Im 33. seiner Briefe, die neueste Literatur betreffend vom 19. April 1759 schreibt Gotthold Ephraim Lessing: “Es ist nicht lange, daß ich in Ruhigs Litauischem Wörterbuche blätterte, und am Ende der vorläufigen Betrachtungen über diese Sprache eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die mich unendlich vergnügte. Einige litauische Dainos oder Liederchen, nehmlich, wie sie die gemeinen Mädchen daselbst singen. Welch naiver Witz! Welche reizende Einfalt! […] Der fromme Mann entschuldiget sich, daß er dergleichen Eitelkeiten anführe; bei mir hätte er sich entschuldigen mögen, daß er ihrer nicht mehrere angeführt.”
“Der fromme Mann”– Verfasser des angeführtenLitauischen Wörterbuchs– ist Philipp Ruhig (von den Litauern Pilypas Ruigys genannt), über dessen Leben nur wenig bekannt ist. Geboren wurde er als Sohn eines Pfarrers. Er studierte seit 1692 in Königsberg, zunächst Jura, dann Theologie, hielt sich um 1696 eine Weile in Kaunas auf und wurde 1708 Pfarrer in Walterkehmen, im späteren Kreis Gumbinnen, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte.
Philipp Ruhig steht in jener Reihe protestantischer Pfarrer im nördlichen Ostpreußen, die für die Entwicklung der litauischen Schrift- und Literatursprache Unschätzbares geleistet haben. Während sich jedoch ältere Vorgänger wie etwa Martin Mosvidius (ca. 1520-1562), Johann Bretke (1536-1602) und Daniel Klein (1609-1666) auf die Übersetzung geistlicher Texte, vor allem Bibel- und Katechismusübertragungen ins Litauische beschränkten, ist Ruhig der erste, der auch “einen Blick in die Feinheit ihres [der Litauer] inneren Lebens, in die Schönheit ihres überwältigend reichen Volksgesanges gewährte” (Adalbert Bezzenberger).
In seiner Betrachtung der Littauischen Sprache, in ihrem Ursprunge, Wesen undEigenschaften, die unter der Jahreszahl 1745 seinemLittauisch-Deutschen und Deutsch-Littauischen Lexicon (Königsberg 1747) angehängt ist, geht es Ruhig vor allem darum aufzuzeigen, daß das Litauische den großen europäischen Schriftsprachen ebenbürtig, in mancher Hinsicht sogar überlegen sei. Im 15. Kapitel dieser Schrift mit dem Titel “Von der Littauischen Sprache Zierlichkeit und Annehmlichkeit” heißt es zum Beispiel: “Hier wird es manchen Leuten verdrüßlich zu lesen seyn, daß man dieser nicht ausgeübten, verachteten Sprache eine Zierlichkeit zuschreiben wolle. Indeßen hat sie doch von der Griechischen Lieblichkeit etwas angeerbet. Der öftere Gebrauch der diminutivorum, und in denselben vieler vocalium, mit den Buchstaben l, r, t, gemengt, macht sie lieblicher, als die viele herbe triconsonantes in der Polnischen.”
Auch in den Bereichen des Wortschatzes, der Umgangssprache und der Suffixbildung habe das Litauische– im Vergleich etwa mit dem Deutschen– Vorzüge. Insgesamt beweist Ruhig mit seiner Betrachtung eine hohe Sensibilität für sprachliche Probleme, die ihn vielfach intuitiv zu Erkenntnissen kommen läßt, die erst mehr als hundert Jahre später wissenschaftlich exakt beschrieben und nachgewiesen werden konnten, so unter anderem Beobachtungen zur Intonation, zur Unterscheidung von palatalen und nichtpalatalen Konsonanten, zur deskriptiven Grammmatik des damaligen Preußisch-Litauischen, nicht zuletzt auch zu Ähnlichkeiten mit anderen Sprachen, vor allem mit dem Altgriechischen.
