Biographie

Becker, Jurek

Herkunft: Zentralpolen (Weichsel-Warthe)
Beruf: Erzähler, Drehbuchautor, Essayist
* 30. September 1937 in Lódz/Polen
† 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein

Anlässlich einer Fotoausstellung über das Ghetto in Łódź, die im November 1989 im jüdischen Museum zu Frankfurt am Main gezeigt wurde, schreibt Jurek Becker in dem aufschlussreichen Kurzbeitrag Die unsichtbare Stadt über die Wunde seines Lebens, die sich nicht schließen will: „Ich starre auf die Bilder und suche mir die Augen wund nach dem alles entscheidenden Stück meines Lebens. Aber nur die verlöschenden Leben der anderen sind zu erkennen, wozu soll ich von Empörung oder Mitleid reden, ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht.“ Dies ist im Kern zu großen Teilen die Werk- und Lebensproblematik Beckers. Und die schriftstellerischen Arbeiten, allen voran der Erstlingsroman Jakob der Lügner, möchten das alles entscheidende Stück seines Lebens ermitteln.

Doch schon die allerersten Bausteine seiner Biographie stehen nicht zweifelsfrei fest. Die üblichen bürgerlichen Dokumente wie Geburtsurkunde und dergleichen existieren nicht mehr. Der Vater hat nach 1945 neben dem 30. September auch andere Geburtsdaten angegeben. Und die eigenen Erinnerungen, festgehalten im Alter von vierzig Jahren in dem wichtigen Rundfunkvortrag Mein Judentum, bleiben für die ersten Lebensjahre vage. Łódź, das „Manchester Polens“, war 1937 eine der modernsten Großstädte des Landes und zugleich die jüdischste. Von den 700.000 Einwohnern war ein Drittel Juden, die auch schon vor dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 tagtäglichem Antisemitismus begegneten, aber auch untereinander in teils heftige Konflikte gerieten, da hier die unterschiedlichen Strömungen des europäischen Judentums aufeinander stießen. Jureks nichtreligiöse Eltern versuchten ihr einziges Kind modern zu erziehen, also die Balance zu halten zwischen ihrem jüdischen und polnischen Lebensraum. Für ihn selbst war seine Geburtsstadt noch sieben Jahre vor seinem Tod „die unsichtbare Stadt“. Das verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass bereits zwei Wochen nach der Einnahme der Stadt die Ghettoisierung der Łódźer Juden begann. Die jetzt für den zweijährigen Jurek und seine Eltern Mieczysław und Anette einsetzende Lagerexistenz entzieht sich herkömmlichen Beurteilungskriterien. Es ist durchaus glaubhaft, wenn Becker im Judentum-Vortrag neben der überlebensnotwendigen Verdrängung auf den Umstand verweist, dass es „auch kaum etwas zum Erinnern gegeben haben“ wird. „Die Tage im Lager werden in grauer Ereignislosigkeit vergangen sein, begleitet von Begebenheiten, die nur für Erwachsene aufregend gewesen sein mögen – weil nur sie die Lebensbedrohung hinter allem erkannt haben –, für Kinder aber öde und ununterscheidbar.“ Gleichwohl wurde es für solche unter zehn Jahren gefährlich. Sie galten als unproduktiv. Der kleine Jurek musste arbeiten, auch um mitzuverdienen angesichts der Preise für Lebensmittel im Ghetto – ein Kilo Kartoffeln kostete z.B. zehn Mark. Er stopfte Zigaretten in einer engen, feuchten Behausung. Die Mutter war in einem der zahlreichen Büros für den Judenrat tätig, der Vater in der Textilindustrie, die jetzt der deutschen Kriegsführung und der „Heimatfront“ zu dienen hatte. Beide hatten im Übrigen, wie alle Juden im Ghetto, „jüdische“ Namen bekommen. Der Vater hieß nun Mordeha, die Mutter Chana. Der kleine Jurek behielt seinen polnischen Namen. Die Meldeliste des Ghettos führte ihn als Bekker, Jerzy, mit der Berufsbezeichnung „Kind“.

