Schreiben an Grenzen

Literaturwissenschaftliches Symposium, Stuttgart, 1./2. Oktober 2003

Schreiben an Grenzen – zum 100. Geburtstag von Josef Mühlberger

Wissenschaftliche Leitung und Planung:
Priv.-Doz. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz
Redaktion: Dr. Ernst Gierlich, Bonn

Wer Auskunft sucht über Leben und Werk des 1903 in Trautenau/Böhmen geborenen und 1985 im schwäbischen Eislingen verstorbenen Schriftstellers Josef Mühlberger, der immerhin vier Jahre vor seinem Tod noch eine „Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900 bis 1939“ veröffentlicht hat, wird wenig Brauchbares finden. In Josef Hemmerles Lexikon „Sudetenland“ (1996) wird der Name des Autors nicht erwähnt, auch in Fritz Peter Habels Monografie „Die Sudetendeutschen“ (1992) kommt der Verfasser einer „Tschechischen Literaturgeschichte“ (1970) nicht vor, und im Standardwerk „Böhmen und Mähren“ (1993) des Münchner Historikers Friedrich Prinz findet man lediglich den Satz, daß Josef Mühlberger ein „nordböhmischer Schriftsteller und Essayist“ gewesen sei. Allein in der umfangreichen (740 Seiten starken) Dissertation Andrea Hohmeyers über die „deutschsprachige Dichtung in den böhmischen Ländern der Jahre 1895 bis 1945“ (Münster 2002) sind dem Gründer der Literaturzeitschrift „Witiko“ mehr als 18 Seiten gewidmet. Es war also berechtigt, wenn der Historiker Frank-Lothar Kroll/Universität Chemnitz von einem der „verschollenen und vergessenen Autoren“ des 20. Jahrhunderts sprach, dessen Tod am 2. Juli 1985 von überregionalen Zeitungen nicht wahrgenommen worden sei.

Eingeladen ins Stuttgarter „Haus der Heimat“, wo am l./2.Oktober unter dem Motto „Schreiben an Grenzen“ sieben Vorträge über Josef Mühlberger gehalten wurden, hatte die in Bonn ansässige „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“, die 1974 in Stuttgart gegründet worden war. Eröffnet wurde die Tagung durch Christine Czaja, die auch ein Buch mit nachgelassenen Schriften ihres 1997 verstorbenen Vaters vorstellte. Grußworte sprachen Wolfgang Lutz vom Stuttgarter Innenministerium und Karl Ziegler vom Landesverband des „Bundes der Vertriebenen“.

Die Einführung gab Frank-Lothar Kroll unter dem Titel „Josef Mühlberger – ein deutscher Dichter aus Böhmen“. Er machte darauf aufmerksam, daß der als Sohn einer tschechischen Mutter und eines deutschen Vaters zwischen den Völkern lebende Verfasser von 98 Büchern bis 1938 und nach der Aussiedlung 1946 die Aussöhnung zwischen beiden Völkern angestrebt habe. Zum Außenseiter im westdeutschen Literaturbetrieb sei er erst nach 1968 geworden, weshalb „sein Werk der unverdienten Vergessenheit“ entzogen werden müsse.

Josef Mühlberger galt als Mittler zwischen deutscher und tschechischer Literatur, als einziger sudetendeutscher Autor hatte er Kontakt zur deutschen Literaturszene in Prag, deren Vertreter überwiegend. deutschsprachige Juden waren. Wegen seiner Mitarbeit am „Prager Tageblatt“ wurde er nach 1938 von Wilhelm Pleyer (1901-1974) denunziert und verbüßte eine Haftstrafe im schlesischen Schweidnitz. Zwischen 1935 und 1945 konnte kein Buch von ihm erscheinen, obwohl er über Katharina Kippenberg Autor des Leipziger Insel-Verlags geworden war. Er „überwinterte“ als Soldat in der „Wehrmacht“ und wurde 1946 als „Antifaschist“ ausgesiedelt. Seine Manuskripte durfte er mitnehmen.1947 erschienen seine Gedichte im Insel-Verlag/Wiesbaden. Abschließend nannte der Referent drei Motivstränge, mit denen das Werk gedeutet werden könnte.

