Die Versuche des rumänischen Fürstentums Moldau, den Anschluß an Westeuropa zu bewerkstelligen, führten nach dem russisch-türkischen Krieg 1828 bis 1830 dazu, daß zahlreiche Fachkräfte aus Österreich, Deutschland und Frankreich angeworben wurden. Das Gesundheitswesen der Moldau und ihrer Hauptstadt Jassy (rumän. Iaşi) wurde damals von zahlreichen deutschen Ärzten organisiert. Seit 1830 gab es in Jassy eine Lesegesellschaft der Mediziner, die 1833 von dem Aschaffenburger Arzt Jakob Czihak und von dem Rumänen Mihai Zotta in eine “Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher” umgewandelt wurde, deren weitreichende Beziehungen auch an einigen Mitgliedernamen festgestellt werden können. Alexander von Humboldt, Berzelius, Napoleon III. Diese erste wissenschaftliche Einrichtung in einer rumänischen Provinz besteht noch heute, und ihre Fachbibliothek ist aus den Privatbibliotheken der Mitglieder entstanden. Auch die Familie Russ hat für die Bereicherung der Sammlungen gesorgt.
Zu den bekanntesten Ärzten in der Moldau (die 1859 mit der Walachei vereinigt wurde, was zur Entstehung von Rumänien führte) zählte auch der aus dem österreichischen Pfaffenschlag stammende Dr. Ludwig Russ sen. (1816-1888), dessen chirurgische Leistungen von Warschau bis Moskau und von Wien bis Bukarest bekannt waren. Sein Sohn Ludwig Russ jun. setzte die Familientradition fort und wurde ebenfalls Arzt. Er ist der einzige deutsche Arzt, dem man in Jassy ein Denkmal gesetzt hat, wobei man seinen Namen allerdings rumänisierte (Ludovic Russu): im Jahre 1913 wurde vor der ersten Universitätsklinik für Innere Medizin für deren Begründer und ersten Chef eine Porträtbüste aufgestellt. Die Würdigung verdankt Dr. Russ unter anderem dem deutschen Arzt Emanuel Riegler, der im 2. Bezirk in Jassy und im Kurort Slănic Moldova die Nachfolge von Russ angetreten hatte.
Vier Generationen lang war die Familie Russ in der Moldau und in Rumänien tätig, und die Nachkommen, die sich technischen Berufen zuwandten, leben heute noch in Bukarest. Ludwig Russ jun. war, ebenso wie sein Vater, in Wien ausgebildet worden, aber seine Kinder studierten in Jassy. Russ jun. hatte das Piaristengymnasium besucht, war an der Medizinischen Fakultät in Wien Schüler von Hyrtl und Billroth und wurde 1874 promoviert. Danach stellte er einen Antrag auf Gewährung der rumänischen Staatsbürgerschaft. Im selben Jahr (1874) wurde Russ jun. von der Stadt Jassy als Arzt im 2. Bezirk eingestellt. Bis 1883 war er gleichzeitig am altehrwürdigen Spital des Heiligen Spiridon (Sfântul Spiridon) tätig. Zunächst versuchte er, in die Fußstapfen seines berühmten Vaters zu treten und hatte als Chirurg auch Erfolg. Er wurde Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, erhielt den Ruf für den 1880 geschaffenen Lehrstuhl für pathologische Chirurgie an der jungen medizinischen Fakultät der Universität Jassy (der 1860 gegründeten ältesten rumänischen Universität). Aber schon ein Jahr später entdeckte Russ jun. seinen eigentlichen Aufgabenbereich: die innere Medizin. Er ist der Begründer der ersten Universitätsklinik für Innere Medizin, der erste Professor für Innere Medizin in Jassy gewesen. Bis zum Jahre 1911, als er unerwartet und früh einem Herzleiden erlag, war Russ jun. Dekan der Medizinischen Fakultät (von 1892 bis 1900), Vorsitzender bei 53 Doktoratskommissionen, Ehrenmitglied des Rates für Hygiene und mehrfach (zuletzt 1902-1904) Präsident der Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher und Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift dieser wissenschaftlichen Vereinigung (Buletinul Societăţii de medici şi naturalişti). Er hatte zu den Organisatoren der Feldlazarette im russisch/rumänisch-türkischen Krieg (1877/1878) gehört, der die Unabhängigkeit Rumäniens herbeiführte. Als Leiter einer Ambulanz des Roten Kreuzes, als unermüdlicher Helfer wurde Russ jun. mit zahlreichen russischen und rumänischen Auszeichnungen geehrt.