Bald setzten Deportationen ein, die sich gegen Kriegsende hin steigerten. 1944 wurden regelmäßig zehn bis zwanzigtausend Juden nach Kulmhof abtransportiert; letztmalig am 23. Juli. Danach kamen die Juden aus Litzmannstadt, wie Łódź seit dem 11. April 1940 hieß, nach Auschwitz zur Vergasung. Der sechsjährige Jurek wurde im Februar 1944 mit seiner Mutter ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gebracht, der Vater blieb als Arbeitskraft im Ghetto und wurde als einer der letzten nach Auschwitz deportiert. Nach dessen Räumung kam er nach Sachsenhausen. Hierhin verlegte die Rote Armee Anfang Mai 1945 etwa 300 Schwerkranke von Ravensbrück, darunter auch Anette und Jurek Bekker. Die Mutter starb an Unterernährung und wurde am 2. Juni 1945 (nur wenige Wochen nach der Befreiung des Lagers durch die Russen) auf dem Friedhof von Sachsenhausen begraben. Jurek Becker ist nie das Gefühl losgeworden, auf Kosten seiner Mutter überlebt zu haben. An sie selbst bleibt nicht einmal eine vage Erinnerung:„Ich weiß nicht, wie meine Mutter ausgesehen hat. Es existiert kein Foto von ihr, sie ist im Lager gestorben. (…) mein Vater hat gesagt, sie sei auffallend hübsch gewesen, natürlich.“

Nach seiner eigenen Befreiung suchte Mieczysław Bekker mit dem Mut der Verzweiflung nach seiner kleinen Familie. Mit Hilfe der American Jewish Joint Distribution Organization fand er seinen Sohn. Doch der Junge erkannte seinen ergrauten und ausgemergelten Vater nicht; und dieser selbst hatte Mühe, den für sein Alter zu kleinen und kaum gehfähigen Buben zu identifizieren. Jurek hatte überlebt; doch ein Gefühl der Geborgenheit stellte sich in der Folgezeit nicht ein. Vater und Sohn sprechen nie über das gemeinsame Leben im Ghetto und im Lager. Und ihr Dasein, in dem ein Jude nach der Shoah seinen Sohn allein aufzieht, wird sich künftig in der DDR abspielen, die gleichfalls über die Shoah schwieg.

Zumindest im Blick auf den künftigen Schriftsteller stellt sich jetzt die Frage nach seiner „Muttersprache“. Eindeutig ist sie nicht zu beantworten. War es Polnisch, das er vor allem als Kleinkind gesprochen hatte oder das oft von seinen Eltern gebrauchte Jiddisch, das auch im Ghetto gesprochen wurde? Oder die Lingua Franca der Lager, die zu beherrschen für die Lagerinsassen lebenswichtig war? Der Erwachsene sagt später, er habe 1945, als sein Vater ihn fand, Polnisch wie ein Vierjähriger und nicht wie ein Achtjähriger geredet. Deutsch lernt er jedenfalls erst von diesem Zeitpunkt an. Dabei entwickelt er den charakteristischen Ehrgeiz des Spätstarters, das Defizit so rasch wie möglich zu beheben. In einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold führt er noch 1990 seine spezifische Rede- und Schreibweise auf diese Umstände zurück: „Ich spreche aber und ich schreibe außerordentlich genau und präzise und korrekt, so als wollte ich heute noch zeigen, daß ich es kann.“

