Im Jahre 1911 verfaßte Remus von Woyrsch einen autobiographischen Abriß, der nicht zur Veröffentlichung, sondern für das Familienarchiv bestimmt war. In ihm heißt es: ”Ich wurde am 4. Februar 1847 als zweites von sechs Geschwistern geboren. Mein Vater war damals Königlicher Regierungsassessor und wohnte auf seinem Gute in Pilsnitz in nächster Nähe von Breslau. Er ist als Wirklicher Geheimer Rat am 31. Dezember 1899 in Pilsnitz gestorben und hatte schon 1850 als Regierungsrat seinen Abschied aus dem Staatsdienst genommen, um sich ganz der Bewirtschaftung seiner Güter zu widmen.” Die Mutter war eine geborene Websky aus Wüstegiersdorf im Kreise Waldenburg, Tochter eines Großindustriellen. Sie war nach dem Urteil des Sohnes ”eine charakter- und temperamentvolle Frau, mit scharfem Verstande, hielt mich sehr streng, wozu ich ihr durch meinen Hang zu unnützen Streichen und zu Hänseleien meiner Geschwister wohl die Veranlassung gegeben haben mag. Immerhin hatte ich meine Kinderschuhe schon lange abgelegt, ehe ich mir ihrer zärtlichen und aufopfernden Liebe zu mir bewußt wurde.” Der Vater war zu sehr von seiner Arbeit in Anspruch genommen, um sich viel mit seinen Kindern beschäftigen zu können. ”Als ich aber größer geworden war, ” so schreibt der Sohn, ”nahm er mich auf seinen Gängen durch die Felder und bald auch auf seinen Ritten in die Umgebung mit und legte den Grund zu meiner späteren Passion für flottes Reiten und schöne Pferde.”
Im Anschluß an die Erziehung durch einen Hauslehrer bis zum zwölften Lebensjahr bezog Remus von Woyrsch das Breslauer Friedrichs-Gymnasium, das auch schon der Vater besucht hatte. Zu seiner Gymnasialzeit bemerkt er kurz und bündig: ”Ich lernte schlecht, paßte während des Unterrichts auch wenig auf und machte, nachdem ich die Klassen Quinta bis Prima absolviert, mein Abiturium mit Mühe und Not nach eben vollendetem 19. Lebensjahr.” Im Frühjahr 1866 wurde Remus von Woyrsch Soldat. Seine Militärzeit leistete er beim 1. Garderegiment zu Fuß ab. Mit ihm zog er als Unteroffizier in den am 14. Juni 1866 ausbrechenden Deutschen Krieg. In der Schlacht von Königgrätz geriet er am 3. Juli 1866 in Gefangenschaft, aus der er im September 1866 entlassen wurde. Mit dem Militär-Ehrenzeichen geschmückt, war er unter den in Berlin und Potsdam zur Siegesparade aufmarschierenden Truppen. Im Oktober 1866 wurde er zum Leutnant befördert und an die Unteroffiziersschule Weißenfels kommandiert.
Am Krieg von 1870/71 nahm Woyrsch ebenfalls teil, wurde bei St. Privat verwundet und war nach seiner Genesung an der Belagerung von Paris beteiligt. Als Bataillons-Adjutant und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, kehrte er 1871 in die Heimat zurück. Wie schon 1866, so gehörte er auch jetzt zu denjenigen Truppenteilen, die an der Siegesparade in Berlin teilnahmen. Zu seiner Militärzeit nach 1871 bemerkt Woyrsch in seinem Rückblick: ”In den Offizierkorps der Garde ging es sehr flott zu; ich war einer der Flottesten. Wein, Weib und Kartenspiel wurden zu gefährlichen Klippen … Aber trotz allen Lebensgenusses blieb ich stets ein diensteifriger und pflichttreuer Soldat, so daß ich im Frühjahr 1873 in die bevorzugte Stellung des Regimentsadjutanten einrückte.”
Nach einer einjährigen Dienstzeit im Großen Generalstab erfolgte die Beförderung des Premierleutnants von Woyrsch zum Hauptmann. Die weitere Laufbahn gestaltete sich keineswegs außergewöhnlich, es sei denn, daß man den Begegnungen und Bekanntschaften mit Graf Waldersee, Graf Schlieffen, Graf Haeseler, den herausragenden Militärs, oder den Wissenschaftlern Theodor Mommsen, Hermann Helmholtz und Ferdinand von Richthofen, schließlich auch mit Kaiser Wilhelm II. herausragende Bedeutung beimißt. 1886 wurde Woyrsch Major, 1892 Oberstleutnant und Chef des Stabes beim 7. Armeekorps in Münster, 1894 Chef des Stabes beim Gardekorps und 1897 Oberst und Kommandeur des Garde-Füsilier-Regiments. Die Beförderung zum Generalmajor erfolgte im Jahre 1897. Als solcher befehligte er die 4. Garde-Infanterie-Brigade. In seine schlesische Heimat kehrte er zurück, als er 1901 zum Kommandeur der in Neisse stationierten 12. Division berufen wurde. Im selben Jahr erfolgte seine Beförderung zum Generalleutnant.
Sein höchstes militärisches Kommando erreichte Remus von Woyrsch im Jahre 1903, als er als Nachfolger des Erbprinzen von Sachsen-Meiningen Kommandierender General des VI. Armeekorps in Breslau wurde. Nachdem er 1905 zum General der Infanterie befördert worden war, erfolgte 1908 ”auf Präsentation des Verbandes des alten und des befestigten Grundbesitzes im Landschaftsbezirk der Fürstentümer Breslau und Brieg” seine Berufung auf Lebenszeit in das Herrenhaus, dessen Mitglied bereits der Vater 25 Jahre lang gewesen war.
