PM: Prager Moderne im Mittelpunkt einer internationalen wissenschaftlichen Fachtagung der Kulturstiftung

Zwischen ca. 1880/90 und 1920/30 war Prag zugleich ein Zentrum der deutschen und der tschechischen Literatur der Moderne. Die weltoffene kulturelle Metropole an der Moldau galt als pulsierende Stätte reger persönlicher Kontakte und eines produktiven künstlerischen Austausches. Viele literarische Werke, die zu dieser Zeit entstanden, sind heute jedoch nur noch Fachleuten vertraut.

An dieser Stelle setzte die internationale wissenschaftliche Fachtagung „Prag im Spiegel der Literatur der Prager Moderne“ der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen an. Vom 20. bis 22. Oktober 2021 kamen im Heiligenhof in Bad Kissingen Referierende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen, um gezielt Werke jener Autorinnen und Autoren in den Blick zu rücken, die sich und ihr Schreiben in Prag eingerichtet hatten und denen die Stadt dafür Mikro- und Makrokosmos zugleich gewesen war.

Zunächst begrüßte Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin für Geschichte, Staats- und Völkerrecht sowie Literatur bei der Kulturstiftung, die Gäste und stellte das Tagungsprogramm vor. Anschließend hielten Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung, und Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, Grußworte. Thomas Konhäuser machte deutlich, dass es zur Aufgabe der Kulturstiftung gehört, das deutsche kulturelle Erbe im östlichen Europa wachzuhalten und Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammenzuführen. Reinfried Vogler ergänzte, dass dabei auch weniger bekannte Themen vertieft werden.

Zum Auftakt hielt Prof. Dr. Axel Walter, Universität Vilnius und Eutiner Landesbibliothek, einen Einführungsvortrag mit dem Titel „Prager Erzählungen: Themen – Motive – (Selbst-)Narrative“. Am Beispiel der literarischen Werke von Autoren wie Jan Neruda, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka zeigte er auf, dass Prag um 1900 ein Experimentierfeld der Moderne und zugleich ein Ort des kulturellen Transfers zwischen deutschen und tschechischen Intellektuellen war – zwei Seiten, auf denen sich jeweils auch Vertreter jüdischen Glaubens befanden.

Den Abschluss des ersten Tagungstages bildete die Vorführung des Films „Lenka Reinerová – Prags letzte deutsche Autorin“ (2007, Regie: Frank Gutermuth), den Prof. Dr. Viera Glosíková, Karls-Universität Prag, vorstellte. Sie gab Einblick in das Leben und Wirken der Autorin, die eine der Mitbegründerinnen des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren war.

Der zweite Konferenztag begann mit einem Vortrag von Prof. Dr. Viera Glosíková, Karls-Universität Prag, über drei Prager Romane der fast vergessenen Autorin Auguste Hauschner. Hauschner stammte aus einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Prager Familie. Sie verließ ihre Heimatstadt aufgrund einer Eheschließung im Alter von 21 Jahren und siedelte nach Berlin über. Mit Prag blieb sie aber zeitlebens eng verbunden. Die Moldaumetropole ist in ihren Romanen nicht nur ein zufälliger Hintergrund, sondern wird als konkreter Ort dargestellt, an dem drei Kulturen und ihre Träger – Deutsche, Tschechen und Juden – in den 1870er und 1880er Jahren nebeneinander, oft auch gegeneinander und nur ab und zu miteinander leben und koexistieren.

Den zweiten Vortrag mit dem Titel „Metropole, Provinz und Anthropologie bei Ludwig Winder“ hielt Dr. Jost Eickmeyer, Universität Hamburg. Wie er verdeutlichte, durchzieht Winders literarisches Schaffen die Frage danach, was den Menschen ausmacht: „Sein Aufwachsen oder sein Aufbruch? Seine Erziehung oder seine Entscheidung? Sein Erfolg oder sein Scheitern? Sein Wollen oder sein Fühlen?“ Winders Romane veranschaulichen, welche Aspekte aus diesen Dichotomien den Menschen insbesondere dann formen, wenn sein Leben durch krisenhafte Umbrüche, wie es sie zwischen 1918 und 1945 in den böhmischen Provinzen und Städten gegeben hat, bestimmt wird.

Anschließend referierte PD Dr. Andreas Keller, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und Universität Potsdam, zum Thema „Urbane Intellektualität zwischen jüdischen Traditionen und habsburgischem Katholizismus: Spuren in den Werken Franz Werfels“. Werfel hat in seinen Texten oft vor der Bedrohung der Innerlichkeit des Menschen durch den rationalen und materialistischen Fortschrittsglauben gewarnt. Er kritisierte dabei vor allem den russischen Kollektivismus und den amerikanischen Behaviorismus, die den fantasievollen und geistigen Menschen an den „Schnüren der Pädagogik jeweils zu einer mittelmäßigen Marionette“ machten.

Prof. Dr. Ingeborg Fiala-Fürst, Palacký Universität Olmütz (Olomouc), betrachtete in ihrem Vortrag: „Prager deutsche Literatur transkulturell. Vermittler und Übersetzer“. Wie sie darlegte, spielten die Vermittler und Übersetzer zwischen der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur eine herausragende Rolle, da Prag in der Moderne ein Ort des kulturellen Transfers war. Fiala-Fürst warf den Blick zurück zum Anfang des 19. Jahrhunderts und skizzierte die Entstehung der tschechischen nationalen Wiedergeburt und des tschechischen nationalen Narrativs parallel zur Entwicklung der deutschsprachigen Literatur und ihrer Narrative. Das Denken und Wirken der Intellektuellen muss Fiala-Fürst zufolge durch das Prisma dieser konkurrierenden Narrative betrachtet und bewertet werden.