Der 1927 in Danzig geborene Literaturwissenschaftler Jürgen Born, der 1973 aus den Vereinigten Staaten an die Universität Wuppertal gekommen war, um dort die Forschungsstelle „Prager deutsche Literatur“ aufzubauen, konnte in seinem Beitrag „Josef Mühlberger und der Prager Kreis“ aus Jahrzehnte langer Erfahrung im Umgang mit dieser Literatur schöpfen. Zugang zu den Prager Autoren hatte Josef Mühlberger über Max Brod (1884-1968), den „Nestor des Prager Kreises“, gefunden, mit dem er korrespondierte und dessen Essay über Stefan Zweig er abdruckte. In seinem Buch „Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten 50 Jahren“ (1929) hatte der Trautenauer Autor beide Varianten deutschsprachiger Literatur im Blick, die sudetendeutsche oder regional orientierte und die Prager oder kosmopolitisch orientierte, ohne sie gegeneinander abzuwerten. Über den Zugang zum „Prager Kreis“ 1910/38 lernte Josef Mühlberger neue Literaturformen kennen und neue Autoren wie Franz Kafka (18831924) und Franz Werfel (1890-1945). Die israelische Germanistin Margarita Pazi hat über dieses Thema 1987 einen Aufsatz veröffentlicht.

Die in Eislingen lebende Schriftstellerin Tina Stroheker fand einen anderen Zugang zu Josef Mühlberger. Sie ist nach Trautenau, dem Heimatort des Dichters, gefahren und hat nach Spuren gesucht. Die 1948 in Ulm geborene Lyrikerin, die seit 1968 eine Aversion gegen „die Vertriebenen“ hatte, zögerte lange, Josef Mühlberger, der 1981 eine ihrer Lesungen in Eislingen besucht hatte, kennenzulernen. Später hat sie sich an ihn, mit dessen älterer Schwester Auguste sie befreundet war, „herangearbeitet“. Was sie aus ihrem Buch „Vermessung einer Distanz“ (2003) vortrug, war ein sympathisch wirkender Erfahrungsbericht über Begegnungen mit einem Dichter.

Die Chemnitzer Germanistin Elke Mehnert versuchte zu Beginn ihres Referats „Flucht und Vertreibung im Schaffen Josef Mühlbergers“ Fehlurteile über den Autor zu revidieren, wie das in Westdeutschland gängige, er sei der „Schriftsteller der Vertriebenen“ gewesen, oder das Peter Bechers, er habe durch politisches Taktieren sein Selbstverständnis verloren, oder das, er sei von der DDR-Germanistik ignoriert worden, wo doch Michael Berger seit 1985 Aufsätze über ihn veröffentlicht und 1990 an der Berliner Humboldt-Universität seine Habilitationsschrift vorgelegt habe. Sodann interpretierte sie die Erzählung „Der Galgen im Weinberg“ (1951), die 1960, mit einem Vorwort Hermann Hesses, noch einmal aufgelegt worden war. Zur Illustration des Vorgetragenen wurde das Bild gleichen Titels von Pieter Brueghel d.J. (Höllen-Brueghel) gezeigt, auf dem das Nebeneinander von Lebensfreude und Todesgrauen zu sehen ist.

Susanne Lange-Greve wiederum unterrichtete die Zuhörer in ihrem Beitrag „Meine Manuskripte, mein Schatz!“ über Josef Mühlbergers literarischen Nachlaß, Im Sommer 1945 sei Mühlberger aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Bayern ins böhmische Trautenau zurückgekehrt. Bei der Aussiedlung 1946 durfte er seine seit 1927 geführten Tagebücher, die Korrespondenzen, Fotografien mitnehmen. Nach seinem Tod sollte der schriftlich Nachlaß zunächst dem Marbacher Literaturarchiv übergeben werden, liege heute aber im Schriftgutarchiv von Heubach-Lautern/Kreis Schwäbisch Gmünd, wo es auch eine Gedenktafel für den Dichter gebe. Durch eine Spende der Robert-Bosch-Stiftung könne jetzt die Korrespondenz mit 2440 Briefpartnern geordnet werden.

Jana Hesová/Pilsen, die letzte Referentin, setzte sich mit „Josef Mühlbergers Beitrag zur deutsch-tschechischen Verständigung“ auseinander. Sie bezeichnete den Dichter als Mittler zwischen beiden Völkern, was auch seine Übersetzungsarbeit zeige, der zu früh gelebt habe und am „engstirnigen Nationalismus“ beider Seiten gescheitert sei.

Daß er zumindest in Deutschland nicht in Vergessenheit gerät, dafür möchte eine zweibändige Werkauswahl sorgen, die von der Kulturstiftung noch in diesem Jahr ediert werden wird.

Bericht von Jörg B. Bilke

Die Veranstaltung wurde gefördert vom Bund der Vertriebenen, Landesverband Baden-Württemberg e.V., Stuttgart, sowie von der Sudetendeutschen Stiftung, München