Woyrsch hat das VI. Armeekorps über einen Zeitraum von acht Jahren hinweg befehligt. 1911 nahm er, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, ”aus eigenstem Antrieb” seinen Abschied. ”Ich ging auf mein Gut Pilsnitz bei Breslau, dessen Wohnhaus (Schloß) ich neu erbaut hatte, um auf diesem Stammsitze meiner Familie den Rest meines Lebens in stiller Behaglichkeit … zuzubringen. Noch fühlte ich mich allerdings mit meinen 64 Jahren … körperlich und geistig in vollster Frische und Lebenskraft.”
Die Idylle des Ruhestandslebens wurde jäh unterbrochen, als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, denn Remus von Woyrsch wurde nun reaktiviert und mit der Aufstellung und Führung des schlesischen Landwehrkorps, das das Oderland gegen die Russen schützen sollte, betraut. Infolge der Siege Hindenburgs und seines Generalstabschefs Ludendorff im August und September 1914 wurden die russischen Truppen, die nach Schlesien vorstoßen sollten, auf ihren Flanken bedroht und mußten sich zurückziehen. Damit war die Gefahr für Schlesien gebannt. Das schlesische Landwehrkorps, als Armeeabteilung Woyrsch operierend, war in der Folge zunächst an den Abwehrkämpfen in Polen beteiligt, wo es mit seinen bescheidenen Kräften im September 1914 den Rücken des östereichischen Bundesgenossen deckte, und wirkte seit Juli 1915 an den Offensiven der deutschen Armeen in Polen und Litauen mit, wobei sie sich beim Durchbruch von Sienno und dem Weichselübergang unterhalb Iwangorod vorzüglich bewährte. Sodann wurde der weichende Russe unter ständigen Gefechten über Hunderte von Kilometern nach Osten verfolgt. ”Es ging, denn es mußte gehen, und Vater Woyrsch elektrisiert[e] alles bis zum jüngsten Musketier, kameradschaftlich Gefahren und Entbehrungen teilend, in Scheunen und auf dem Packwagen in strömendem Regen nächtigend.” (M. Laubert) Ende September 1915 wurde in einer von der Bukowina über Pinsk nach Dünaburg und entlang der Düna zur Rigaer Bucht verlaufenden Linie Halt geboten.
Mit dem militärischen Zusammenbruch Rußlands im Oktober 1917 und der Oktoberrevolution war auch die Mission Woyrschs erfüllt. Am 25. Dezember 1917 trat der inzwischen Siebzigjährige von seinem Kommando zurück. Der Kaiser ernannte ihn, der 1914 mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet und 1915 zum Generaloberst befördert worden war, am 31. Dezember 1917 zum Generalfeldmarschall. Nicht unerwähnt sei, daß die Universität Breslau ihm 1915 die Ehrendoktorwürde verliehen hatte. Die Zeitgenossen liebten es, ihn mit Blücher, dem Gutsnachbarn seiner Väter, zu vergleichen. Er begab sich wieder nach Pilsnitz, wo er den Rest seines Lebens verbrachte, ohne noch einmal erkennbar hervorzutreten.
Remus von Woyrsch war der typische Repräsentant der obrigkeitsstaatlichen, an Thron und Altar orientierten Ordnung des preußisch-deutschen Kaiserreichs, die Kaiser Wilhelm II. 1890 so beschrieb: ”Neben den Sprossen der adeligen Geschlechter des Landes, neben den Söhnen meiner braven Offiziere und Beamten, die nach alter Tradition die Grundpfeiler des Offiziercorps bilden, erblicke ich die Träger der Zukunft meiner Armee auch in den Söhnen solcher ehrenwerten bürgerlichen Häuser, in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflegt und anerzogen werden.” Ohne diese Rahmenbedingungen ist die Karriere Woyrschs nicht vorstellbar, denn die im 17. und 18. Jahrhundert entstandene höfisch-adelige Welt des Fürstenstaats war auch noch im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts real. Noch immer, wenn nicht sogar noch verstärkt, herrschten in der Gesellschaft, obwohl in ihr auch ein bürgerliches Ferment wirkte, die Vorstellungen vom monarchischen Prinzip und Gottesgnadentum, vom Primat des Adels und von Lehenstreue. Folglich wurde man ständisch qualifiziert; Familientradition und Familiengeltung beeinflußten die Karriere. Sie begründeten De-facto-Privilegien. ”Ein weitverzweigtes Konnexionsnetz”, wie Werner Conze es einmal formuliert hat, ”aufgrund familiärer und personeller Beziehungen bedeckte das Stellengefüge von Offizieren und Beamten, das offiziell lediglich aufgrund von Berechtigung verleihenden Prüfungen, Leistungsbeurteilungen und dem Grundsatz der Anciennität besetzt wurde.”
Lit. B. Clemenz, Generalfeldmarschall von Woyrsch und seine Schlesier. Eigenhändige Auszüge aus seinem Kriegstagebuch. Lebensgeschichte des Feldherrn, Berlin u. Glogau 1919.- Schlesische Zeitung vom 6. August 1920.- Manfred Laubert, Remus von Woyrsch, in: Schlesier des 19. Jahrhunderts (Schlesische Lebensbilder, Bd. 1), hrsg. von Friedrich Andreae, Max Hippe, Otfried Schwarzer, Heinrich Wendt, Breslau 1922, Nachdruck Sigmaringen 1985, S. 185-188.- Jürgen Hahn-Butry, Preußisch-deutsche Feldmarschälle und Großadmirale, Berlin 1938, S. 271 passim (Remus von Woyrsch).
Bild: Remus von Woyrsch als Kommandierender General im Jahre 1909; nach einer Radierung von S. Laboschin, Breslau.
Konrad Fuchs