Europas Grundwerte und Standards und ihre Umsetzung – insbesondere in den Ländern Mittel- und Ostmitteleuropas

Staats- und völkerrechtliche Fachtagung, Bonn,
Gustav-Stresemann-Institut, 29./30. Oktober 2019

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Marburg,
und
Prof. Dr. Peter Hilpold, Innsbruck

Ist von der Europäischen Union die Rede, so wird regelmäßig vorgetragen, dass sie eine Wertegemeinschaft sei und dass die Werte, auf die sie sich gründe, europäische seien. Allerdings ist unklar, um welche Werte es sich eigentlich handelt und ob es einen europäischen Wertekanon gibt. Die Erweiterung der Europäischen Union auf die Länder Ostmitteleuropas und Südeuropas brachte in Anbetracht ethnischer und kultureller Konflikte zusätzliche Unsicherheit darüber, ob ein europäischer Grundwertekonsens überhaupt möglich ist. Die zu erwartende Erweiterung auf weitere Balkanstaaten, der noch immer mögliche Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sowie die noch angestrebte Vertiefung der europäischen Integration bieten den Anlass, Fragen nach gemeinsamen europäischen Grundwerten zu stellen.

Dem widmete sich ein Bonner Symposium über die Grundwerte und Standards der Europäischen Union, welches die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht im Oktober 2019 ausrichtete. Es galt zu erörtern, in welchem Umfang sich Staaten der Europäischen Union, insbesondere Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas, an die Grundwerte und Standards der Europäischen Union halten und wo es insoweit Defizite gibt.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig

Dabei ging es natürlich um die Umsetzung der Grundrechte, wie sie in der Grundrechte-Charta der Europäischen Union und auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind, sowie um die Respektierung der Grundfreiheiten, insbesondere der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Grundwerte und Standards, so Tagungsleiter Prof. Dr. Gilbert H. Gornig, Marburg, kommen aber nicht nur in den EU-Verträgen zum Ausdruck, sondern auch in den von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlossenen begleitenden Verträgen. Auch die Haltung zur Migrationspolitik konnte insoweit nicht unbeachtet bleiben.

Reinfried Vogler

Die Riege der Referierenden des Symposiums, die Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung begrüßen konnte, war ausgesprochen international mit namhaften Staats- und Völkerrechtlern sowie Politikwissenschaftlern aus Deutschland, Belarus, Litauen, Polen, Tschechien, Österreich, Italien, Ungarn, Rumänien, Griechenland, Belarus und der Türkei besetzt.

Elmar Brok MdEP a.D.

Den Anfang machte der langjährige Europa-Parlamentarier Elmar Brok, der über Deutschland und seine Rolle in der Europäischen Union philosophierte, eine Rolle, die gewiss seit den Anfängen der Europäischen Union eine führende sei, bei der es jedoch darauf ankomme, durch kluges Agieren auch eher skeptische Mitglieder zu überzeugen ohne dabei den Eindruck von deutscher Dominanz zu vermitteln.

Dr. Jurgita Baur
Dr. Aldona Szczeponek

Mit Litauen nahm Dr. Jurgita Baur, Bad Vilbel/ Zarasei, ein noch junges Mitglied der Union in den Blick, das in mancher Hinsicht inzwischen als Europas Musterland gilt. Dass Litauens und Deutschlands Nachbarland Polen hingegen durchaus ein schwieriger Partner in Europa sei, führte Dr. Aldona Szczeponek, Marburg/ Landeshut, selbst gebürtige Polin, aus, und sie verwies dabei auf die Traumata, welche die polnische Nation gerade im 20. Jahrhundert erfahren hatte.

Prof. Dr. Peter Hilpold

Auf bestehende Defizite hinsichtlich Europäischer Grundwerte auf Seiten Tschechiens und Sloweniens wies Prof. Dr. Michael Geistlinger, Salzburg, hin. Er thematisierte konkret die immer noch nicht hinreichend bewältigte Problematik der die deutsche Volksgruppe betreffenden Beneš- und AVNOJ-Dekrete vom Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Republik Österreich, deren Neutralitätsstatus der Nachkriegszeit bis heute nachwirkt, kommt, wie Prof. Dr. Peter Hilpold, Innsbruck, ausführte, in der Europäischen Union eine wichtige Rolle der Vermittlung zwischen den in unterschiedlichen Wertetraditionen stehenden Mitgliedsstaaten zu, etwa hinsichtlich Deutschland und Ungarn, dessen demokratisches Grundverständnis keinesfalls in allen Punkten dem liberal geprägten Verständnis westlicher Staaten entspricht und dessen regierende Parteien, wie auch die der anderen sog. Visegrád-Staaten, regelmäßig durch ihre distanzierte Haltung gegenüber der Europäischen Union auffallen.

