Wernher von Braun war ein nahezu genialer Techniker und Organisator, dessen Lebensweg eng mit der Entwicklung der Rakete als Antriebsaggregat für Flugkörper und mit der Weltraumfahrt verbunden war. Er war nicht nur selber ein kenntnisreicher und fleißiger Arbeiter, sondern auch einer der ersten, der es verstand, wissenschaftliche und technische Großprojekte in „Teamarbeit“ zu fördern. Sein Ansehen und seine Beliebtheit – vor allem nach dem erfolgreichen Mondlandeprojekt der USA – war überaus groß.
Die Familie von Braun war in Ostpreußen begütert und stammte aus altem schlesischen Adel. Der Vater, Magnus Freiherr von Braun, kam im Frühjahr 1911 als kommissarischer Landrat in den Kreis Wirsitz, einen der fruchtbarsten Kreise des damaligen deutschen Ostens. Wirsitz gehörte von 1772 bis 1807 und wieder von 1939 bis 1945 zur Provinz Westpreußen, in der übrigen Zeit zum Regierungsbezirk Bromberg in der preußischen Provinz Posen. Im Landratsamt von Wirsitz wurde Wernher von Braun geboren. Der Vater verließ bereits 1915 Wirsitz wieder und wurde später Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft in Berlin.
Wernher von Braun besuchte ab 1922 als Sextaner das Französische Gymnasium in Berlin. Seine Vorliebe für Naturwissenschaften mag sich schon beim Spiel mit Feuerwerksraketen im Tiergarten und später bei astronomischen Beobachtungen gezeigt haben, seine schulischen Leistungen besserten sich jedoch erst, nachdem er Oberths berühmtes Buch „Die Rakete zu den Planetenräumen“ zu lesen versucht und die Hermann-Lietz-Schule in Ettersburg bei Weimar besucht hatte. Die Oberstufe dieser Schule, seit 1928 auf der Nordseeinsel Spiekeroog, verließ er mit bestem Erfolg.
Nach dem Abitur begann er mit 18 Jahren eine Lehre bei der Firma Borsig in Berlin und noch im gleichen Jahr sein Studium an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Schon 1928 lernte er Hermann Oberth, den „Vater der Weltraumfahrt“, aus Mediasch in Siebenbürgen persönlich kennen, als dieser in Berlin für den Stummfilm der UFA von Fritz Lang „Die Frau im Mond“ gemeinsam mit anderen begeisterten Raketenanhängern (wie Rudolf Nebel und Klaus Riedel) eine Film- und eine Reklamerakete bauen sollte. Seit dieser Zeit ließ Wernher von Braun die Begeisterung für Raketen als Antrieb für die Weltraumfahrt nicht mehr los. Er trat in den „Verein für Raumschiffahrt“ ein und experimentierte unter dessen Leiter RudolfNebel mit Flüssigkeitsraketen auf einem ehemaligen Armeeschießplatz, der etwas großspurig „Raketenflugplatz Berlin“ genannt wurde. Das Sommersemester 1931 belegte er an der TH Zürich; ein Jahr später machte er seinen Abschluß als Diplomingenieur in Berlin.
Zum 1. Oktober 1932 erhielt er einen Angestelltenvertrag bei Dr. W. Dornberger im Heereswaffenamt. Diese Dienststelle war an der Entwicklung von Raketen sehr interessiert, weil deren Einsatz als Waffe im Versailler Vertrag noch nicht vorausgesehen und deshalb nicht verboten worden war. Nun standen für die Experimente größere finanzielle Mittel und für die größere Flugweite der Raketen die Heeresversuchsstelle Kummersdorf in der Mark Brandenburg zur Verfügung. Im Jahre 1934 promovierte Wernher von Braun mit dem zunächst geheim gehaltenen Thema: „Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zum Problem der Flüssigkeitsrakete“ an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin.
Trotz immer wieder auftretender erheblicher Rückschläge gelang die Entwicklung doch so weit, daß wegen der Flugweite der Raketen Kummersdorf zu klein wurde. Nach wohlüberlegter Suche wurde im April 1936 ein Gelände im Norden der Insel Usedom angekauft, das zumindest zwei notwendige Voraussetzungen erfüllte: es war genügend groß und lag weit abseits des allgemeinen Interesses, so daß die gewünschte Geheimhaltung der Experimente gewährleistet erschien. Hier wurden sämtliche Einrichtungen, wie Werkstätten und Labore, Abschußrampen, Unterkünfte für Wissenschaftler und Arbeiter und der größte Windkanal der Welt, nach modernen Gesichtspunkten, neu geschaffen. Wernher von Braun wurde mit gerade 25 Jahren der Technische Leiter dieser „Raketenversuchsstation Peenemünde“. Das Intrigenspiel zwischen den verschiedenen Dienststellen der Wehrmacht und der Partei sowie der Materialmangel während der Kriegszeit gestatteten nur einen langsamen Fortgang der Arbeit, doch gelang nach zahlreichen mißlungenen Versuchen der in Peenemünde sehnlichst erwartete Start der ersten Großrakete der Welt, der Flüssigkeitsrakete A 4, am 3. Oktober 1942. Sie war 14 m lang, hatte fast 13 t Startgewicht, erreichte gut 90 km Höhe und versank nach 5 Minuten Flugzeit mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit 192 km östlich von Peenemünde in der Ostsee. Dornbergers Kommentar dazu: „Heute wurde das Raumschiff geboren“ läßt auch die Nachgeborenen ahnen, welche schwierige Gradwanderung und welche Gewissensnöte den führenden Männern von Peenemünde zwischen ihrer Zugehörigkeit zur Partei, der Produktion einer Waffe und ihrem Wunsch, eine Rakete für die Weltraumfahrt zu entwickeln, auferlegt waren. Der Zusammenhalt der Peenemünder Mitarbeiter wurde sprichwörtlich. Im März 1944 wurde von Braun sogar eine Zeitlang von der Gestapo inhaftiert.
