Kulturstiftung zeigt Potenzial des Lastenausgleichsarchivs in Bayreuth für die künftige Forschung auf

Zweitägige interdisziplinäre Online-Fachtagung zum Lastenausgleich im Spiegel der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik

Mit der zweitägigen interdisziplinären Online-Fachtagung „Der Lastenausgleich im Spiegel der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Neue Perspektiven und Ansätze für die Forschung“ zeigte die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen am 20. und 21. Mai das im Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth schlummernde Potenzial für die Wissenschaft auf.

Dr. Kathleen Beger und Thomas Konhäuser leiteten die Tagung
Dr. Kathleen Beger und Thomas Konhäuser leiteten die Tagung
Foto: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Kathleen Beger, Wissenschaftliche Referentin der Kulturstiftung für Staats- und Völkerrecht, (Zeit-)Geschichte, Literaturgeschichte, und Thomas Konhäuser, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Kulturstiftung. In seinen einleitenden Worten zum Thema der Tagung erklärte Thomas Konhäuser: „Das Lastenausgleichsgesetz leistete einen wichtigen Beitrag zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen und gilt bis heute als eine der größten Umverteilungsmaßnahmen in der Bundesrepublik.“ Gleichzeitig wies er auf die umfangreichen „wissenschaftlichen Schätze“ hin, die es im Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth noch zu heben gilt.

Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, schloss seine Grußworte an. Er bedauerte, dass der Lastenausgleich heute ein oft übersehenes Stück deutscher Sozialgeschichte ist. „Dieser Lastenausgleich war eine Maßnahme, die einmalig in der Geschichte ist und zeugt auch von einer politischen Weitsicht, die die Politiker damals gehabt haben,“ sagte er. Das Thema verdiene eine größere Beachtung und Aufarbeitung, da man auch für die Zukunft daraus Lehren ziehen könne und es ein Beispiel einer großen sozialpolitischen Leistung sei.

Sylvia Stiersdorfer, MdL und Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, widmete sich in ihrem Grußwort der Bedeutung des Lastenausgleichs für zukünftige Generationen. „Der Lastenausgleich ist eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte insgesamt, aber es war natürlich nicht so, dass es in der Bevölkerung immer so gesehen worden ist“, sagte Sylvia Stiersdorfer und fügte hinzu: „Das war eine große Herausforderung: das Zusammenführen, die Eingliederung in die Gesellschaft und natürlich auch der Bevölkerung zu erklären, warum der Lastenausgleich notwendig war.“

Auch Dr. Silke Launert, MdB, Stellvertretende Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied der Vollversammlung des Sudetendeutschen Rates würdigte die Bedeutung des Lastenausgleichs in ihrem Grußwort. Der Lastenausgleich habe in der Nachkriegszeit neben Entschädigung und Eingliederung auch Linderung der größten Not gebracht. An diese Integration zu erinnern sei eine historische Verpflichtung, habe aber auch heutige Bezugspunkte. „Das Thema des Lastenausgleichs ist so aktuell wie lange nicht, weil während der Pandemie Forderungen laut geworden sind, dass sich die Gewinner in der Corona-Krise finanziell an den Folgen beteiligen sollen“, sagte Dr. Launert.

Den Auftakt der wissenschaftlichen Beiträge machte Prof. Dr. Sebastian Till Braun, Lehrstuhlinhaber für Quantitative Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth, mit einer volkswirtschaftlich-historischen Einordnung der Integration der deutschen Heimatvertriebenen zwischen 1945 und 1970. Anhand von Daten aus Volkszählungen legte er schlüssig dar, dass der Erfolg der damaligen Integration von vielen Faktoren, wie etwa dem Ansiedlungsort, abhing. Ihrerseits hätten die Heimatvertriebenen aber auch den Strukturwandel zur hochproduktiveren Industrie und im Dienstleistungssektor in Westdeutschland durch ihre Mobilität beschleunigt, erklärte Prof. Dr. Braun.

Prof. Dr. Manfred Kittel ging in seinem anschließenden Beitrag auf die historische Dimension des Lastenausgleichs für die Vertriebenen ein. Die Integration und auch die wirtschaftliche Seite des Lastenausgleichs, wie sie in der Demokratie Bundesrepublik erfolgt sind, seien trotz der komplizierten Geschichte immer noch um längen besser als die Integrationsprozesse von Vertriebenen in autoritären Staaten und Diktaturen gewesen, erklärte Prof. Kittel.

