Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa III

Staats- und völkerrechtliche Fachtagung, Königswinter,
Arbeitnehmer Zentrum, 4./5. Oktober 2018

Internationale Fachtagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Zusammenarbeit mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Marburg

 

Recht als Macht oder Macht als Recht?

Mit dem nunmehr dritten Teil der staats- und völkerrechtlichen Tagungsreihe zum Thema „Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa“ hat sich die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen zusammen mit der Studiengruppe Politik und Völkerrecht zum Ziel gesetzt, dieses Ereignis – das als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ betrachtet wird – einer umfangreichen Würdigung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu unterziehen.

Die erste Tagung 2016 war insbesondere Deutschland und den Folgen des Versailler Friedensvertrags für den deutschen Kaiser, für das Territorium des Deutschen Reiches und für die in den verlorenen Gebieten lebenden Deutschen gewidmet.

Die zweite Tagung 2017 beleuchtete die Friedensverträge von Saint Germain und Trianon, also die Folgen des Ersten Weltkriegs für Österreich-Ungarn, Österreich, Ungarn, Böhmen, Mähren und Slowenien, für die ungarischen Gebiete Slowakei, Kroatien und Siebenbürgen. Aber auch die Auswirkungen des Krieges für Polen und Rumänien wurden umfangreich behandelt.

„Eine Würdigung der Folgen des Ersten Weltkriegs wäre nicht vollständig ohne auf die Folgen des ‚Großen Krieges‘ auf die Nationen und Völker außerhalb Europas einzugehen. Diesen Aspekten war die dritte und letzte Tagung der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht gewidmet. Im Mittelpunkt standen die Folgen des Ersten Weltkriegs für das Osmanische Reich, das alle Gebiete südlich Kleinasiens verloren hatte“, erklärte Prof. Gornig.

Als staatsrechtlich diskussionswürdig galten neben der Kriegsschuldfrage auch die Auswirkungen der Friedensverträge auf die Staatenwelt und der Übergang des Deutschen Reiches in die Weimarer Republik. Da Völker und Volksgruppen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vertrieben wurden, fand auch das Schicksal der Menschen, die oftmals zu Minderheiten im neuen Heimatland wurden, in den Vorträgen entsprechende Berücksichtigung.

Am Programm der jüngsten Veranstaltung im Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter standen Beiträge zu den Folgen des Ersten Weltkriegs für China, Japan und Südamerika sowie zu den Kolonialkriegen in Afrika. Das Volk der Assyrer stand im Mittelpunkt der Präsentation eines Assyrers, der auf die Bedrohung der Existenz seines Volkes eindrucksvoll aufmerksam machte. Ein Referat über den Einfluss des Ereignisses auf den Nationalsozialismus und Faschismus rundete die Tagung ab.

Auswirkungen außerhalb Europas

Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Kronberg/ Ts., eröffnete die zweitägige Veranstaltung in Königswinter und erklärte: „Wir sind praktisch dabei, den Deckel auf das drauf zu machen, was wir in den vergangenen zwei letzten Jahren gehört haben, nämlich Entstehung und Ablauf des Ersten Weltkrieges, die Friedensverträge und nun wird es im Wesentlichen um die Folgen gehen, die wir ja heute jeden Tag spüren, wenn wir genau hinschauen“.

Referenten aus Fernost

Zu den Vorträgen des ersten Veranstaltungstages gehörten jene der Referenten aus Fernost. Dass der Erste Weltkrieg auch Auswirkungen in China, Japan, Afrika und Südamerika zeigte, war für viele Teilnehmer von besonderem Interesse, da in der Regel die allgemeine Literatur zum Ersten Weltkrieg dazu nur am Rande, wenn überhaupt, Stellung nimmt. Zu China und Japan wurden Fachleute eingeladen, die ihren Lebensmittelpunkt in diesen Ländern haben und dort Inhaber von Professuren sind.

Prof. Dr. Georg Gesk, der an den Universitäten in Hsinchu City (Taiwan) und Osnabrück tätig ist, beantwortete in seinem Beitrag unter anderem die Fragen „Wie kam es überhaupt dazu, dass Deutschland in China zur Kolonialmacht wurde? beziehungsweise „Was bedeutet der Souveranitätsbegriff heute in der chinesischen Verfassung?“ Der Referent erwähnte dabei auch das Thema des Verständnisses bzw. des Unverständnisses für China vor dem Hintergrund der zentralen Frage „Recht als Macht oder Macht als Recht“. Die Tagungsteilnehmer erfuhren, dass der deutsche Kolonialismus in der Region China Pazifik zunächst eine große Konsequenz der Flottenpolitik war – das heißt, keine Flotte ohne Hafen.

