Biographie

Kassner, Rudolf

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Kulturphilosoph, Dichter, Schriftsteller
* 11. September 1873 in Groß-Pawowitz
† 1. April 1959 in Siders, Kanton Wallis/Schweiz

Kassner studiert in Wien und Berlin u. a. bei Mommsen, Treitschke, Schmidt und Harnack Philologie, Geschichte und Philosophie. Er promoviert 1897 zum Dr. phil. mit dem Thema „Der Ewige Jude in der Dichtung“. Unter 10 Geschwistern bis zum 20. Lebensjahr aufgewachsen als Gutsbesitzerssohn, wird K. seine Kindheitswelt nicht nur als bleibende Erinnerungsmacht, sondern auch als prägendes und gestaltendes Spurenelement stets mit sich tragen. Zeitlebens bleibt Kassner ein Heimat- und Weltbürger. Eine lebenslange Kinderlähmung, die ihn im Alter von 9 Monaten befällt, hindert ihn nicht, sein körperliches Gefesseltsein in Reisen nach Rußland und Turkestan, Indien und Afrika zu kompensieren. Bündelt man sein Leben und sein dichterisch-philosophisches Werk, so war er ein Universalgelehrter und in seinem Bildungshorizont einer der letzten Zeitzeugen eines zu Ende gehenden Jahrhunderts. So ist zu verstehen, daß Kassners Werk, das zu Fragen der Zeit Stellung nimmt, doch überzeitlich orientiert ist, immer wieder auf Tradition zurückgreift, Tradition verstanden nicht als Festhalten an erstarrten Prinzipien, sondern als Seinsgrund: „Dem Menschen der Kompensationen …, der Brüche und Verdrängungen einer Psychologie von heute stelle ich entgegen den Menschen der Form, der Tradition.“

Kassner war noch in eine Generation hineingeboren, die den Menschen als Ganzes begriff, einer Conditio Humana verpflichtet. Bezeichnend ist, daß seine Weggefährten Hofmannsthal, Rilke, Valery, Wilde, Gide heißen. Die Freundschaft mit Rilke hinderte Kassner indessen nicht, ihn 1946 einen „Vollender narzißtischer Lyrik“ zu nennen. Diese Unerbittlichkeit des Urteils bei aller Wertschätzung des Dichters zeigt Kassner geistige Unabhängigkeit und die Unbedingtheit seines Auftrages. Kassner mußte so reagieren, weil er zu ganz anderen Kategorien des künstlerischen Menschen kommt. Von der Idee der Physiognomik her, der Deckung von innen und außen in einer Künstlerpersönlichkeit, gewinnt sein Werk Gestalt. Dieses Kassner‘sche Weltbild, das sein gesamtes Œuvre durchwaltet, läßt sich verkürzt auf die Formel bringen: den Menschen der Mitte und des Maßes wiederzufinden. Rudolf Kassners drängender und suchender Geist nahm zu allen Fragen der Zeit Stellung. So setzte er sich auch mit dem Existentialismus auseinander. Es steht außer Frage, daß Kassners Menschenbild dem Sartres gegenläufig sein muß. Rudolf Kassner, der Christ ohne Dogma, der Mystiker ohne den Habitus des Mystagogen, der Weltbürger, der doch immer seiner Kindheitswelt – der mährischen Heimat – verhaftet blieb, der die Kulturen, Philosophien, Religionen der Menschheit in sich zu universaler Geistigkeit sublimiert hat, dieser Mensch der Paradoxie und gleichzeitig des Suchens nach Mitte und Maß entzieht sich letztlich allem Schablonieren und Kategorisieren. Er war ein unabhängiger Geist, sensibilisiert für alle Zeitströmungen durch Erfahrung und Erbe. Jede Zeit hat ihre Propheten. Kassner – Anreger, Deuter und Mahner – kann es sein für alle Zeit.

Werke u. a.: Sonnengnade, 1895; Der ewige Jude in der Dichtung, 1896; Die Mystik, die Künstler u. d. Leben, 1900; Der Tod u. d. Maske, 1902; Der indische Idealismus, 1903; Die Moral der Musik, 1905; Motive, 1906; Melancholia, 1908; Von den Elementen der menschlichen Größe 1911, Der indische Gedanke, 1913; Die Chimäre, 1914; Zahl und Gesicht, 1919; Die Grundlagen der Physiognomik, 1922; Die Verwandlung, 1925; Die Mythen der Seele, 1927; Das physiognomische Weltbild, 1930; Buch der Erinnerung, 1938; Der Gottmensch, 1938; Die zweite Fahrt, Mem., 1946; Transfiguration, 1946; Das neunzehnte Jahrhundert, 1947; Umgang der Jahre, Mem. 1949; Die Geburt Christi, 1951; Das inwendige Reich, 1953; Der goldene Drachen, 1957; Der Gottmensch und die Weltseele, aus dem Nachlaß, 1960; Sämtliche Werke, hrsg. v. E. Zinn, 1969ff.

Wichtigstes Werk über Kassner: Rudolf Kassner zum achtzigsten Geburtstag, hrsg. v. A. Cl. Kensik u. D. Bodmer, 1953.

Lit.: H. Pongs: Das kl. Lexikon d. Weltliteratur, Stuttgart, 1967; dtv-Lexikon d. Weltliteratur, hrsg. G. v. Wilpert, München, 1971; Lexikon d. deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1981; J. Mühlberger: Geschichte d. deutschen Literatur in Böhmen 1900-1939, München 1981.