Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa II

Staats- und völkerrechtliche Fachtagung, Königswinter,
Arbeitnehmer Zentrum, 2./3. November 2017

Internationale Fachtagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Zusammenarbeit mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Marburg

Friedensverträge und ihre Auswirkungen

In der nunmehr zweiten Fachtagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn, und der Studiengruppe Politik und Völkerrecht, Marburg, zum Thema „Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa“ stellten hochkarätige Referenten facettenreiche Daten und Fakten zur Situation in verschiedenen Ländern vor.

 „Es ist eine Kunst, einen Friedensvertrag zu schließen: Wenn man den im Krieg Besiegten erniedrigt, wie in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, legt man die Saat aus für den nächsten Konflikt. Ohne die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg wären ein Hitler und damit ein Zweiter Weltkrieg, der auch die Folgen des Versailler Diktats beseitigen wollte, nicht möglich gewesen“, betonte Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig am Rande der Fachtagung in Königswinter.

Die auf insgesamt drei Jahre ausgelegte Tagungstrilogie „Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa“ beleuchtete bei ihrer ersten thematischen Veranstaltung – die im Herbst 2016 stattgefunden hat – die Gründe und Ursachen sowie den Verlauf des Ersten Weltkriegs an seinen unterschiedlichen Fronten. Die Referenten schilderten die Sachlage aus Gebieten wie Nord-Schleswig, Elsass-Lothringen, Memelland und aus der Stadt Danzig und erörterten nicht zuletzt die unterschiedlichen Aspekte der Kriegsschuld-Frage.

Bei der zweiten Tagung im November 2017 wurden die Folgen der Kriegsereignisse und sich anschließenden Friedensverträge in verschiedenen europäischen Ländern in den Mittelpunkt gestellt.

Die teilnehmenden Wissenschaftler, Historiker und Völkerrechtler kamen aus Deutschland und aus anderen europäischen Ländern wie Italien, Polen, Rumänien, Slowenien und Litauen. Die Referenten richteten diesmal den Schwerpunkt ihrer Vorträge u.a. auch auf Völker und Volksgruppen, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben wurden. Es gab verschiedene Einblicke in das Schicksal jener Menschen, die zu Minderheiten im neuen Heimatland wurden.

Von der Entstehung der Staaten

Reinfried Vogler, der Vorstandsvorsitzende der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen aus Bonn, eröffnete das Treffen und führte in die Thematik ein. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert Gornig von der Philipps-Universität Marburg übernahm die wissenschaftliche Leitung der diesjährigen zweitägigen staats- und völkerrechtlichen Veranstaltung in Königswinter.

In einem seiner Vorträge setzte sich Prof. Gornig – den übrigens Reinfried Vogler als Mentor und Hauptplaner der Veranstaltung vorstellte – mit dem Thema „Die Tschechoslowakei, Österreich und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute“ auseinander. Prof. Gornig berücksichtigte in seinem Beitrag die Entstehung von Staaten als historischen Vorgang, als Produkt der Entscheidung von betroffenen Staatsteilen und Staaten sowie als Produkt dritter Staaten.

Einer der Referats-Schwerpunkte war der am 10. September 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich, der die größtenteils bereits erfolgte Auflösung der österreichischen Reichshälfte zur Folge hatte. Auch durch den Vertrag von Trianon 1920 mit Ungarn wurden weitere Gebietsabtretungen und Grenzen der Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie festgelegt. Es folgten detaillierte Ausführungen zur Entstehung und Entwicklung der Tschechoslowakei, die nicht zuletzt durch Bemühungen von Exilpolitikern vorangetrieben wurden. Prof. Gornig sprach über die Rolle des tschechischen Gelehrten und Politikers Tomáš Garrigue Masaryk, der versuchte, mit Hilfe von Gleichgesinnten die Konstituierung eines autonomen tschechoslowakischen Staates zu verwirklichen.

Von den Ostkantonen über Südtirol bis hin zu Polen

Zu den Referenten aus den europäischen Nachbarländern gehörte der ehemalige Geschichtslehrer Jean-Marie Godard aus Jurbise/Belgien. Er informierte im Vortrag „Die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien: Heimkehr ins Vaterland oder bloße Annexion?“ über das wechselhafte Schicksal der Menschen aus den Ostkantonen Eupen, Malmedy und St. Vith.

Der Doktorand Andreas Raffeiner aus Bolzano/Bozen/Italien (Südtirol) stellte sich als Europäer und italienischer Staatsbürger, Angehöriger einer österreichischen Minderheit und Angehöriger der deutschen Sprachgruppe vor. In seinem Referat ging es um historische Eckpunkte zur Entwicklung von Europa vor 1914 und um die Bündnispolitik, um den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg sowie um Aspekte und Auswirkungen der Teilung Tirols. Südtirol nimmt – so Reffainer – nach wie vor die Funktion einer zentral-europäischen Brückenfunktion ein.

Dr. Michael Kadgien aus Essen sprach über Vorbilder und Beweggründe für die Verabschiedung des Habsburgergesetzes. Es handelte sich dabei um das Gesetz vom 3. April 1919 betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen. Dargelegt wurden die Rechte der Familie Habsburg-Lothringen und deren Zweiglinien in Österreich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung Österreich-Ungarns.

