Erinnerungsdokumentation über nationale Grenzen hinweg

Diözesantagung der Ackermann-Gemeinde in der Diözese Rottenburg-Stuttgart am 18. Juni 2022 in Schwäbisch Gmünd

 

Der Vorsitzende der Ackermann-Gemeinde Karl Sommer begrüßte die Teilnehmer und Jan Blažek aus Prag, mit dem man einen sehr kompetenten Referenten gewonnen habe, um über die Arbeit seiner Organisation Post Bellum zu berichten. Immer wieder habe sich die Ackermann-Gemeinde mit der sudetendeutschen Vergangenheit befasst, inzwischen sei die Pflege einer ausgeprägten Erinnerungskultur aber auch in Tschechien selbstverständlich geworden, so Sommer.

Jan Blažek gab – unterstützt von Illustrationen und Fotos – Einblicke in Aufgaben, Zielsetzungen, Initiativen, Methoden und Präsentationen seines 2001 (nach dem Kalten Krieg) von einer Gruppe tschechischer Historiker und Journalisten gegründeten Vereins. Die gemeinnützigen Zwecken dienende Einrichtung arbeite von der Regierung unabhängig und verfolge keine wirtschaftlichen Gewinnziele. Post Bellum stehe für Menschenrechte und Demokratie und widme sich im Dienst des Gedächtnisses der Gesellschaft der Sammlung und Dokumentation von Zeitzeugenaussagen aus dem 20. Jahrhundert.

Die Ziele sind dokumentarischer, aufklärender, pädagogischer Natur. Man will Wissen und Bewusstsein über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts in der Tschechischen Republik und ihren Nachbarstaaten durch authentische Zeugnisse befördern. Historische Ereignisse sollen – erinnert und erzählt von Menschen, die sie erlebt haben – an die jüngeren Generationen vermittelt werden, damit sie daraus lernen. Im Fokus stehen die Berichte von Zeitzeugen über die totalitären Regime. Sie liefern tiefe Einblicke in die Geschehnisse während kommunistischer oder nationalsozialistischer Herrschaft und leisten einen Beitrag, das Wesen totalitärer Herrschaft aufzudecken. Im Fundus befinden sich Berichte von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern, politischen Gefangenen und Dissidenten, Angehörigen von ethnischen Minderheiten, Verfolgten und Vertriebenen. Die Darstellungen der Zeitzeugen werden mit der Kamera festgehalten, sie blicken während ihrer Ausführungen meist zum Betrachter und erwecken so den Eindruck persönlicher Ansprache.

Die Aufnahmen werden nicht geschnitten, um ein Maximum an Authentizität und ein Minimum an Manipulation zu gewährleisten. Die Berichte sollen für ein breites Publikum zugänglich sein. Jeder, der sich registriert, hat das Recht, alle Filme in voller Länge anzusehen. Unter https://www.pametnaroda.cz/cs gelangen interessierte Nutzer direkt zu den Zeitzeugeninterviews. Die Zeugen werden in ihrer jeweiligen Muttersprache befragt und danach ins Englische übersetzt. Für die Benutzung des nach zeitlichen und thematischen Kategorien eingeteilten Archivs werden keine Gebühren erhoben. Die Themengruppen sind unter folgenden Überschriften geordnet: Holocaust, Kommunismus, Nationalsozialismus, kirchliche und religiöse Gemeinschaften, Veteranen, nationale Minderheiten, politische Gefangene und Geheimdienste. Die Interviews können auch nach besonderen Plätzen und Ereignissen aufgefunden werden.

Ein wichtiges Thema seien dabei, betonte der Referent, die „Aussiedlungen“ nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur die der Deutschen aus Tschechien und Polen, sondern auch der Italiener aus Kroatien, der Polen aus der Ukraine und Russland, der Ungarn aus der Slowakei. Bei systematischen Ausflügen in verschiedene deutsche Städte seit 2018 hat Blažek zahlreiche zweistündige Gespräche geführt. Für ein Buch, das demnächst auch in deutscher Sprache erscheinen soll, wurden fünf nach geographischen Kriterien exemplarische Interviews ausgewählt. Das Online-Projekt Memory of Nations ist mit mehr als 4.000 Zeitzeugengeschichten die größte öffentlich zugängliche Datenbank dieser Art in Europa. Sie fügen sich zusammen zu einem Gesamtbild einer Periode der europäischen Zeitgeschichte.

Neben dem Betrieb des Portals wirkt Post Bellum in vielfältiger Weise aktiv an der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien mit. Vor allem durch wöchentliche Rundfunksendung seit 20 Jahren ist die Einrichtung in ganz Tschechien bekannt geworden und wird überwiegend positiv beurteilt. Öffentliche Aufmerksamkeit erreicht man aber auch durch die Organisation von Veranstaltungen und Workshops, das Fernsehen, Ausstellungen, Publikationen (darunter künstlerisch wertvolle Graphic Novels, die Geschichte vor allem für die Jugend attraktiver machen), Presseartikel, von Schülern über interessante Persönlichkeiten verfasste und aufgeführte Theaterstücke sowie Preisverleihungen. Gesammelt werden in digitalisierter Form auch Briefe, Fotos und Dokumente. Post Bellum sei in acht tschechischen Städten mit Zweigstellen präsent, führte Blažek weiter aus, habe 35, auch teilzeitbeschäftigte Mitarbeiter und besitze eine englischsprachige internationale Zweigstelle. Finanziert werde die Institution durch regelmäßige private Spenden, für Projekte fließe aber auch staatliches Geld, auch aus Deutschland. Unterstützt werde man darüber hinaus von Städten und der EU.

Man habe daneben ein Netzwerk für hilfsbedürftige Alte aufgebaut und 14 Millionen Euro an Spenden für die Ukraine gesammelt. Post Bellum arbeitet mit zahlreichen Institutionen und Schwesterorganisationen zusammen und strebt weitere Vernetzungen an: im Inland etwa mit dem tschechischen Rundfunk und der staatlichen Institution für das Studium der totalitären Regime, mit Antikomplex, tschechischen Historikern und professionellen Theatern, im Ausland etwa mit dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC, Gespräche werden auch mit kubanischen und weißrussischen Dissidenten geführt.

In der anschließenden Diskussion wurden verschiedene Problembereiche und Fragen aufgeworfen: Wie zuverlässig können Erinnerungen besonders nach großen zeitlichen Abständen sein? Eine breite Palette von Berichten sei notwendig, um ein objektives Bild anzustreben. Trotz ihrer Subjektivität sei die authentische Zeugenschaft eine unentbehrliche Quellengattung. Ukrainische Gewährsleute sollten daher aktuell und abermals in 20 Jahren interviewt werden.

Da sich das Zeitfenster für die Gewinnung von Zeitzeugenberichten aus den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts unweigerlich schließt, ist die Arbeit von Post Bellum aktuell von größter Relevanz und sollte auch beispielsweise auf die wenig bekannten Verfolgungen unter dem kommunistischen Tito-Regime am Ende des Zweiten Weltkriegs im ehemaligen Jugoslawien ausgedehnt werden, wo solche Initiativen weitgehend fehlen.

Stefan P. Teppert