Gelingt die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte von Deutschen, Polen und Tschechen?
Eine Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse
Bei der „Erinnerungskultur“, einem Schlagwort, das im historischen Diskurs der vergangenen Jahre verstärkt benutzt wird, geht es weniger um die objektive Erfassung historischer Sachverhalte, als vielmehr darum, in welcher Weise eine Gesellschaft sich auf diese Sachverhalte bezieht. Dass in verschiedenen Staaten unterschiedliche „Erinnerungskulturen“ gepflegt werden, gilt – insbesondere nach den traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt für die Nachbarn in Europa. Unter dem Titel „Geteilte Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft“ beschäftigte sich eine von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse veranstaltete Podiumsdiskussion mit den Erinnerungskulturen in Deutschland, Polen und Tschechien: Kann mit der Aufarbeitung der Vergangenheit Gemeinsamkeit erzielt werden?
Es diskutierten unter der Leitung von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz, der aus Prag stammende Prof. Dr. Miloš Řeznik, Professor für europäische Regionalgeschichte an der TU Chemnitz und Spezialist für deutsch-tschechische Beziehungen, sowie Ulrich Gorki, Bergisch-Gladbach, ein Theologe und Philosoph, der sich mit der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion um die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen beschäftigt.
Indes sollte es bei der Diskussion, wie Kroll erläuterte, weniger um Fragen wie Flucht und Vertreibung, Gewaltherrschaft und Krieg gehen, als vielmehr um die Rolle, welche die Langzeiterinnerungen der verschiedenen Nationen für das europäische Bewusstsein spielen. Wie Řeznik ausführte, war im 20. Jahrhundert – anders als in Polen mit seiner piastischen und jagiellonischen Idee – in Tschechien mit dem historischen Königreich Böhmen keine Selbstverortung und (außen-)politische Konzeption verbunden. Heute betrachte man Böhmen als etwas Selbstverständliches, das zu der kontinuierlichen Entwicklung der tschechischen Staatlichkeit gehöre. Seit den 1990er Jahren werde diese Tradition zudem sozusagen „multikulturalisiert“, sehe man in ihr ein Vorbild für das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Völkern.
Das tschechisch-polnisches Verhältnis beschrieb Řeznik als unproblematisch auf allen Ebenen. Auf historischen Erfahrungen gründende gegenseitige Stereotypen würden derzeit rapide abgebaut. Dabei spiele jedoch – gerade bei der jüngeren Generation – das Unwissen über die Konflikte der Vergangenheit eine Rolle. Unwissen könne sehr problematisch, aber auch heilsam sein. Bei dem tschechisch-deutschen Verhältnis sei die Lage indes anders. Hier gebe es Probleme und Konflikte, bei denen man sich nicht wünsche, dass sie vergessen würden, da man nicht wolle, dass sie sich wiederholten. Die Aufarbeitung der Vergangenheit habe eine ambivalente Wirkung: Mit den besten Absichten würden die jungen Leute über traumatische Konflikte in der Beziehungsgeschichte informiert, auf Gräben zwischen den Völkern hingewiesen, die es durch gemeinsame Arbeit und Diskussion zu überwinden gelte. Damit würden die Gräben aber oft erst geschaffen, die man überwinden wolle – ein schwieriges didaktisches Problem.
Gorki verwies darauf, dass wir uns in der Erinnerungskultur ständig zwischen Erinnern und Vergessen bewegen. Erinnern als Modus im Umgang mit schlimmen Dingen der Vergangenheit sei historisch gesehen jung: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sei Vergessen sogar gefordert gewesen, etwa als fester Bestandteil von Friedensverträgen. Es sei ein neues Muster in der Geschichte, dass Erinnern ein Mittel sein solle, das Völker zusammenführe. Auf der staatlicher Ebene, die auf Zusammenarbeit ziele, würden die Gemeinsamkeiten heute oft über Gebühr betont, dies aus der Sorge heraus, dass die Thematisierung von Differenzen der Vergangenheit das Fortschreiten auf dem gemeinsamen Weg hemme. Die Politik möchte erinnern, sofern es unproblematisch ist, den Rest vergessen. Dies gelte generell, nicht nur im deutsch-polnisch-tschechischen Verhältnis.