Die Entscheidung des Vaters, in Ost-Berlin zu leben, ist verständlich. Die Dankbarkeit für die Befreiung durch die Sowjetarmee hält nach Auskunft des Sohnes bis zu seinem Tod 1973 an. Aber auch die Erfahrungen mit dem polnischen Antisemitismus dürften eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls erzieht er Jurek loyal im sozialistischen Geist. Er war Junger Pionier, trat in die FDJ ein und nach dem Abitur in die SED. Freiwillig leistete er zwei Jahre Wehrdienst. Von 1957 an studierte er Philosophie an der Humboldt-Universität in der Annahme, dies sei die beste Grundlage für eine Schriftstellerexistenz. Doch bald gab es Schwierigkeiten mit der offiziellen Parteidoktrin, und Becker musste nach sechs Semestern die Universität verlassen. Seitdem wurde er von der Staatssicherheit überwacht. Der enge Kontakt zum Schauspieler und Sänger Manfred Krug begünstigte die Ausbildung zum Drehbuchautor im DDR-Filmzentrum Babelsberg. Am bekanntesten sind die Drehbücher zur ARD-Serie Liebling Kreuzberg, für die er zahlreiche Auszeichnungen erhielt (u.a. den Adolf-Grimme-Preis in Gold und Silber 1986/1988, den Tele-Star 1988 oder den Bayrischen Fernsehpreis 1990). Ferner schrieb er Texte für das Ostberliner Kabarett Die Distel oder satirische Vorlagen für die DEFA-Serie Stacheltiere. Prominent unter den DDR-Autoren aber wurde Becker durch den Erfolg seines Romans Jakob der Lügner. 1972 wurde er Mitglied des P.E.N.-Zentrums der DDR und 1973 Vorstandsmitglied im einflussreichen Berliner Bezirksverband des Schriftstellerverbands der DDR. Mit der Verfilmung von Jakob der Lügner 1974 festigte sich der Berühmtheitsgrad Beckers. Inzwischen hatten sich jedoch die Spannungen zu Partei und Regime verschärft. Vor allem den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in die Tschechoslowakei bezeichnet er selbst als „eine Art Zäsur“ in seinem Verhältnis zur DDR. Das Jahr 1976 führte den Bruch herbei. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann zählte Becker zu den ersten Unterzeichnern der bekannten Petition und wurde daraufhin aus der SED ausgeschlossen. Auch gegen den Ausschluss von Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband protestierte er im Herbst 1976. Im Jahr darauf verließ er selbst den Schriftstellerverband und im Dezember 1977 die DDR; letztlich weil sein Roman Schlaflose Tage, der die Turbulenzen um Biermann und den sich anschließenden Exodus der Schriftsteller thematisiert, nicht erscheinen durfte.

Von da an lebte er vorwiegend in Westberlin (Kreuzberg), versehen mit einem immer wieder verlängerten Reisevisum, das ihm den problemlosen Besuch seiner beiden Söhne aus erster Ehe gestattete (1990 bekam er mit seiner zweiten Ehefrau Christine einen dritten Sohn). Die neue Lebensform im Westen nutzte er zu zahlreichen Auslandsaufenthalten. Gastprofessuren führten ihn seit 1978 in die USA (Oberlin-College, Cornell University Ithaca, University of Texas Austin), an die Gesamthochschule Essen, die Universität Augsburg und 1989 an die Universität Frankfurt als Gastdozent für Poetik. Die drei hier gehaltenen Vorlesungen, veröffentlicht 1990 unter dem Titel Warnung vor dem Schriftsteller, zeigen u.a. sein differenziertes Verhältnis zur DDR wie zur Bundesrepublik. Nach wie vor verstand er sich als Sozialist. Die zahlreichen Diskussionen, zu denen er eingeladen wurde, und die Protestveranstaltungen, an denen er teilnahm, lassen daran keinen Zweifel aufkommen. Nach der Wiedervereinigung erzielte er mit den über 40 Drehbüchern für die ARD-Serie „Liebling Kreuzberg“, mit denen er von 1983 bis zu seinem Tod beschäftigt war, die größte Wirkung; mit anspruchsvoller Unterhaltung also. Am 14. März 1997 starb Jurek Becker, noch nicht sechzigjährig, in seinem Landhaus in Sieseby an den Folgen von Darmkrebs. Bei seiner Beisetzung auf dem dortigen Friedhof las Manfred Krug aus Jakob der Lügner.