Prof. Dr. Tomáš Glanc, Universität Zürich, widmete seinen Vortrag den deutsch-tschechischen Dimensionen des Prager linguistischen Kreises. Dass die deutsche Dimension des Zirkels bis heute unterrepräsentiert ist, liegt Glanc zufolge unter anderem an dessen starker Personifizierung mit Roman Jakobson und seiner Geschichte. Im Verlauf der 1930er Jahre trafen im Prager linguistischen Kreis spätere NS-Kollaborateure und NS-Opfer aufeinander, Exilanten und Einheimische. Viele der Mitglieder flohen vor der Okkupation und Verfolgung durch das NS-Regime ins Ausland, wo sie ihre Theorien weiterentwickelten und dadurch die Ideen des Prager linguistischen Kreises in alle Welt trugen, jedoch unter anderen Vorzeichen.

Den letzten Vortrag des zweiten Tagungstages bestritt Dr. Alena Wagnerová, Saarbrücken und Prag, zur Person Milena Jesenskás. Dr. Wagnerová demonstrierte, dass Milena Jesenská weit mehr war als die Adressatin der Briefe von Franz Kafka. Sie war eine mutige Journalistin, die sich durch eine starke Emotionalität und ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen auszeichnete. In den 1930er Jahren verfasste sie zunächst für „Přítomnost“ eine Reportage über die Not der Flüchtlinge aus NS-Deutschland und widmete sich ab 1938 verstärkt der Sudetenfrage. Milena Jesenská, die im Widerstand aktiv war, wurde festgenommen und verhört, saß zunächst im Gefängnis in Dresden und wurde schließlich ins KZ Ravensbrück überführt, wo sie im Mai 1944 an den Folgen einer Operation verstarb.

Der dritte Tagungstag begann mit einem Vortrag von Dr. Zuzana Jürgens, Adalbert Stifter Verein, zum Thema „Oben und unten. Julius Zeyer und Paul Leppin und ihre Prager Texte“. Im Fokus stand zunächst die Legende „Inultus“ von Julius Zeyer, die 1892 erschien und die Schlacht am Weißen Berg 1620 zum Ausgangspunkt hat. Anschließend widmete sich Jürgens dem Roman „Severins Gang in die Finsternis“ von Paul Leppin aus dem Jahr 1914, der im zeitgenössischen Prag spielt. In beiden literarischen Texten stehen die Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Präsenz einer spirituellen Dimension im Vordergrund.

Anschließend referierte Dr. Winfried Siebers (Berlin) über „Heimweh nach dem Gegenwärtigen. Alice Rühle-Gerstels Prag-Roman ‚Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit‘“. Der Roman besticht nicht nur durch seine reichhaltigen biografischen, topografischen und zeithistorischen Details, sondern auch durch seine Distanz sowohl zum Nationalsozialismus als auch zu den stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre. Siebers verdeutlichte die drei Bedeutungsebenen des Umbruchs, der das Leitmotiv des Romans darstellt. Erstens ist damit der technische Umbruch in einer Zeitungsredaktion gemeint, zweitens der politische Umbruch und drittens der persönliche Umbruch im Leben der Protagonistin Hanna.

Zum Abschluss der Tagung präsentierte Dr. Zuzana Jürgens, Adalbert Stifter Verein, das „Handbuch der deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder“, das der Adalbert Stifter Verein in Kooperation mit der Arbeitsstelle für deutsch-mährische Literatur in Olomouc (Olmütz), dem Institut für germanische Studien der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur in Prag, der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena herausgegeben hat.

In der Abschlussdiskussion fasste Prof. Dr. Axel Walter die Ergebnisse der Vorträge zusammen. Die Tagung hat ihm zufolge deutlich gemacht, dass es zwischen den Kulturen in der Literatur der Prager Moderne einerseits zwar viele Anknüpfungspunkte und Austauschprozesse, andererseits aber auch viele bewusste und unbewusste Grenzziehungen gab. Prag als (Zwischen-)Raum, als räumliche Signatur, als imaginäre fiktionale bzw. fiktive Topografie, die mit der realen Topografie abgeglichen war, war das, was alles verbunden hat und in unterschiedlichen Formen und Funktionen in den Texten und Autobiografien präsent war. Ein Sammelband mit Aufsätzen zu den einzelnen Vorträgen ist geplant.

 

  • Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen / (kabe) & (tra)

 

Die Tagung ist als Aufzeichnung auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo

Die Pressemitteilung als pdf:
2021-11-16-KS-27-Tagung-Prager-Literatur

Der Tagungsbericht als pdf:
Tagungsbericht-Prager-Literatur

 

Foto: Dr. Kathleen Beger am Rednerpult
Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin der Kulturstiftung, eröffnete die Tagung
Foto: Prof. Dr. Axel Walter am Rednerpult
Prof. Dr. Axel Walter, Eutiner Landesbibliothek, führte durch die Konferenz
Foto: Prof. Dr. Viera Glosíková bei der Vorstellung des Films über Lenka Reinerová
Prof. Dr. Viera Glosíková stellte Lenka Reinerová und Auguste Hauschners Werk vor
Foto: Tagungsraum mit Teilnehmenden
Die Prager Literatur der Moderne stand im Zentrum der internationalen Tagung der Kulturstiftung im Heiligenhof