Auch Prof. Dr. Michael Schwartz, vom Institut für Zeitgeschichte in Berlin, beschrieb eine Sekundärmigration hin zu neuen Arbeitsplätzen in seinem Vortrag „Die Vertriebenen und die ‚Umsiedlerpolitik‘ in der DDR“. Im Gegensatz zum westdeutschen Ansatz habe die DDR aber konsequent stets den Weg der sozialnivellierenden Grundentschädigung gewählt. „Materiell wie symbolpolitisch gleichermaßen blieb die sehr früh völlig verweigerte DDR-Umsiedlerpolitik unzureichend“, sagte Prof. Dr. Schwartz. Auch das habe dazu geführt, dass bis zum Mauerbau etwa ein Drittel aller DDR-Flüchtlinge einen Vertriebenenhintergrund hatten.

Den dritten Vortrag des ersten Tages hielt apl. Prof. Dr. Jannis Panagiotidis, von der Universität Wien. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit Migration und Integration. „Integrationserfolge sind das Ergebnis einer positiven Rahmung und aktiven staatlichen Unterstützung der Integrationsprozesse und nicht etwa eines selektiven Aufnahmeregimes“, konstatierte Prof. Dr. Panagiotidis anhand der Integration der Russlanddeutschen und der sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlinge aus dem postsowjetischen Raum. Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Qualifikationen und Rentenansprüchen sei ein wichtiger Faktor, um Erwerbsbiographien nicht direkt nach der Ankunft zu brechen.

An der anschließenden Diskussionsrunde nahm auch Hartmut Koschyk, Parlamentarischer Staatssekretär a.D. und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, teil. Er betonte die politisch befriedende Wirkung des Lastenausgleichs jenseits seiner sozioökonomischen Wirkung. Gerade sein Hinweis darauf habe direkt nach der Wende auch dafür gesorgt, dass die zunächst ablehnende Haltung des Bundesfinanzministeriums gegenüber einer Einmalleistung für Vertriebene in der DDR umgekehrt werden konnte.

Internationale Dimension des Archivs

Prof. Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs
Prof. Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, leitete den zweiten Tagungstag ein
Foto: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Der zweite Tagungstag begann mit einem Grußwort von Prof. Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs. „Ich denke, dass wir dem Thema Flucht und Vertreibung als europäischem Thema heutzutage nur wirklich gerecht werden können, wenn wir auch nach modernen Möglichkeiten suchen, hier die Quellen an die Forschung heranzutragen, aktiver als wir das bisher konnten“, sagte Prof. Dr. Hollmann. Die Digitalisierung betreffe darum die Archive in ganz besonderer Weise. Unterlagen, die als „Schatz“ in Bayreuth liegen, sollen so in Zukunft digital weltweit zur Verfügung gestellt werden können.

Den Standort, die Geschichte und die Bestände des Lastenausgleichsarchivs in Bayreuth stellte anschließend Karsten Kühnel vor, der das Lastenausgleichsarchiv leitet. Die 27 Mitarbeiter des Archivs verwalten etwa 38 laufende Kilometer Schriftgut mit Quellen zu Flucht und Vertreibung, darunter die Akten der Ausgleichsverwaltung, der Heimatauskunftstellen, des Hauptamtes für Soforthilfe/ Bundesausgleichsamts sowie Unterlagen des Kirchlichen Suchdienstes,

Das umfangreiche Archivmaterial umfasse auch und 30 000 Erlebnisberichte in der sogenannten Ostdokumentation sowie unter anderem Feststellungsakten für erworbenes jüdisches Vermögen. Der Zugang zu vielen dieser Akten sei bereits online möglich, erklärte Karsten Kühnel, die Digitalisierung sei aber noch lange kein abgeschlossenes Projekt und künstliche Intelligenz zur Unterstützung der Arbeit ein derzeit spannendes neues Feld.

Perspektiven und Ansätzen für die Forschung im Lastenausgleichsarchiv widmeten sich anschließend Wissenschaftler in weiteren Tagungsbeiträgen. Den Anfang machte Prof. Dr. Manfred Kittel. Für ihn seien die Bayreuther Akten ein teils „schrecklich faszinierender Spiegel nachkriegsdeutscher Mentalitätsgeschichte“. „Es liest sich vielfach wie ein Krimi, ein veritabler Fortsetzungsroman in unendlich vielen, von der Forschung bislang so gut wie nicht berücksichtigten Aktenmetern“, sagte Prof. Dr. Kittel.