Prof. Dr. Heinrich Menkhaus von der Meiji Universität Tokio sprach über das Thema „Japan und der Erste Weltkrieg“. Der Referent hob Aspekte aus der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs in Ostasien, des deutsch-japanischen Krieges, der Behandlung der Kriegsgefangenen und der deutschen Zivilbevölkerung sowie des Friedensvertrages von Versailles hervor und ergänzte seinen Beitrag mit Hinweisen zur Nachgeschichte.

Friedensverträge und ihre Folgen

Professor Dr. Gornig äußerte sich zum Inhalt des nie in Kraft getretenen Vertrages von Sèvres wie folgt: „Das Schicksal der ehemals osmanischen Gebiete angrenzend an das östliche Mittelmeer war ungewiss. Sie wurden A-Mandate unter der Obhut des Völkerbundes. Das Gebiet Palästinas war umstritten zwischen den einwandernden Juden und den bereits ansässigen Arabern. Der Staat Israel entstand, der Status des Westjordanlandes ist ungewiss, ein funktionierender Staat Palästina mit effektiver Staatsgewalt ist immer noch nicht sichtbar, auch wenn er von der UNO anerkannt ist.“

Über den „Vertrag von Sèvres und seine Änderungen durch den Vertrag von Lausanne“ sprach Dr. Roland Banken aus Koblenz: „Der erste Weltkrieg und die nachfolgenden Friedensschlüsse veränderten freilich nicht nur die jahrhundertealte Ordnung zwischen den Völkern Mittel- und Osteuropas, auch im Nahen Osten bzw. im Orient (wie man früher gemeinhin sagte) führte die militärische Niederlage einer der Kriegsparteien – nämlich des Osmanischen Reichs – zu einer historischen Zäsur, die nicht nur die politische Landkarte dieser Weltregion völlig veränderte, sondern auch durch Flucht und Vertreibung begleitet war.“ Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielte – so der Referent – der am 10. August 1920 unterzeichnete Vertrag von Sèvres zwischen den Alliierten Mächten und deren Verbündeten und dem Osmanischen Reich. Festzustellen ist, dass Japan mit dem Ergebnis des Versailler Vertrages sehr unzufrieden war.

Dr. Holger Kremser von der Georg-August-Universität Göttingen erläuterte „Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute“. Der Wissenschaftler betonte in seinem Vortrag, dass sich aus völkerrechtlicher Sicht folgendes über die heutigen Folgen des Mandatssystems sagen ließe: „Das Mandatssystem des Völkerbundes hat als weiterentwickeltes internationales Verwaltungsinstitut in das Treuhandsystem der Vereinten Nationen Eingang gefunden.“

Der in Teheran geborene und heute in Stuttgart lebende Referent Theodor Lazar sprach über „Die Folgen des Ersten Weltkrieges für das Schicksal der religiösen und ethnischen Minderheiten im Nahen Osten, insbesondere der christlichen Assyrer“. Der Redner erwähnte u.a., dass es sich um das am stärksten bedrohte Volk der Welt handele und dass die Identitätsfrage der Assyrer, die verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, aber alle Christen sind, nicht gelöst sei. Als Ausblick betonte Lazar, dass eine völkerrechtliche Anerkennung und die Schaffung einer Schutzzone wichtig seien.

Palästinafrage

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig setzte in seinem Vortrag den Fokus auf „Den Beginn der Palästinafrage und des Nahostkonfliktes“. Fakt ist, dass sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Vernichtung des Osmanischen Reiches die Frage des Schicksals der südlich von Kleinasien liegenden Gebiete des Osmanischen Reiches stellte. Insbesondere war das künftige Schicksal des Gebietes Palästina ungewiss.