Mit seinem sprachwissenschaftlichen Ansatz war Ruhig seiner Zeit weit voraus; das Interesse, das seiner Schrift seit dem Lessingschen Literaturbrief aus dem Jahr 1759 zuteil werden sollte, galt so zunächst auch ausschließlich den drei in der Betrachtungals Beispiel für die litauische Volkspoesie in Original und Übersetzung abgedruckten Dainos: “1.) Eine Tochter hatte ihren Geliebten begleitet”; “2.) Auf eine, die nicht fein spinnen kann”; “3.) Abschied einer heyrathenden Tochter”. Philipp Ruhig hat gleichsam die Initialzündung für die Rezeption litauischer Volkslieder in Deutschland gegeben. Die Zeit war dafür freilich günstig: Nicht erst die Romantik, sondern schon der “Sturm und Drang” hatte sich ja vor allem unter Johann Gottfried Herders Einfluß für die Volksdichtung zu begeistern begonnen. So beruft sich Herder in seiner AbhandlungAuszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Liederalter Völker (1773) auf die von Ruhig mitgeteilten Dainos. In der 1778/79 erschienenen Fassung von Herders Stimmen der Völker in Liedern nahm er– neben sieben weiteren litauischen Liedern– die dritte Ruhigsche Daina in eigener Bearbeitung unter dem Titel “Brautlied. Litthauisch” auf.
Eher als kuriose Randerscheinung ist zu vermerken, daß eben dieses Lied Johann Wolfgang Goethe in sein Singspiel Die Fischerineinbaute. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch eine Reihe von Gedichten Adalbert von Chamissos aus den Jahren 1826 bis 1828, denen litauische Dainos zugrundeliegen.
Im 19. Jahrhundert war es in Deutschland aber weniger die Dichtung, als vielmehr die Philologie, die sich nun der litauischen Volkspoesie annahm. Gedacht sei nur der großen Sammlungen von Ludwig Jedemin Rhesa, Georg Nesselmann, August Schleicher, August Leskien und Friedrich Karl Brugmann. Am Anfang dieser intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit litauischer Sprache und Volkspoesie stand aber zweifellos Philipp Ruhig. “Er hat”, faßt Friedrich Scholz in seiner Einleitung zur Faksimile-Ausgabe der Betrachtungen zusammen, “mit seiner Schrift Pionierarbeit geleistet und auf dem langen und beschwerlichen Weg, der zur Anerkennung der litauischen Sprache und ihrer Sprecher im Kreise der europäischen Völker geführt hat, die ersten entscheidenden Schritte getan.”
Lit.: Bezzenberger, Adalbert: Die litauische Literatur. In: Die osteuropäischen Literaturen und die slawischen Sprachen, Berlin u. Leipzig 1908, S. 354-371. – Forstreuter, Kurt: Ruhig, Philipp. In: Altpreußische Biographie II, Lfg. 4, Marburg/L. 1961, S. 576. – Jungfer, Viktor: Litauen. Antlitz eines Volkes. Versuch einer Kultursoziologie, Tübingen 1948. – Mažiulis, Vytautas: Pilypas Ruigys. In: Pilypas Ruigys, Lietuviu kalbos kilmes, budo ir savybiu tyrinejimas. Hrsg. v. K. Korsakas u.a., Vilnius 1986. – Ruhig, Philipp: Littauisch-Deutsches und Deutsch-Littauisches Lexicon [etc.] Nebst einer Historischen Betrachtung der Littauischen Sprache; Wie auch einer gründlichen und erweiterten Grammatick [etc.], Königsberg 1747. – Scholz, Friedrich: Einleitung. In: Philipp Ruhig. Betrachtung der littauischen Sprache, in ihrem Ursprunge, Wesen und Eigenschaften. Ndr. d. Ausg. Königsberg 1745. Hrsg. u. m. e. Einl. vers. von F. Scholz, Hamburg 1981, S. V-XXXV
Bild: Ruhig, Philipp: Betrachtung der littauischen Sprache, in ihrem Ursprunge, Wesen und Eigenschaften. Ndr. d. Ausg. Königsberg 1745. Hrsg. u. m. e. Einl. vers. von F. Scholz, Hamburg 1981
Maximilian Rankl