Dr. Zdeněk Kravar, Leiter der Abteilung für ältere Bestände am Schlesischen Landesarchiv in Opava (Troppau) in Tschechien, ging in seinem Beitrag auf die bereits genutzten Möglichkeiten der direkten Arbeit im Lastenausgleichsarchiv ein. Gerade für die Regionalgeschichte der Vertreibungsgebiete sei man hier auf viele Archivalien gestoßen, die am Ursprungsort nicht vorhanden seien. Zudem könne man Biographien, die in der Vertreibung einen Bruch erlitten, in Teilen hier wieder aufgreifen. Durch die Kombination mit Quellen aus tschechischen Archiven entstehe so ein kompletteres Geschichtsbild.

Die praktischen Ergebnisse der Zusammenarbeit mit dem Lastenausgleichsarchiv präsentierte Dr. Branislav Dorko, Direktor des Kreisarchivs Bruntál (Freudenthal) im Bezirksarchiv Krnov (Jägerndorf). Für viele Publikationen zur Regionalgeschichte habe man auf die Akten des Lastenausgleichsarchivs zurückgreifen und so Nachkriegsschicksale wichtiger Persönlichkeiten und Akteure nachvollziehen können.

In seinem Vortrag hob Dr. Mirosław Węcki, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Schlesischen Universität in Katowice (Kattowitz), die Bedeutung der Ostdokumentation hervor, die auch für polnische Historiker neue Erkenntnisse liefern kann. „Obwohl das Lastenausgleichsarchiv in Polen wenig bekannt ist, wissen doch Historiker, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, dass dies ein Ort ist, den man besuchen muss.“

Prof. Dr. Martin Ott, Gründungsdirektor des Instituts für Fränkische Landesgeschichte der Universitäten Bamberg und Bayreuth, legte den Fokus seines Referats auf die Bedeutung der Quellen des Lastenausgleichsarchivs für die Landes- und Mikrogeschichte. Für diesen Forschungsraum seien besonders die Anträge auf den Lastenausgleich selbst von Bedeutung, da sie von Vertriebenen schon an ihrem Ankunftsort gestellt wurden und darum Aussagen über die damalige Lage vor Ort und Migrationsgeschichten zulassen.

In der anschließenden Diskussionsrunde verwies Hartmut Koschyk darauf, dass es schon seit Ende der 1990er Jahre Pläne gibt, die Zusammenarbeit des Lastenausgleichsarchivs und der Universität Bayreuth zu vertiefen und eine Forschungsstelle oder einen Stiftungslehrstuhl zur Intensivierung der Forschung an den Lastenausgleichsakten zu gründen. Die Themen Flucht, Vertreibung und Migration seien bis in die heutige Zeit bedeutend und Integrationsforschung zudem ein „internationales Top-Forschungsthema“. Er fügte hinzu: „Die Diskussion, die wir gestern und heute dank dieser Tagung der Kulturstiftung durchgeführt haben, hat deutlich gemacht, dass wir in der Tat darauf hoffen können, dass die Forschung rund um das Lastenausgleichsarchiv sich irgendwann doch mehr Bahn bricht als heute.“

In seinem Schlusswort sprach Reinfried Vogler von der Bedeutung des Lastenarchivs für die grenzüberschreitende Verknüpfung alter und neuer Siedlungsgebiete. „Auch für die Arbeit der Landsmannschaften bietet dieser breite Horizont des Lastenausgleichsarchives zusätzliche Möglichkeiten, die auch geeignet sind, auch die jüngere Generation stärker mit einzubinden“, sagte Reinfried Vogler. So könne die Brückenfunktion der Landsmannschaften unterstützt und deren Fortsetzung in der nächsten Generation gesichert werden.

 

Der Vortrag wurde live auf Youtube übertragen und ist auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung als Aufzeichnung abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo

 

Das Programm der Tagung als pdf-Datei:
Programm Tagung LAG 20.-21.5.2021

Der Flyer zur Tagung als pdf-Datei:
Flyer Lastenausgleichsarchivtagung