Eine der zentralen Aussagen des Referats lautete: „Der Staat Palästina wurde am 15. November 1988 in Algier von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) als Staat der Palästinenser ausgerufen. Die Gründer beanspruchten das von Israel seit 1967 besetzte Westjordanland und den Gazastreifen mit Ostjerusalem als Hauptstadt des Staatsgebiets. Seine Staatlichkeit ist völkerrechtlich umstritten.“

Vor dem Hintergrund, dass die Ausrufung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als sich die PLO im tunesischen Exil befand und keine effektive Staatsgewalt über die beanspruchten Gebiete und das dort lebende Volk ausübte, konnte nach der drei Elemente-Lehre kein Staat entstehen. Dem Schritt kam zunächst nur symbolische Bedeutung zu. Dennoch hatten bis 1990 fast 100 Staaten einen Staat Palästina anerkannt. Diese Anerkennung kann aber einen Nichtstaat nicht zum Staat machen, kann also auch nur symbolischer Natur sein. Heute erkennen 137 Staaten den „Staat“ Palästina an.

Afrika und Lateinamerika

Prof. Dr. Michael Pesek von der Universität Hamburg behandelte das Thema „Krieg in den Kolonien. Afrika und der Erste Weltkrieg“. Er betonte, dass Europa- und Afrikahistoriker den Kontinent nur als marginalen Kriegsschauplatz betrachten. Der Redner vermittelte neue Erkenntnisse zu den Kolonialkriegen und verwies darauf, dass es nach dem Ersten Weltkrieg eine Krise gab, wobei einige der bisherigen Entwicklungen unterbrochen und rückgängig gemacht wurden. Allerdings entstand auch eine neue Bewegung, die in den 20er und 30er Jahren zunehmend erkennt, dass Kolonien ein ganz wichtiges Element für den zukünftigen europäischen Krieg sein sollen.

Über „Lateinamerika und den Ersten Weltkrieg“ referierte Prof. Dr. Norbert Bernsdorff von der Philipps-Universität Marburg. Zu Beginn des Vortrags wurde den Tagungsteilnehmern ein „Ohrenschmaus“ geboten. Zu Gehör wurde einer der bekanntesten argentinischen Tangos von Carlos Grandel gebracht, der sich mit den Worten „Stille in der Nacht, jetzt ist alles ruhig“ laut Chronisten-Ansicht wohl auf das Ende des Ersten Weltkrieges bezieht.

Prof. Bernsdorff sprach über das „lange 19. Jahrhundert“ Lateinamerikas und die Krisensituation vor Kriegsbeginn. Des Weiteren präsentierte er die Phase von 1914 bis 1917 als anfängliche Neutralität und später als „Sog der Katastrophe“. Das Entscheidungsjahr 1917 brachte den U-Boot-Krieg in lateinamerikanischen Gewässern und den Kriegseintritt der USA. Abschließend wurde die Stimmungslage in der Nachkriegszeit bis zur Weltwirtschaftskrise 1929/1930 beleuchtet.

Nationalsozialismus und Faschismus

Im Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow, Philipps-Universität Marburg, ging es um das Thema „Der Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Nationalsozialismus und Faschismus“. Erörtert wurde u.a. die Frage, inwieweit einige Aussagen von älteren Historikern aus heutiger Sicht richtig oder falsch sind. Der Redner zitierte in diesem Sinne Hans-Ulrich Thamer, der geschrieben hat: „Faschismus und Nationalsozialismus waren Produkte des Ersten Weltkriegs.“ Allerdings – so Prof. von Bredow – dürfte es nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig sein, davon auszugehen, dass der Erste Weltkrieg als die alleinige oder mindestens eindeutig als die Hauptursache für den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus identifiziert werden könne. Erst das Zusammenwirken verschiedener Faktoren konnte die Nachkriegskonstellationen in den 1920er Jahren so brisant machen.

 

Fazit:

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig schlussfolgerte am Ende der Tagung: „Das Interesse und die rege Mitarbeit der Teilnehmer waren erfreulich wie auch die Resonanz auf die Referate.“

Dr. Ernst Gierlich, Geschäftsführer der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, kündigte an, dass der Tagungsband zur ersten Veranstaltung bereits im Verlag Duncker & Humblot erschienen ist. Im Frühjahr und im Herbst 2019 kann mit der Veröffentlichung der Bände 2 und 3 gerechnet werden. Insgesamt wird auf über 750 Seiten ein umfassender Einblick in die Folgen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit geboten.

In seinem Schlusswort betonte Reinfried Vogler, der Vorsitzende der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen: „Wir müssen die Bemühungen, Zeitgeschichte publik zu machen und in einem breiteren Zusammenhang darzustellen, weiter fortsetzen.“

Text + Fotos: Dieter Göllner