Als am 18. Januar 1918 Musikdirektor Rudolf Lassel nach 30-jähriger Tätigkeit an der Schwarzen Kirche in Kronstadt starb, trauerte man dem vielgeliebten Organisten, Dirigenten und Komponisten sehr nach und befürchtete, keinen gleichrangigen mehr zu finden. Vertretungsweise übernahm erst Prof. Egon Hajek Lassels Stelle, dann der Reihe nach Emil Honigberger, Alfred Lorenz, Musikdirektor Paul Richter und Michael Schunn. Aber vor allem in den schweren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg forderte diese Stelle vollen Einsatz und nicht eine als Nebenamt versehene Vertretung. So entschloss sich das Presbyterium der Stadtpfarrkirche zur Neuausschreibung der Kirchenmusikdirektorstelle.
Victor Bickerich war damals als Kantor und Organist an der Evangelischen Kreuzkirche Lissa (Provinz Posen im heutigen Polen) tätig. Seine zweitälteste Schwester war zu der Zeit Hauslehrerin in der Moldau und danach Gymnasiallehrerin in Bukarest. Dies machte ihren Bruder auf die Stellenausschreibung aufmerksam; er bewarb sich darum und wurde aus der Reihe der Bewerber vom Presbyterium gewählt. Am 1. April 1922 trat Bickerich sein neues Amt in Kronstadt an.
Am 23. Februar 1895 in Lissa geboren, war er der Sohn des damaligen Pastors an der Johanniskirche, Wilhelm Bickerichs (1867-1934), seinerseits auch Sohn eines Pfarrers. Lissa war im 16. und 17. Jahrhundert ein Zentrum der Reformation und des geistigen Lebens in Posen und Vater Bickerich einer der bedeutendsten Historiker der Reformation und des evangelischen Lebens in den einstigen deutschen Ostgebieten. Victor soll ihm sehr ähnlichgesehen haben, hat wohl auch den Arbeitseifer von ihm geerbt und war das älteste von acht Kindern, fünf Söhnen und drei Töchtern, die später alle Akademiker wurden.
Victor Bickerich studierte erst Philologie und wurde Französischlehrer. 1918, nach bitteren Kriegsjahren, begann er in Berlin mit dem Studium der Kirchenmusik und wurde Organist. Hier lernte er auch seine erste Frau Anna geb. Sorbeck kennen „eine perfekte Sopranistin“. Sie war an den musikalischen Erfolgen in seiner Heimatstadt, wo er die ersten zwei Jahre tätig war, und später auch in Kronstadt, maßgeblich beteiligt. Das Presbyterium der Stadtpfarrkirche von Kronstadt hat es nie bereut, seine Bewerbung als Folge einer Zeitungsanzeige nach dem Ableben von Rudolf Lassel angenommen zu haben.
Ein paar Wochen nach Amtsantritt trat Victor Bickerich mit dem seinerzeit von seinem Vorgänger gegründeten und seiner nachher durch den Ersten Weltkrieg verursachten Dezimierung, dann neu aufgestellten Kirchenchor vor die Öffentlichkeit. Erst an Pfingstsonntag 1922, dann am 7. Juli bei der Einsetzung des neuen Stadtpfarrers Dr. Victor Glondys (des späteren Bischofs) und am 16. Dezember mit einem Weihnachtskonzert, das bei der Kronstädter Bevölkerung große Begeisterung auslöste. Zwei Jahre später, am 18. April 1924, führe Bickerich Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion zum ersten Mal in der Schwarzen Kirche auf. Es war die Uraufführung des Werks in ganz Südosteuropa. Sie fand in allen in- und ausländischen Musikzeitschriften Beachtung. Die Ausführenden waren der Kronstädter Männergesangverein, die Philharmonische Gesellschaft, der Schülerkirchenchor und viele freiwillige Helfer. Diese Aufführung war nur möglich, weil inzwischen 1923 und bis 1925 die Orgelempore erweitert worden war, ein Wunsch, den schon Lassel hegte. Damit hatte Bickerich neue Maßstäbe gesetzt.
Eine weitere Neueinrichtung auf musikalischem Gebiet in Kronstadt waren die Motetten des Schülerkirchenchores, mit denen Bickerich 1923 begonnen hatte. Sie wurden später, nach dem Vorbild Dietrich Buxtehudes (1873 in der Lübecker Marienkirche) in Abendmusiken umgewandelt, alle vier Wochen geboten und auch nach dem Krieg fortgesetzt. Vor 1939 wurden sie auch in den Ferienmonaten jeden Sonnabend den Kronstädter Musikliebhabern, aber auch auswärtigen Touristen geboten.
Eine abgewandelte Fortsetzung davon waren die Fünf-Uhr-Konzerte in den Sommermonaten der fünfziger und sechziger Jahre, bei denen ausschließlich Orgelmusik gespielt wurde, die mehrmals in der Woche stattfanden und die zum Teil heute noch vom Nachfolger Bickerichs, Eckehard Schlandt, fortgeführt werden. Dieser führt auch die zur Tradition gewordene Matthäuspassion bzw. Johannespassion in Wechselfolge – meist Karfreitagsabend – auf. Bickerichs Schaffen war durch ungeheure Energie, Ideenreichtum und Organisationstalent gekennzeichnet. Nur so ist das alles zu erklären, was er im Laufe seiner Tätigkeit zustande gebracht hat.