Dr. Adrianna Michel aus Pyritz/Polen, die in Marburg in Völkerrecht, Staatsrecht und Verwaltungsrecht habilitiert, referierte über „Die Folgen des Ersten Weltkriegs für Polen“. Sie befasste sich mit dem Thema der Wiederherstellung des polnischen Staates, wobei Aspekte des Königsreichs Polen und der zweiten polnischen Republik von 1918 erörtert wurden. Desweiteren ging es um Grenzfragen, um militärische Auseinandersetzungen, um Lösungswege der bestehenden Konflikte sowie nicht zuletzt um politische und wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung.

 

 

 

 

Von Ungarn über Rumänien und Bulgarien bis hin zu Slowenien und Litauen

Einer der Höhepunkte des zweiten Veranstaltungstages war der Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig, der über „Das Schicksal Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg“ sprach. Prof. Gornig erklärte am Beispiel Ungarns die Definition der Drei-Elemente-Lehre, nach der laut Völkerrecht ein Staat seine Existenz beendet, wenn er eines seiner Staatlichkeitsmerkmale endgültig verliert.

Der Untergang eines Staates sei – so Prof. Gornig – im Staatsrecht allerdings anders zu beurteilen als im Völkerrecht. Da die jeweilige Staatsordnung das zeitliche Ende ihrer Geltungskraft in der Regel nicht in Betracht zieht, wird das Kontinuitätsproblem im Verfassungsrecht fast durchweg ausgeklammert.

Der Referent resümierte: „Nach der Niederlage 1918 wurde Ungarn als unabhängiger Staat neu konstituiert. Im Jahre 1919 wurde unter der Führung von Béla Kun eine Räterepublik installiert, die aber nach der Niederlage im Krieg gegen Rumänien unterging. Der Vertrag von Trianon bestätigte im Jahre 1920 die bereits 1918/19 erfolgten Sezessionen vom Königreich Ungarn.“

Das Thema „Rumänien und Bulgarien und der Erste Weltkrieg“ wurde von Prof. Dr. Zeno Karl Pinter von der Universität aus Sibiu (Herrmannstadt)/Rumänien näher beleuchtet. Der Referent beschrieb den Balkan als „kochenden Kessel“, der das Hauptproblem jener Zeit darstellte. Er schilderte die unterschiedliche Beteiligung Rumäniens und Bulgariens an den zwei Balkankriegen sowie an den Ereignissen des Ersten Weltkrieges.

Prof. Dr. Borut Holcman von der Universität Maribor (Marburg)/Slowenien berichtete anhand von historischen Fakten und persönlichen Erfahrungen über „Den weiten Weg zur Entstehung Jugoslawiens“.

Dr. Jurgita Baur aus Bad Vilbel und Zarasai/Litauen sprach über „Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die baltischen Staaten“. Hervorgehoben wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Geschichte und Entwicklung der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, wobei auch das jeweilige Verständnis von nationaler Identität miteinbezogen wurde.

Unter dem Titel „Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg“ referierte Dr. Holger Kremser von der Georg-August-Universität aus Göttingen. Schwerpunkte seines Vortrages waren die Vertreibung der Armenier aus dem Osmanischen Reich, die Griechenverfolgung im Osmanischen Reich und in der Türkei sowie der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch. Ein weiteres Kapitel des Beitrages von Dr. Kremser umfasste Themen wie Abwanderung der deutschen Minderheit aus den an Polen abgetretenen Gebieten sowie die Vertreibungen und Abwanderungen Deutscher aus sonstigen Abtretungsgebieten.

Das rege Interesse der Tagungsteilnehmer an den Referaten und die zahlreiche Wortmeldungen unterstrichen einmal mehr, wie wichtig und richtig die Ausrichtung der staats- und völkerrechtlichen Fachtagung ist. Reinfried Vogler betonte abschließend: „Wir haben viel mitgenommen, wir haben viele Lücken gefüllt, wir haben Vieles aufgefrischt und wenn es dazu beiträgt, das wir das, was wir heute erfahren haben und was hier erarbeitet worden ist, dann auch wirklich nach draußen weitergegeben wird, dann ist das Ziel dieser Veranstaltungs-Reihe schon erreicht. Deshalb bitte ich Sie, gehen Sie nach draußen, nutzen Sie auch das, was wir an Literatur haben. Wir alle sind gefordert.“

Die Vorträge aus den beiden bisherigen Fachtagungen der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und der Studiengruppe Politik und Völkerrecht rund um den Ersten Weltkrieg werden in je einer Veröffentlichung zusammengefasst.

Dr. Ernst Gierlich, Geschäftsführer der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, schlussfolgert: „Vor dem Hintergrund, dass es noch viele Aspekte zu besprechen und zu klären gibt, die mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen zu tun haben, wird die dritte Fachtagung im Jahr 2018 weiteren kompetenten Referenten die Möglichkeit einer Präsentation geben. Wir erwarten auch dazu großes Interesse des Fachpublikums.“

Text + Fotos: Dieter Göllner