativen zur Rettung und Bewahrung einzelner Kulturgüter. Stets sind es dabei weniger Institutionen, die einen dauerhaften Schutz von Kulturgütern bewirken, als vielmehr die Menschen, die mit den überkommenen Zeugnissen von Kultur und Geschichte umgehen. Wichtig erscheint es daher, ein ausgeprägtes Bewusstsein für deren Wert zu pflegen bzw. erst zu schaffen – dies sowohl bei den vertriebenen Deutschen und ihren Nachkommen als auch bei der heute in deren Heimatgebieten lebenden Bevölkerung.
Diese Veranstaltung wurde gefördert vom Sächsischen Staatsministerium des Innern