Herbert Jankuhn, in Ostpreußen geboren, hat in Königsberg, Jena und Berlin studiert, wurde 1931 in Berlin promoviert, habilitierte 1935 in Kiel, wurde 1938 dort Direktor des Museums Vorgeschichtlicher Altertümer der Universität, nahm 1940 einen Ruf an die Universität Rostock an, kehrte nach dem Krieg nach SchleswigHolstein zurück, wurde 1956 an die Universität Göttingen berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung als Ordinarius für Vor- und Frühgeschichte lehrte.
Wo er lebte und lehrte, regte er zugleich die Landesforschung mit archäologisch-historischen Fragestellungen an. Doch hatte er immer den gesamten mittel- und nordeuropäischen Raum im Blick und immer galten seine Forschungen kulturgeschichtlichen Problemen im weiten Sinne. Nicht von ungefähr wurde er deshalb wohl schon als Student mit den Ausgrabungen des wikingerzeitlichen Handelsplatzes Haithabu bei Schleswig betraut, die er von 1930 bis 1964 leitete. So wie ein solcher Handelsplatz als frühstädtische Großsiedlung Treffpunkt von Kaufleuten aus allen Ländern des Nordens, Ostens und Mitteleuropas war und in seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung nur als ein Knoten im Netz zahlreicher Handelsplätze rund um Nord- und Ostsee verstanden werden kann, so galten die Forschungen Jankuhns zu den Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter und zur Handelsgeschichte diesen Verflechtungen und der gegenseitigen Beeinflussung germanischer, slawischer und baltisch-finnischer Landschaften. Waren es zuerst die skandinavischen Seehandelsplätze an der südlichen und östlichen Ostseeküste, die er als eigenständige Frühphase zur Stadtentwicklung analysierte, so folgte – als Ergebnis der neuen Ausgrabungen in den ostdeutschen und polnischen Städten und in Fortsetzung der Vorkriegsuntersuchungen in Wollin und Oppeln sowie Zantoch – die Einbeziehung der frühen slawischen Stadtentwicklung. Im Zusammenhang damit veranstaltete er im Rahmen der Göttinger Akademie der Wissenschaften Kolloquien, zu denen zahlreiche Kollegen aus den ostmitteleuropäischen und skandinavischen Ländern eingeladen waren. Am Anfang stand 1957 ein Kolloquium über „Siedlung und Verfassung der Elb- und Ostseeslawen".
Wie Jankuhn sich archäologisch-historische Forschung im Sinne einer umfassenden Kulturgeschichte vorstellte, wird durch zwei von ihm begründete Unternehmungen faßbar, nämlich der Neuausgabe des „Reallexikons der germanischen Altertumskunde", dessen erste Auflage seit 1911 von Johannes Hoops herausgegeben wurde und die seit 1968 in Lieferungen erscheint, und die Gründung der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas" der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1971. Daß Kulturgeschichte als Altertumskunde in Europa nicht mehr auf Germanen beschränkt betrieben werden kann, betonte Jankuhn über Hoops hinaus durch Einbeziehung anderer Gruppen wie Slawen und Balten, aber auch Reiternomaden wie Sarmaten, Hunnen und Awaren. Seine internationalen Beziehungen in der Wissenschaft zeigen sich zudem in der großen Zahl von Forschern aus allen östlichen Ländern neben Kollegen aus den skandinavischen Staaten, die an diesem Reallexikon mitarbeiten. Die Kommission für die Altertumskunde, deren Ergebnisse in mehr als 15 Kolloquiums-Publikationen vorliegen, wählte jeweils Themen (Frühgeschichte der Stadt; Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters; Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit; Untersuchungen zu Handel und Verkehr etc.), die zu wesentlichen Teilen den ostmitteleuropäischen Raum einbezogen.
Die allgemeinen Züge und die besonderen Ausprägungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in landwirtschaftlich geprägter Umwelt – ein Forschungsfeld der Siedlungsarchäologie, für die Jankuhn durch Einbeziehung der naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten grundlegend gewirkt hat – und in den entstehenden städtischen Siedlungen konnten durch seine und die von ihm angeregte Forschung gerade durch diese Vergleichsmöglichkeiten zwischen germanischen und deutschen sowie slawischen und skandinavischen Ergebnissen der Archäologie erkannt werden. Nach den Ausgrabungen in der wikingerzeitlichen Siedlung regte er die archäologische Untersuchung von slawischen Siedlungen und Burgen in Schleswig-Holstein und später im Hannoverschen Wendland an, um über diese Forschungen auf dem Boden der Bundesrepublik unmittelbar in den Vergleich mit der östlichen slawischen Archäologie einsteigen zu können.
Die wissenschaftlichen Beziehungen zu den alten Gebieten des Deutschen Reichs, nach Polen und zur CSSR sowie auch nach Ungarn verliefen nicht nur über Kolloquien, sondern über zahlreiche persönliche Kontakte und Besuche, an denen seine Schüler teilhatten, und die viele ostmitteleuropäische Forscher an westliche Universitäten führte, wodurch eine jahrzehntelange Verknüpfung vielfältiger Forschungsbestrebungen entstanden ist. Faßbar wird diese bewußte Kontaktpflege in seiner Mitgliedschaft in der „Union internationale d’archéologie Slave", zeitweise als Vizepräsident und jetzt als Ehrenmitglied, sowie in der über 30jährigen Mitgliedschaft im Herder-Forschungsrat in Marburg; außerdem wurde er von verschiedenen deutschen und ausländischen Akademien zum Mitglied gewählt, so von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Finnischen Gelehrtengesellschaft, der Kungl. Vitterhets Historie l Antikvitets Akademie in Stockholm. So kennzeichnet Grenzen überschreitendes Denken das wissenschaftliche Werk Jankuhns, sei es Grenzen politischer, ethnischer oder auch herkömmlicher forschungsimmanenter Art. Nicht zuletzt wird der Lebensweg von seiner Heimat im damals östlichsten Teil Deutschlands über viele Stationen bis nach Göttingen zu diesem Weitblick beigetragen haben.
Lit.: G. Nolte, Verzeichnis der Veröff. von Herbert Jankuhn. Neue Ausgrabungen Forschungen in Niedersachsen 6,1970, 260-271 (Festschrift zum 65. Geburts-; Studien zur europäischen Vor- und Frühgeschichte (Festschrift zum 70. Geburtstag); Haithabu, ein Handelsplatz der Wikingerzeit, Neumünster 8. Aufl. 1986; Typen und Funktionen vor- und frühwikingerzeitlicher Handelsplätze im Ostseegebiet, Wien 1971; Einführung in die Siedlungsarchäologie, Berlin New York 1977; Rodung und Wüstung in vor- und frühgeschichtl. Zeit, in: W Schlesinger (Hrsg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte, Sigmaringen 1974, 59 ff.; Frühe Städte im Nord- und Ostseeraum (700-1100 n.Chr.), in: Topografia urbana e vita cittadina sull’alto medioevo in occidente, Spoleto 1974, 53 ff.