Im Juli 1943 wurde von Braun von Hitler, der einem Einsatz von Raketen als Waffe zunächst skeptisch gegenüber stand, zum Professor ernannt. Am 16. August des gleichen Jahres flog die englische Luftwaffe, deren Spionagegruppen die Aktivitäten in Peenemünde schließlich erkannt hatten, einen verheerenden Angriff auf Peenemünde. Noch heute sind im Nordteil Usedoms, das mit seiner Erinnerungsstätte an die „Heeresversuchsanstalt Peenemünde“ einen Besuch durchaus wert ist, weite Flächen wegen der dort liegenden Blindgänger aus dem Jahre 1943 unzugänglich. Doch waren die Zerstörungen der wertvollen Experimentalanlagen nicht so stark wie die der Unterkünfte der Mitarbeiter, vor allem der Barackenlager der dort tätigen Kriegsgefangenen; zahlreiche Menschen fanden den Tod. Die Forschung und die Produktion in unterirdischen Stollen im Harz ging unter Einsatz von KZ-Häftlingen weiter, so daß am 6. September 1944 die erste A 4 als V 2 (Vergeltungswaffe 2) auf London abgeschossen wurde. Wegen der großen Geschwindigkeit der V 2 gab es keine Möglichkeit zur Abwehr.
Mit dem Vorrücken der sowjetischen Armeen wurden Menschen und Material aus Peenemünde evakuiert – Wernher von Braun ergab sich mit zahlreichen Mitarbeitern schließlich in Sonthofen den Amerikanern, die fast die gesamte Gruppe in den Süden der USA transportierten, wo sie weiter an der Raketenentwicklung arbeiteten. Eine andere Gruppe der Mitarbeiter unter Gröttrup und Peenemünde eroberten die Sowjets, die alles Forschungsmaterial auf langen Eisenbahnzügen in das Innere der Sowjetunion überführten. Dort mußten diese Peenemünder ebenfalls weiter Raketen fortentwickeln.
Wernher von Braun heiratete im März 1947 seine Cousine Maria von Quistorp und wurde 1955 amerikanischer Staatsbürger. Der schwierige Weg zwischen den rivalisierenden Gruppen der amerikanischen Wehrmacht und die immer größeren finanziellen Aufwendungen behinderten die Fortschritte der amerikanischen Raketenentwicklung, so daß erst der Schock durch den erfolgreichen Start des sowjetischen Sputnik am 4. Oktober 1957 Wernher von Braun die Chance gab, seine Talente und seine Arbeitskraft voll einzusetzen. Am 30. Januar 1958 startete seine Gruppe den Explorer I, den ersten künstlichen Erdsatelliten der USA. Noch im gleichen Jahr wurde die NASA gegründet und von Braun zum Direktor des George C. Marshall Space Flight Center ernannt. Nun konnte er seine bekannten Saturn-Raketen, die Mercury-, Gemini- und Apolloprojekte verwirklichen. Am 20. Juli 1969 landeten endlich die beiden ersten Menschen mit der amerikanischen Apollo XI auf dem Mond – ein Jugendtraum von Wernher von Braun hatte sich erfüllt, auch wenn er selber auf der Erde zurückbleiben mußte.
Seine weiteren Pläne und Visionen, insbesondere der Flug zum Mars, konnten nicht mehr angegangen werden, und enttäuscht verließ von Braun 1972 die NASA. Er ging in die Privatwirtschaft und Ende 1976 in den Ruhestand. Am 16. Juni 1977 starb er in Alexandria (Virginia) an Magenkrebs. Zahlreiche Ehrungen hat er erfahren, darunter auch das Bundesverdienstkreuz, mindestens zwölf Mal die Würde eines Ehrendoktors und 1966 den Westpreußischen Kulturpreis der Landsmannschaft Westpreußen. Wie Cyrano de Bergerac, Hermann Ganswindt, Konstantin Ziolkowski, Hermann Oberth, Robert Goddard, Max Valier und Fritz von Opel gehört Wernher von Braun aus Wirsitz zu den ganz großen Forschern für den Raketenantrieb und die Weltraumfahrt; vielleicht ist er der bedeutendste von allen.
Lit.: Irmgard Gröttrup: Die Besessenen und die Mächtigen. Im Schatten der roten Rakete, Hamburg 1958. – Bernd Ruland: Wernher von Braun. Mein Leben für die Raumfahrt, Offenburg 1969. – Walter Dornberger: Peenemünde. Die Geschichte der V-Waffen, Eßlingen 1981. – Hans-Jürgen Schuch: Wernher von Braun, in: Ostdeutsche Gedenktage 1987. Hg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1986. – Rainer Eisfeld: Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Paperback, 2012. – Ulli Kulke: Weltraumstürmer. Wernher von Braun und der Wettlauf zum Mond. Berlin 2012.
Werke: Wernher von Braun: Dank den Westpreußen, in: Westpreußen-Jahrbuch Band 17, Münster 1967. – Wernher von Braun: Aufgaben und Nutzen der Weltraumfahrt, in: Westpreußen-Jahrbuch Band 18, Münster 1968.
Bild: Archiv des Verfassers.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Wernher_von_Braun
Hans-Jürgen Kämpfert