Zur institutionalisierten Erinnerungskultur gehört seit Jahrzehnten die Zusammenarbeit der Historiker in internationalen Kommissionen, seien sie deutsch-polnisch oder deutsch-tschechisch. Ob diese noch notwendig bzw. zeitgemäß sind, hängt nach Řeznik davon ab, welchen Aufgaben sie sich widmen. Es könne kaum noch darum gehen, auf dem Kompromisswege ein gemeinsames Geschichtsverständnis auszuhandeln. Dies könne sogar sehr problematisch sein. Wichtige Aufgabe sei vielmehr zu zeigen, dass es – ohne die großen Traumata (Besatzung, Vertreibung etc.) zu verdrängen – in der Beziehungsgeschichte der Völker auch andere Aspekte als nationalgeschichtliche gebe, etwa solche der Regionalgeschichte. Nicht Verdrängung, sondern Erweiterung der Facetten der Vergangenheit sei hier erforderlich.
Kroll verwies auf die in Polen und Tschechien lebenden verbliebenen Deutschen, die sich als eigene Minderheiten verstehen, und fragte nach der Rolle, die sie in den Erinnerungskulturen der Völker übernehmen könnten. Gorki bedauerte die geringe Beachtung, die den Minderheiten seitens der westorientierten Deutschen der Bundesrepublik und nicht zuletzt seitens der politischen Vertreter entgegen gebracht würden. Er sieht in den Deutschen in Polen eine unter langjährigem Assimilierungsdruck stehende Opfergruppe, die heute, da sie ihre Identität entwickeln könne und dies auch wolle, von ihren kulturellen Wurzeln vielfach abgeschnitten sei. Dabei gebe es die interessante Entwicklung, dass gerade die junge Generation weder eine bundesdeutsche noch eine polnische Identität entwickle, sich vielmehr auf regionale Traditionen, etwa als „Schlesier“, berufe. Unter Verzicht auf schlichte nationale Kategorien bilde sich dabei ein besonderes europäisches Bewusstsein heraus. Hier könne man ein Stück Zukunft wachsen sehen, von dem man im Westen lernen könne. Als Grund für die Ignorierung der deutschen Minderheit in Polen durch die bundesdeutsche Politik vermutet Řeznik übertriebene Vorsicht. Indem man den Kontakt nicht wage, mache man deutlich, dass man mit dem Thema noch nicht entspannt umzugehen gelernt habe. Anders als für die Deutschen in Polen sieht Řeznik für die Gruppe der Deutschen in Tschechien keine Herausbildung einer eigenständigen Identität, lasse sich deren Assimilierung, auch wenn man sie nicht wolle, langfristig kaum verhindern.
Die Aufarbeitung der gemeinsamen deutsch-polnisch-tschechischen Vergangenheit im Hinblick auf die europäische Zukunft sei, so Kroll abschließend, um ein Wort der Bundeskanzlerin zu verwenden, „alternativlos“. Die anderen Gesprächsteilnehmer stimmten dem zu. Die langfristige Erinnerung, so Gorki, sei unverzichtbar, sie dürfe nicht umgangen werden, auch wenn sie mittelfristig Irritationspotential in sich berge. Er plädierte für einen gelassenen Umgang mit der Vergangenheit, ohne dabei starren Täter-Opfer-Rollen verhaftet zu sein. Řeznik hält die offene Diskussion für notwendig. Bei vielen Problemen gehe es nicht darum, eine einzige historische Wahrheit zu finden. Wahrheiten könnten einander ausschließen, aber dennoch jeweils berechtigt sein. Man müsse dies auszuhalten wissen, solle das Zusammenleben der Nachbarn in Europa wirklich gelingen.
Diese Veranstaltung wurde gefördert vom Sächsischen Staatsministerium des Innern.