Viele Generationen deutscher Indologiestudenten kannten seinen Namen eher als den irgendeines anderen Indologen, denn sie lernten Sanskrit, die klassische Literatursprache Indiens, nach seiner Grammatik: Friedrich Stenzler, der zu den Begründern der wissenschaftlichen Philologie des Sanskrit und der mittelindischen Sprachen gehört.
Stenzler wurde am 9.7.1807 in Wolgast in Vorpommern als Pfarrerssohn geboren. 1826 begann er ein Studium der Theologie und der orientalischen Sprachen (Arabisch, Persisch) in Greifswald. 1827 wechselte er nach Berlin, wo er Sanskrit und vergleichende Grammatik bei Franz Bopp hörte. 1828 vertiefte er seine indologischen Studien in Bonn u.a. bei August Wilhelm von Schlegel, der seit 1818 dort den ersten deutschen Lehrstuhl für Indologie innehatte. Dann verfasste er seine Dissertation, eine kritische Ausgabe von zwei Kapiteln des Brahmavaivarta-Purana, eines mittelalterlichen hinduistischen Textes, mit lateinischer Übersetzung und Anmerkungen.
Nach einem Forschungsaufenthalt in Paris, wo seine französische Übersetzung der berühmten Savitri-Episode aus dem indischen Nationalepos Mahabharata entstand (publiziert ohne Verfassernennung durch Pauthier 1841), wechselte er nach London. Sein Plan einer Indienreise von dort aus scheiterte; Stenzler gehört zu der großen Zahl der frühen europäischen Indologen, die das Land, dessen Literatur sie erforschten, niemals selbst gesehen haben. In London legte Stenzler eine kritische Ausgabe desRaghuvamsa vor, einer Dichtung von Indiens bedeutendstem Poeten Kalidasa (4. Jh. n.Chr.), mit lateinischer Übersetzung (1832). Dieses Werk, das vom englischen König preisgekrönt wurde, war die erste wissenschaftliche Sanskrit-Textausgabe nach der aus der Klassischen Philologie übernommenen philologischen Methodik.
1833 erhielt Stenzler durch Vermittlung von Alexander und Wilhelm von Humboldt eine außerordentliche Professur für Indologie in Breslau; 1847 wurdeer ordentlicher Professor. In seinen ersten Breslauer Jahren lehrte er auch Arabisch und Persisch, später konzentrierte er sich auf indische Sprachen. Sein Gehalt war und blieb so niedrig, dass er nur durch eine parallele Tätigkeit in der Universitätsbibliothek von Breslau seinen Lebensunterhalt finanzieren konnte, und er war unglücklich darüber, dass seiner wissenschaftlichen Forschungstätigkeit auf diese Weise die beste Arbeitszeit des Tages entzogen blieb.
Dennoch ist die Bilanz seiner wissenschaftlichen Arbeit beeindruckend. Zunächst folgten weitere Ausgaben und Übersetzungen von Werken Kalidasas (Kumarasambhava, publiziert erst 1838;Meghaduta, 1847). Stenzlers Ausgabe von Kalidasas Mrcchakatika (1847) gilt als Begründung der wissenschaftlichen Erforschung der mittelindischen Prakrit-Dialekte und als seine bedeutendste Arbeit.
Stenzler erkannte als erster den Wert der indischen Lexikographie, deren Ursprung er 1847 seine Antrittsschrift auf die ordentliche Professur in Breslau widmete, und bezog sie in alle seine Arbeiten ein. Ein weiteres Forschungsgebiet des vielseitigen Indologen war die altindische Rechtsliteratur (Dharmashastra), in der weltliches und religiöses Recht nebst traditionellen Sitten und Bräuchen behandelt werden. Neben diversen Artikeln erschienen 1849, 1864ff. und 1876 Ausgaben altindischer Rechtsbücher. Auch der indischen Medizin widmete Stenzler Forschungen, die belegen, dass sie kein so hohes Alter hat wie damals noch von der Forschung angenommen.
Stenzlers verbreitetstes Werk ist dasElementarbuch der Sanskritsprache, das 1868 erstmals erschien, bereits zu seinen Lebzeiten in 6.000 Exemplaren vorlag und bis zum späten 20. Jh. in mehrfach überarbeiteter Form als Lehrbuch benutzt worden ist. Erst kürzlich wird es zumeist durch neue, aber nicht immer auch bessere Lehrbücher abgelöst. „Kein Buch“, so der Indologe Richard Pischel in seiner Biographie Stenzlers,„hat so zur Verbreitung und Kenntniß des Sanskrit beigetragen wie dieses.“ Durch sein eigenes Leben bestens mit der hinderlichen Wirkung wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf die wissenschaftliche Arbeit vertraut, schuf er mit den Einnahmen aus seinemElementarbuchein Stipendium für mittellose Sanskrit-Studenten in Breslau.
Stenzel war mit Marie geb. von Liebenroth verheiratet, hatte aber keine Kinder. Er galt als liebenswürdiger Mensch, der viel von sich und seinen Schülern erwartete, sich stark für seine Studenten engagierte, sich in wissenschaftlichen Kontroversen zwar deutlich äußerte, aber nie im Ton vergriff und, so Pischel, „nie … abweichende Ansichten irgendwelchen Einfluß auf persönliche Beziehungen gewinnen (ließ)“.
Auf mehreren Gebieten der Indologie hat Stenzler Pionierleistungen vorgelegt. Der Umstand, dass man im modernen Indien die Deutschen (neben den Engländern) als Begründer der wissenschaftlichen Indologie betrachtet, ist nicht zuletzt der Arbeit von Friedrich Stenzler zu verdanken.
Werke (Auswahl): Brahma-Vaivarta-Puráni specimen, Berlin, 1829. – Raghuvansa Kálidásae carmen. Sanskrite et Latine, 1832. – Kumára Sambhava Kálidásae carmen. Sanskrite et Latine, Berlin-London, 1838. – Mrcchakatika id est Curriculum figlinum. Sudrakae regis fabula, Bonnae (Bonn), 1847. – De lexicographiae Sancritae principiis, Vratislaviae (Breslau), 1847. – Juris criminalis veterum Indorum specimen, Vratislaviae (Breslau), 1842. – Yajnavalkya-smriti, Berlin-London, 1849. – Commentarionis de domesticis Indorum ritibus particula, Vratislaviae (Breslau), 1860. – Elementarbuch der Sanskritsprache, Breslau, 1868. – Kalidasa, Meghaduta, Breslau, 1874. – Wortverzeichnis zu den Hausregeln von Acvalayana, Paraskara, Cankhyayana und Gobhila, Breslau, 1886.
Lit.: Richard Pischel, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 36, Leipzig, 1893, S. 59-61. – Valentina Stache-Rosen, German Indologists: Biographies of Scholars in Indian Studies writing in German,New Delhi: Max Mueller Bhavan, 1981, S. 32-33.