Dies ist auch das Buch, das als bedeutender Text der deutschen Nachkriegsliteratur Bestand haben wird, wenngleich es durchaus Fragen aufwirft durch die Art seiner Präsentation der Geschichte von Jakob Heym. Dieser hört im deutschen Polizeirevier des Ghettos zufällig aus dem Radio den Nachrichtenschnipsel, die russische Armee habe die Deutschen bis „zwanzig Kilometer vor der Bezanika“ zurückgeschlagen. Um die Glaubwürdigkeit dieser Meldung zu unterstreichen, behauptet er, selber ein Radio zu besitzen, was selbstverständlich verboten ist. Doch diese Notlüge beschert ihm den fatalen Mechanismus, ständig neue Nachrichten erfinden zu müssen; denn sonst wären die Ghettobewohner„wieder ohne Hoffnung gewesen“. So aber machen sie Zukunftspläne, und die Selbstmordrate geht zurück. Als die Lügen seine Kräfte übersteigen, gesteht er seinem Freund Kowalski die Wahrheit; und der geht scheinbar ungerührt nach Hause und erhängt sich. Jakob wird klar, dass er weiterlügen muss. Doch schon am nächsten Tag werden die Ghettobewohner abtransportiert und damit dem sicheren Tod ausgeliefert. Das ist „das wirkliche und einfallslose Ende“ meint der Erzähler der Geschichte Jakobs; selbst eine fiktive Figur, also ein erzählter Erzähler. Er bietet einen anderen Ausgang an:„Unvergleichlich gelungener als das wirkliche Ende“! Jakob kommt bei einem Fluchtversuch ums Leben, und die einrückende Rote Armee rächt ihn. Weshalb zwei Schlüsse? Der Erzähler gibt salopp vor, um „alle beide loszuwerden“. Sind dieser Ton und der spielerische Umgang mit den Leiden der Juden dieser Tragödie angemessen? So könnte man im Blick auf den ganzen Roman fragen, dem durchaus ein ironischer Grundton eignet. Das hängt gewiss mit Beckers Abneigung gegen pathetisch-rührselige Anwandlungen zusammen: „Ich hasse Sentimentalitäten, diese Verstandestrübungen, ich würde gern alle Löcher zustopfen, aus denen sie kriechen könnten.“ Der tiefer gehende Grund dürfte aber gerade in der Unfassbarkeit der Shoah liegen. Um von ihr nicht erdrückt zu werden, ist das komische Ventil unerlässlich. Diese anthropologische Grundeinsicht war den alten Griechen wohlvertraut: in ihrer Festspielpraxis folgte auf die Tragödie das Satyrspiel.

Die Spurensuche nach dem „alles entscheidenden Stück seines Lebens“ setzt sich 1976 mit dem Roman Der Boxer fort, zehn Jahre später kommt Bronsteins Kinder hinzu. Es spricht nichts dagegen, diese drei Romane als eine Art Trilogie zu betrachten, auch wenn Becker sie nicht so bezeichnet. Denn in allen geht es um die Schwierigkeit, Jude zu sein. Zum Juden tritt der Sozialist, im Werk wie im Leben. So handeln Irreführung der Behörden (1973) und Schlaflose Tage (1978) von der Problematik, Sozialist zu sein. Letztere bereitet ihm nicht annähernd so viel Kopfzerbrechen wie die Fragen, die mit seinem Judentum zusammenhängen. Auch die beiden letzten, in großen Abständen erschienenen Romane Aller Welt Freund (1982) und Amanda herzlos (1992) haben mit der Herkunft aus der DDR zu tun. Der erste versucht mit kräftig schwarzem Humor die resignativen Züge aufzufangen, der letzte eher mit Witz.

Autobiographien oder autobiographische Romane sind sie alle nicht. Sie hätten zwar ohne die Erfahrungen des Juden und Sozialisten Becker schwerlich geschrieben werden können, ihre Intention aber ist auf die schwierigeren und spannenderen Fragen hinter dem Faktischen ausgerichtet.

Werke: Jakob der Lügner, Neuwied 1970 (SL1). – Irreführung der Behörden. Roman, Frankfurt/M. 1973. – Der Boxer. Roman, Frankfurt/M. 1976. – Schlaflose Tage. Roman, Frankfurt/M. 1978. – Nach der ersten Zukunft. Erzählungen, Frankfurt/M. 1980. – Aller Welt Freund. Roman, Frankfurt/M. 1982. – Bronsteins Kinder. Roman, Frankfurt/M. 1986. – Amanda herzlos. Roman, Frankfurt/M. 1992. – Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt, Frankfurt/M. 1990 (=es1601). – Wir sind auch nur ein Volk. Drehbücher der Folgen 1 bis 3. Die Serie zur Einheit. Der erste Arbeitstag. Der Rest der Familie, Frankfurt/M. 1994 (=st 2354). – Wir sind auch nur ein Volk. Drehbücher der Folgen 4 bis 6. Der empfindliche Bruder. Stasi für Anfänger. Der zweite Sekretär, Frankfurt/M. 1995 (=st 2355). – Wir sind auch nur ein Volk. Drehbücher der Folgen 7 bis 9. Die Westparty. Streik und andere Scherereien. Der kurze Abschied, Frankfurt/M. 1995 (=st 2356). – Ende des Größenwahns. Aufsätze, Vorträge, Frankfurt/M. 1996.

Lit.: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Jurek Becker. text + kritik 116, München 1992. – Sander L. Gilman: Jurek Becker. Die Biographie. Aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt, München 2002.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen.

Walter Dimter