Dr. Oskar Peterlini
Maria Mantzivi

Aber auch in Italien, Griechenland und Rumänien verstummen kritische Stimmen zu Europa nicht. Die Gefahr einer Abkehr von Europa, wie sie sich unter den wechselnden Regierungen der jüngeren Zeit abzeichnete, erscheint für Italien, wie Dr. Oskar Peterlini, Bozen, darlegte, noch keineswegs als gebannt. Als Sorgenkind Europas konnte in den vergangenen Jahren insbesondere das wirtschaftlich besonders angeschlagene Griechenland gelten, über das Prof. Dr. Theodora Antoniou, Athen, vertreten durch ihre Tochter Maria Mantzivi, Heidelberg, referierte.

Prof. Dr. Monika Vlad
Prof. Dr. Vadzim Samaryn
Oguzhan Bulut

Auch wenn in derzeit von offizieller Seite die Nähe zu Europa und seinen Grundwerten betont wird, man gar von einer verwunderlichen Rückkehr nach Europa spricht, so bestehen in Rumänien in dieser Hinsicht doch gravierende Defizite, wovon Prof. Dr. Monika Vlad, Hermannstadt/ Sibiu, Rumänien, mit anschaulichen Beispielen zu berichten wusste. Gerade gegenüber den in Staaten wie Belarus und nicht zuletzt der Türkei geltenden Werten besteht seitens des Westens ein verbreitetes Unverständnis. Hier waren Beiträge von Prof. Dr. Vadzim Samaryn, Minsk, Belarus, und von Rechtsanwalt Oguzhan Bulut, Kassel, hilfreich, welche insbesondere die historischen Voraussetzungen dieser Staaten und die dort herrschende Mentalität erläuterten.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Prof. Dr. Peter Hilpold, Reinfried Vogler

Das geographische Europa, das Europa, das vom Atlantik bis zum Ural reicht, war nie eine wirkliche Wertegemeinschaft. Der europäische Integrationsprozess begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in seine entscheidende Phase einzutreten. Der Grund war das Streben nach Frieden und das Verhindern eines erneuten Krieges durch intensivere Zusammenarbeit und gegenseitige Abhängigkeit. Eine wirtschaftliche Integration war der Weg, dieses Ziel zu erreichen. Erst mit der Schaffung der Europäischen Union erfolgte dann deren Fortbildung zu einem System auch gemeinsamer Werte und gemeinsamer kultureller Identitäten. Insbesondere das Bekenntnis zu den Menschenrechten, zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit sind die gemeinsamen Grundwerte, die eine weitgehend gemeinsame kulturelle Identität aller Unions-Europäer zu begründen vermögen. Die Europäische Union sieht sich in ihrem Handeln – sei es innen- oder außenpolitisch – diesen Werten verpflichtet. Ziel ist es, die Werte zu fördern. Sie sollen dabei nicht nur auf Unionsebene, sondern auch auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten Beachtung finden. Diese Werte dienen dazu, eine europäische Identität herauszubilden.

Noch kann sich, so ein Fazit der Tagung, die Europäische Union nicht als eine wirklich einheitliche Werte- oder Kulturgemeinschaft begreifen. Die Unterschiede sind noch zu groß. Insbesondere führte die doch etwas andere Entwicklung der Staaten in Ostmitteleuropa unter der Herrschaft des totalitären Kommunismus dazu, dass dort autoritäre Strukturen eher gebilligt werden als in Westeuropa. Ein Kern für einen gemeinsamen Grundwertebestand ist allerdings vorhanden, und es gilt, ihn auszubauen, auch dann, wenn das Ziel eines europäischen Staates zurzeit kaum noch verfolgt wird und wieder ein Europa der Vaterländer in den Fokus rückt.