Biographie

Lenz, Jakob Michael Reinhold

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Dichter
* 23. Januar 1751 in Seßwegen/Livland
† 4. Juni 1792 in Moskau

Genialität und Elend des livländischen Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz erhellen sich beispielhaft an seinem Verhältnis zu Goethe. „Seltsamstes und indefiniblestes Individuum“ nennt ihn der Weimaraner in den Paralipomena zu seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Im ausgeführten Text, im11. und vor allem im 14. Buch, finden sich dann jene Äußerungen Goethes über Lenz, welche allzulang die allmählich sich festigende Einsicht blockierten, daß wir in Lenz den aufschlußreichsten Vertreter des „Sturm und Drang“ zu sehen haben. Am Anfang stellt Goethe noch „ähnliche Gesinnungen“ fest. Bald aber schneidet Lenz (im Unterschied zu Klinger) schlecht ab: „Lenz jedoch, als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen.“ Schwierig freilich bleibt der Pfarrersohn aus dem Baltikum auch für den an ihm Interessierten, der sich um eine differenzierte Sichtweise bemüht. Allein der Verlauf seines Lebens und sein Selbstverständnis unterscheiden Lenz auffällig von den anderen Stürmern und Drängern, die allesamt über kurz oder lang annehmbare bis glänzende Karrieren machten. Lenz fehlte hierzu im Grund jeglicher Impuls. Als sein ebenso engstirniger wie ehrgeiziger Vater (1759 Oberpastor in Dorpat, seit 1779 Generalsuperintendent für ganz Livland in Riga) ihm befahl, bis Michaelis 1771 das Theologiestudium an der Königsberger Universität abzuschließen, entzog sich Lenz dieser Anweisung. Als „Mentor“ der beiden Barone Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist reiste er bereits im Frühjahr 1771 nach Straßburg. Anfang Juni begegnete er hier Goethe und stieß zum Kreis um den Aktuarius Salzmann. Die folgenden knapp fünf Jahre in und um Straßburg stellten insgesamt – die bei ihm unausbleiblichen Schwankungen durchaus in Rechnung gestellt – die erfreulichste und zugleich die produktivste Zeit seines 41 Jahre währenden Lebens dar.

Symptomatisch läßt sich gerade an dieser hellen Phase ablesen, in welchem Ausmaß Diskontinuität, Zufall, Fixierung und der allumfassende Goethebezug Lenz‘ Leben und Schaffen bestimmten. Nicht in schrittweiser Entfaltung, sondern in einem gewaltigen Schub gelangten in einem einzigen Jahr vier zentrale Werke unterschiedlicher Ausrichtung zum Druck. 1774, also im Erscheinungsjahr von Goethes Sensations- und Erfolgsroman Werther, wurden die beiden Komödien Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung und Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi, ferner die grundlegende theoretische Abhandlung Anmerkungen übers Theater und schließlich die wichtigen Übertragungen Lustspiele nach dem Plautus gedruckt. Alle anonym! Als ihr Verfasser galt gemeinhin Goethe. Unter dieser Vorgabe fanden sie breite Zustimmung. Sobald Lenz‘ Autorschaft feststand, ließ der Stimmungsumschwung nicht lange auf sich warten. Lenz‘ Goethe-Verhältnis aber tendierte unverkennbar zur Festlegung. Bereits im verschollenen Aufsatz Über unsere Ehe versuchte Lenz nach Goethes Auskunft in Dichtung und Wahrheit ihre beiden Talente auf partnerschaftliche Ebene zu heben. In der erhaltenen dramatischen Satire Pandämonium Germanicum von 1775 liegt uns Lenz‘ Sicht der gleichen Konstellation dergestalt vor: er hechelt zu Beginn des Stückes dem „Bruder Goethe“ auf den Gipfel nach, den dieser problemlos erklimmt. Im Frühjahr 1776 brach Lenz von Straßburg aus nach Weimar auf, um ganz in Goethes Umkreis zu sein. Nach diversen Irritationen kam es bereits am 26. November desselben Jahres zum Skandal, Goethe lakonisch als „Lenzens Eseley“ in seinem Tagebuch hielt. Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um ein Pasquill, das Goethe derart erbost hatte, daß er beim Herzog die Ausweisung Lenz‘ durchsetzte. Dessen Abreise erfolgte am 1. Dezember 1776. Für die restlichen Jahre seines Lebens sind – von wenigen Lichtblicken abgesehen – nur noch Katastrophen unterschiedlichen Ausmaßes zu registrieren: Beim Pfarrer Oberlin im elsässischen Waldersbach brach die – schon früher vereinzelt zum Vorschein gekommene – Geisteskrankheit aus. Herder machte wohl den aussichtsreichsten Versuch einer bescheidenen Konsolidierung seiner bürgerlichen Verhältnisse zunichte, indem er 1779 Bewerbung Lenzens um eine Stelle an der Rigaer Domschule nicht befürwortete. Die übrigen Freunde aus der Straßburger Zeit wandten sich gleichfalls von ihm ab. Nach einem erneuten Fehlschlag, in St. Petersburg als Lehrer oder Soldat unterzukommen, begab sich Lenz im Sommer 1781 nach Moskau. Hier hielt er sich mit Hilfe einiger Gönner und durch Honorare für Übersetzungen aus dem Russischen über Wasser. In der Frühe des 4. Juni 1792 fand man ihn tot auf einer Moskauer Straße. Sein Grab ist unbekannt.

Bis heute besitzen wir keine kritische Gesamtausgabe der Lenzschen Texte. Lenz selbst hat keines seiner Stücke jemals auf einer Bühne gesehen. Die Soldaten, sein bedeutendstes Drama (1776 erschienen), wurden von den zeitgenössischen Rezensenten nicht beachtet. Sein im gleichen Jahr geschriebener Prosatext, der Fragment gebliebene Briefroman Der Waldbruder, wurde erst 1797 von Schiller in den Horen veröffentlicht.

Dichtern, nicht den beamteten Germanisten, ist auch die adäquate Rezeption Lenz‘ vor allem im 19. Jahrhundert zu danken; denn so einflußreiche Fachvertreter wie Goedeke, Hettner oder Erich Schmidt schlossen sich Goethes schon zitierter Einstellung an. Georg Büchner hingegen setzte Lenz das bis heute unübertroffene Denkmal kongenialen Verständnisses in seiner gleichnamigen Erzählstudie. Gegen Ende des Jahrhunderts erinnerten die Naturalisten, nicht zuletzt Gerhart Hauptmann, an ihn als ihren maßgeblichen Vorläufer. Seit Bertolt BrechtsHofmeister-Bearbeitung ist Lenz‘ Bedeutung auch einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht worden. Eine neue Dimension hat Lenzens Rezeptionsgeschichte mit der 1965 uraufgeführten Oper in vier Akten Die Soldaten (nach seinem gleichnamigen Schauspiel) von Bernd Alois Zimmermann erreicht.

Werke: Die derzeit umfangreichste Werkausgabe: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, München/Wien 1987 (Band 1: Dramen, Band 2: Prosadichtungen und Schriften. Band 3: Gedichte und Briefe).

Lit.: Curt Hohoff: Jakob Michael Reinhold Lenz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1977 (rm 259). – Eckart Oehlenschläger: Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1977, S. 747-781. – Sturm und Drang. Ausstellung im Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von Christoph Perels. Frankfurt/Main 1988.

Bild: Lenz. Bleistiftzeichnung um 1777. Privatsammlung, Schweiz.