Volksabstimmungen im Fokus der Völkerrechtstagung der Kulturstiftung

Collage zur Fachtagung über Volksabstimmungen
Internationale Fachtagung: “ Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit
unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren“

Die zweitägige wissenschaftliche Fachtagung „Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren“ der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Verbindung mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht zeigte Parallelen und Unterschiede zwischen historischen und modernen Plebisziten auf.

Am 8. und 9. Juli kamen Referentinnen und Referenten aus drei Ländern auf Einladung der Kulturstiftung online zusammen, um den Forschungsstand zu Volksabstimmungen über Gebietszugehörigkeiten von Eupen-Malmedy über Oberschlesien bis Westirian zu diskutieren. Die Tagung wurde geleitet von den Völkerrechtlern Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig aus Marburg und Prof. Dr. Peter Hilpold aus Innsbruck.

Zunächst begrüßte Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung, die Anwesenden und die Zuschauer der live bei Youtube ausgestrahlten Tagung. Er hob besonders den 100. Jahrestag der Volksabstimmung in Oberschlesien hervor, der in diesem Jahr bereits mit vielfältigen Veranstaltungen gewürdigt worden ist. An diesem Plebiszit könne man exemplarisch erkennen, dass Abstimmungen dieser Art die Geschichte nachhaltig beeinflussen können.

Anschließend übernahm Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig die Moderation und gab eine erste historische Einordnung von Gebietsabstimmungen. Er verwies darauf, dass es bis heute im Völkerrecht umstritten ist, ob Staaten ohne Befragung der betroffenen Bevölkerung Grenzverschiebungen durchführen dürfen, obwohl bereits im 17. Jahrhundert die Zustimmung der Einwohnerschaft zu Gebietswechselns gefordert worden war.

Die ersten beiden Referate übernahm Dr. Günther Rautz, Leiter des Instituts für Minderheitenrecht des Eurac Forschungszentrums in Bozen/Bolsano/Bulsan. Seinen ersten Vortrag widmete er der Volksbefragung in Eupen-Malmedy 1920. Nach dem Ersten Weltkrieg war dieses Gebiet zunächst provisorisch Belgien unterstellt worden. Die Volksbefragung sollte dem neu postulierten Selbstbestimmungsrecht der Völker Rechnung tragen, zeichnete sich aber schnell durch Repressalien gegen Gegner des Verbleibs bei Belgien aus. Die offizielle Eingliederung als Ostbelgien 1925 sorgte für interne und externe Spannungen.

Das Plebiszit in Kärnten im Jahr 1920 war hingegen eine Reaktion auf direkte militärische Konfrontationen, wie Dr. Günther Rautz in seinem zweiten Beitrag erklärte. Im November 1918 hatten Truppen des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) die südöstlichen Landesteile, in denen es eine slowenische Bevölkerungsmehrheit gab, besetzt. Nach einem bewaffneten Rückeroberungskampf wurde schließlich 1919 im Vertrag von Saint-Germain eine Volksabstimmung für einige Landesteile festgeschrieben, andere wurden ohne Abstimmung Ländern zugeteilt. Die Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 ging mit 59,04 Prozent unerwartet klar für Österreich aus, da auch ein erheblicher Teil der Kärntener Slowenen sich für diese Option entschied. Trotz eines späteren starken Assimilierungsdrucks besteht seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder ein verstärktes Interesse an der slowenischen Identität in Kärnten.

Prof. Dr. Peter Hilpold verwies in seinem Tagungsbeitrag darauf, dass Volksabstimmungen zwar einen „legitimatorischen Effekt“ haben können, dieser jedoch stark von den Umständen abhängt. „Eine Volksbefragung kann kein Allheilmittel darstellen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht“, erklärte er. So müsse man stets auch den Minderheitenschutz im Blick behalten und diesen als notwendigen Zusatz zum Menschenrechtsschutz betrachten. Diskriminierungen, eingeschränkter Zugang zur Abstimmung und externer Druck machten Abstimmungen anzweifelbar.

Prof. Dr. Gunda Barth-Scalmani, Historikerin an der Universität Innsbruck, stellte mit der Volksabstimmung in Tirol vom 24. April 1921 einen interessanten Sonderfall vor. Mit dem Zerfall des Habsburgerreiches und der Neuordnung Österreichs erhoffte sich die Bevölkerung dort angesichts der wirtschaftlichen Situation einen Anschluss an das Deutsche Reich. Dafür sprachen sich sogar 98,8 Prozent in einer Volksabstimmung aus. Diese und ähnliche Umfragen blieben dennoch folgenlos, da im Friedensvertrag von Saint-Germain ein striktes Anschlussverbot verhängt worden war.