Russ sen. hatte 1880 gemeinsam mit der Fürstin Elena Cuza die Kinderklinik “Caritatea” in Jassy gegründet, die vor allem Waisen und Unbemittelte betreute. Die Leitung dieser Wohlfahrtseinrichtung übernahm 1888, nach dem Tod seines Vaters, Russ jun. Jährlich wurden in der Klinik über 600 bedürftige Kinder behandelt. Russ jun. trug die Hauptlast der Tätigkeit und finanzierte– durch den Verkauf eines Teils seiner Gemäldesammlung und eine Spende des jüdischen Bankiers Jakob Neuschotz– den Bau zweier Pavillons, die der Jassyer Architekt Julius Reinicke entworfen hatte.
In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Ludwig Russ auch Badearzt in Slănic Moldova: er ließ die chemische Zusammensetzung der Quellen ermitteln, erstellte Berichte über die Nutzung der Bäder und über die erzielten therapeutischen Erfolge und trug dazu bei, den Kurort bekannt zu machen.
Als Wissenschaftler war Russ jun. in Rumänien und Deutschland bestens bekannt. Er vertrat seine Geburtsheimat bei internationalen Kongressen, beispielsweise in Rom (1894), Wien (1895) und Moskau (1897), veröffentlichte zahlreiche Einzelbeiträge in dem Bulletin der Jassyer Ärztevereinigung und in Bukarester Fachperiodika. Sein Bekanntheitsgrad war so groß, daß der Lehrbetrieb an der Universität Jassy drei Tage lang eingestellt wurde, als Russ jun. 1911 starb. Er erhielt ein Staatsbegräbnis, und vor der Familiengruft auf dem Eternitate-Friedhof wurde der “Titan der Fakultät” von zahlreichen rumänischen Persönlichkeiten gewürdigt. Dem Moldaudeutschen wurde einmal mehr bestätigt, daß er ein “guter Patriot” gewesen sei.
Die aufopferungsvolle und vielseitige Tätigkeit des Arztes Ludwig Russ jun. trug wesentlich dazu bei, das Niveau der Jassyer medizinischen Fakultät und das der medizinischen Fachzeitschriften in Rumänien zu heben. Die Konsolidierung des Gesundheitswesens in Jassy und in der Moldau war möglich, weil sie von Russ jun. und zahlreichen seiner deutschen Kollegen mitgetragen wurde. Weil er in der katholischen Kirche und in der deutschen Minderheitengruppe, die sich um das Konsulat sammelte, aktiv war und auch gute Kontakte zur jüdischen Gemeinde der Stadt unterhielt, hinterließ er den Eindruck einer äußerst zielstrebigen Persönlichkeit, der das Wohlergehen aller Mitbürger am Herzen lag.
Werke: Russ, Ludwig jun.: Câteva notiţe despre Slănic Moldova [Einige Anmerkungen über S. M.], Iaşi 1897, 1898, 1899, 1900; Ders.: Douăzeci şi cinci de ani de existenţă a spitalului de copii “Caritatea” din Iaşi [25 Jahre Kinderklinik “Caritatea” in Jassy], Iaşi 1905.
Lit.: Şuţu, Rudolf: Iaşii de odinioară [Das frühere Jassy], Iaşi 1928, Bd. II, S. 316-320. – Predescu, Lucian: Enciclopedia Cugetarea, Bucureşti 1940, S. 747. – Şuţu, Rudolf: Câteva amintiri ieşene [Einige Jassyer Erinnerungen], in: Evenimentul, 34 (1940), Nr. 8894, S. 2-3. – Maftei, Ionel: Personalităţi ieşene [Jassyer Persönlichkeiten], Iaşi 1978, Bd. III, S. 298-299. – Fassel, Horst: Dem Leben dienen: Die Ärztefamilie Russ und ihre Tätigkeit in Jassy, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 37 (1988), Nr. 2, S. 131-134. – Maftei, Ionel: Personalităţi ieşene [Jassyer Persönlichkeiten], Chişinău 1992, Bd. 1, S. 246.
Bild: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen.
Horst Fassel