Vom 1922 bis zum Zweiten Weltkrieg erreichte die Kronstädter Kirchenmusik einen Höhepunkt, der nach 1945 nicht mehr erreicht werden konnte. Innerhalb von fünf Jahren (1923 bis 1928) fanden unter Bickerich 46 Konzerte und Abendmusiken statt, sowie 149 gottesdienstliche Aufführungen. So hatte der Schülerkirchenchor (Gegenstück zum Dresdner Knabenkirchenchor) in den erwähnten fünf Jahren 633 Proben. Er trat in dieser Zeit in 314 Gottesdiensten mit Liturgie auf, sang in 73 Aufführungen, die im Rahmen von Gottesdiensten veranstaltet wurden, wirkte in acht Konzerten u.a. mit.
Er trat außerhalb von Kronstadt sogar in der evangelischen Kirche von Rom auf. Auch sang er unter Bickerich vor musikalischen und fürstlichen Honoratioren, wie 1923 vor dem Generalmusikdirektor Felix Weingartner, Berlin, bzw. 1925 vor der Königin Maria von Rumänien.
Er führte wieder den alten lutherischen Musikgottesdienst ein. Vor allem aber war Joh. Sebastian Bach sein Lieblingskomponist, der für ihn nach Bischof Söderblohm (Schweden) „der fünfte Evangelist“ war. So gründete er 1933 den Kronstädter Bachchor und übernahm 1935 auch das Philharmonische Orchester nach Paul Richter. Die Passionsaufführungen machten Bickerich bekannt. Wenn allerdings 1929 bei Bachs Matthäuspassion-Aufführung zum 200-jährigen Gedenktag die Entstehung dieses Werkes zur 400-Jahr-Feier der „Confessio Augustana“ im gleichen Jahre noch der Kronstädter Männergesangverein Händels Judas Maccabäus sang, so war es bei der Einführung der Matthäuspassion im Bukarester Atheneum am 24. März 1935 bereits der neugegründete Bachchor – begleitet von dem Philharmonischen Orchester, der bei der Aufführung mitwirkte. Diese Aufführung wurde durch den Besuch der Königin Maria besonders ausgezeichnet. Die Mutter des Verfassers, selbst Mitglied des Bachchores (aber auch des „Siebenbürgisch-Deutschen Tagblattes“) berichtete, die Königin habe in der Pause Bickerich empfangen, um ihm die Begeisterung für die großartige Leistung auszusprechen. Ein bekannter Kronstädter meinte hinterher: „Diese Aufführung der Matthäuspassion hätte sich Bickerich einmal anhören sollen“. Auch die rumänische Presse war des Lobes voll.
Bickerich hat mit den Kronstädter Bachchor in der Hauptstadt allein die Matthäuspassion fünfmal aufgeführt. 1937 bei der Konzertreise durch Deutschland führte der Bachchor Mozarts Requiem in fünf Städten auf: Er sang außerdem im Rundfunk.
Am 18. Oktober 1943 fand in Bukarest ein großes Konzert statt, bei dem der deutsche Organist Fritz Heitmann aus Berlin, ein früherer Lehrer Bickerichs, an der Orgel mitwirkte. Der Bachchor unter Bickerichs Leitung sang Anton Bruckners Tedeum und wurde dabei vom Bukarester Philharmonischen Orchester begleitet, das George Enescu dirigierte. Kaum ein Jahr war es noch, bis im August 1944 die Sowjetarmee Rumänien besetzte mit allen Folgen, die jedermann bekannt sind.
Reichsdeutsche Staatsangehörige, so auch Bickerich, mussten damit rechnen, als Feinde behandelt zu werden. Ein Augenzeuge berichtet, dass der Organist der Schwarzen Kirche Victor Bickerich auch schon auf dem bereit gestellten LKW gestiegen war, er habe gesagt: „Ich kann die Schwarze Kirche und die Orgel nicht im Stich lassen“ und ging den Roßmarkt hinab. Der Schülerkirchenchor bestand nicht mehr. Durch Krieg und Deportation war der Bachchor schon zusammengeschrumpft. Er selbst fand eine kleine Wohnung, am Roßmarkt, heiratete später seine Altsolistin Medi Fabritius, geb. Kärschler. Er ließ den Dachboden eines Hauses am oberen Ende der Obstzeile ausbauen und blieb bis zu seinem Ende in dieser Wohnung.
Letzte Aufführungen waren Mozarts Requiem 1957, Bachs Weihnachtsoratorium 1958, letzte öffentliche Musikvorträge 1959 Beethovens Klaviersonaten. 1962 zog Victor Bickerich sich aus dem Konzertleben zurück.
Karl Teutsch urteilte über ihn: „Bickerich wurde neben und nach Paul Richter zur musikalischen Autorität Kronstadts. Universelle humanistische Bildung und seine auf das Geistige konzentrierte Grundhaltung machten ihn zugleich zu einer starken Erzieherpersönlichkeit. Er förderte und prägte – mit Ausstrahlungen in das rumänische Altreich – entscheidend das Musikleben in seiner Wahlheimat. Die kirchenmusikalische Praxis in Kronstadt erreichte durch ihn ein bis heute nicht übertroffenes künstlerisches Niveau.“
Lit.: Karl Teutsch, Art. Bickerich, in: Lexikon der Siebenbürger Sachsen, Thaur bei Innsbruck 1993, S. 52. – Adolf Hartmut Gärtner, Victor Bickerich (1895-1964), Kirchenmusiker und Musikpädagoge in Siebenbürgen. Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, München 1997.
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Christof Hannak