Freie Wahl und Zwangsabstimmung

Der zweite Tag der Fachkonferenz begann mit einem Vortrag von Dr. Richard Lein vom Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Volksabstimmung in Ödenburg/Sopron im Jahr 1921. Da das Burgenland innerhalb des Habsburgerreiches dem Königreich Ungarn zugeteilt war, schien nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzziehung hier zunächst eindeutig. Das Gebiet wurde aber schnell zum Spielball internationaler Interessen und auf Druck Italiens Österreich zugeschlagen. Mit Ungarn einigte man sich dann auf eine Volksabstimmung für Mitte Dezember 1921. Trotz eines Verbots der Einflussnahme, gab es bereits im Vorfeld der Abstimmung von beiden Seiten Propaganda und Manipulationen. Am 14. Dezember 1921 stimmten schließlich 72,8 Prozent der Ödenburger für Ungarn und am 16. Dezember 1921 votierte eine knappe Mehrheit im Umland für Österreich. Eine definitive Grenzziehung wurde dann 1922 vereinbart. Damit konnte vor allem die Revision der Friedensverträge von Saint-Germain und Trianon, die die Entente auf jeden Fall verhindern wollte, abgewendet werden.

Mit den Volksabstimmungen in Schleswig im Februar und März 1920 beschäftigte sich Dr. jur. Holger Kremser von der Georg-August-Universität Göttingen. Ausgehend von der komplexen Geschichte und dem Sonderstatus der Region wurde Dänemarks Anspruch auf ein Plebiszit im Friedensvertrag von Versailles gewürdigt, obwohl das Land am Ersten Weltkrieg nicht teilgenommen hatte. Das Abstimmungsgebiet wurde in zwei Zonen aufgeteilt, die so gewählt waren, dass das Ergebnis schon im Voraus vorhersehbar war. Die nördliche Zone I ging trotz einzelner gegenteiliger Abstimmungsergebnisse vor allem in den Städten Sonderburg/Sønderborg und Apenrade/Aabenraa komplett an Dänemark, während sich die südliche Zone II mit über 80 Prozent klar für Deutschland aussprach.

Barbara Kämpfert, Wissenschaftliche Referentin der Kulturstiftung, widmete ihren Vortrag der Volksabstimmung in West- und Ostpreußen am 11. Juli 1920. Nach dem Ersten Weltkrieg waren dem wiederhergestellten polnischen Staat von den Siegermächten einige Regionen ohne Befragung der Einwohnerschaft angegliedert worden. Nur in wenigen Fällen war ein Plebiszit vorgesehen. Nach Protesten Deutschlands gegen die Gebietsverluste in Ostpreußen und unter britischem Einfluss wurde auch ein Plebiszit in den Abstimmungsgebieten Allenstein und Marienwerder vereinbart. Beide Kreise stimmten mit über 90 Prozent deutlich für den Verbleib bei Ostpreußen. In Polen sorgte dieses Ergebnis für Ernüchterung, da auch viele nicht deutschsprachige Abstimmende sich so entschieden.

Über Volksabstimmungen im präunitären Italien sprach anschließend Dr. Gian Luca Fruci von der Universität Pisa, gedolmetscht von Andreas Raffeiner. Die Jahre zwischen dem europäischen Revolutionsjahr 1848 und der militärischen Einnahme des Kirchenstaats 1870 qualifizierte Dr. Fruci als „plebiszitären Zeitraum“, da die Vereinigung Italiens von 16 offenen Abstimmungen begleitet wurde. Dabei waren jedoch das Wahlrecht in den verschiedenen Regionen und Mikrorepubliken sehr unterschiedlich. „Abstimmungen sind noch keine Garantie für Demokratie“, erklärte darum Dr. Fruci. Gerade im 19. Jahrhundert sei bei Referenden auch kein individueller Wählerwille abgefragt worden. Vielmehr seien sie als kollektive Akte der Zustimmung angelegt gewesen.

Den zwei Volksabstimmungen an der Saar in den Jahren 1935 und 1955 widmete sich Dennis Traudt vom Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Das drittgrößte Industriegebiet des Deutschen Reiches war durch seine strategische Lage und das dortige Steinkohlerevier stets auch für Frankreich interessant. Dementsprechend war die „Saarfrage“ auch auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 ein wichtiges Thema. 1920 wurde mit dem ersten „Saarstatut“ ein Kompromiss geschlossen, der auf eine Volksabstimmung über das erstmals als gemeinsames Land betrachtetes Gebiet nach 15 Jahren ausgerichtet war. 1935 entschieden sich über 90 Prozent der Stimmberechtigten für Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die „Saarfrage“ wieder im Raum. Das zweite „Saarstatut“, mit dem ein aus dem Jahr 1954 sollte dann mit einer Volksbefragung gebilligt werden. Eine Mehrheit von 67,71 Prozent sprach sich jedoch dagegen aus und so sah sich Frankreich gezwungen, die Rückgabe des Gebiets zum 1. Januar 1957 an Deutschland zu akzeptieren. „Die Lösung der Saarfrage war trotz zweimaliger Ablehnung von Sonderregimen nur durch Europäische Einigung und deutsch-französische Aussöhnung möglich“, erklärte Dennis Traudt.

Den Beitrag von Dr. Carolin Gornig, die derzeit an das Hessische Kultusministerium abgeordnet ist, verlas Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig. Ihr Thema waren die erst kurze Zeit zurückliegenden Abstimmungen auf der Krim und in der Ostukraine. Gleich zu Beginn stellte Gornig fest, dass beide Abstimmungen unter erheblichem Druck stattfanden und die Kriterien der „Venedig“-Kommission für freie Meinungsäußerung nicht erfüllen. Einschüchterung, keine unabhängige Berichterstattung und keine Möglichkeit zur Wahlbeobachtung seien dafür klare Belege. Obwohl sich die Russische Föderation auf die Abstimmungen stütze, sein eine legitimierende Funktion der Plebiszite international nicht gegeben.

Dr. Karsten Eichner von der Universität Gießen stellte den Verlauf der Teilung Oberschlesiens vor. Dieses „zweite deutsche Ruhrgebiet“ habe schon aus wirtschaftlichen Gründen nach dem Ersten Weltkrieg das Interesse Polens geweckt. Zunächst war die Entente auch gewillt, diese Ansprüche komplett anzuerkennen, reagierte aber auf den Protest Deutschlands bezüglich der zweihundertjährigen Zugehörigkeit des Gebiets. Auf den Vorschlag Englands hin wurde eine Volksabstimmung vereinbart, die am 20. März 1920 schließlich mit fast 60 Prozent für Deutschland ausging. Dabei hatten sich vor allem die oberschlesischen Städte so entschieden, das Umland stimmte für Polen. Die zuständige Pariser Botschafterkonferenz beschloss daraufhin die Teilung des Gebiets und sprach seinen östlichen Teil Polen zu. Damit erhielt Polen die meisten Wirtschaftsstandorte und Deutschland das eher agrarisch geprägte Gebiet. Diese künstliche Grenzziehung blieb auf Jahrzehnte ein Streitpunkt. „Das Selbstbestimmungsrecht schafft nicht automatisch klare Grenzen“, fasste Dr. Karten Eichner seine Erkenntnisse zusammen.

Eine weitere willkürliche Grenzziehung hatte Prof. Dr. Stefan Oeter von der Universität Hamburg für sein Referat gewählt. Die Grenze, die als fast gerade Linie die Insel Neuguinea in zwei Staaten teilt, ist noch ein Überbleibsel der Kolonialzeit. Der von der niederländischen Kolonialmacht gehaltene Westteil der Insel (Westirian) erhielt zwar 1952 eine Selbstverwaltung und 1961 ein Parlament mit der Zusage der Entlassung in die Unabhängigkeit bis 1970, dem kam jedoch Indonesien zuvor, das einen Anschluss der Region zunächst forderte und 1963 durchsetzte. Es folgten brutale Repressionen gegenüber den einheimischen Papua und eine forcierte Ausbeutung der Bodenschätze sowie eine gezielte Ansiedlung von Indonesiern. 1969 akzeptierte Indonesien eine Abstimmung als „Act of Free Choice“ über das Gebiet, jedoch nur mit indirekter Wahl über Wahlmänner, die unter der Kontrolle Indonesiens standen. Dementsprechend einhellig fiel das Ergebnis für Indonesien aus. Die fünf Jahrzehnte Fremdherrschaft forderten seitdem etwa 100 000 Tote, waren gezeichnet von willkürlichen Verhaftungen und Folter. „Man hat den europäischen Kolonialismus durch einen asiatischen Kolonialismus ersetzt“, zitierte Prof. Oeter die regionale Einschätzung der bis heute herrschenden Lage.

Abschließend feststellen ließ sich übereinstimmend vor allem, dass Volksabstimmungen nicht automatisch zu einem legitimierenden Ergebnis bei Gebietszuschreibungen führen. Bereits vorhandene oder durch die Grenzverschiebung entstehende Minderheiten müssen bedacht und geschützt werden. Bevölkerungstransfers, Ausweisungen und Vertreibungen führen immer zu Leid und Traumata, die sich auch auf folgende Generationen übertragen.

Die Veranstaltung wurde vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gefördert.

Die Tagung wurde live auf Youtube übertragen und ist auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung als Aufzeichnung abrufbar www.bit.ly/kulturstiftungvideo