Biographie

Brock, Bazon (Jürgen Herrmann)

Herkunft: Pommern
Beruf: Künstler, Kunsttheoretiker
* 2. Juni 1936 in Stolp/Pommern

1936 wurde Bazon Brock in Stolp Pommern geboren; 1949 bis 1956 besuchte er in Itzehoe Schleswig/Holstein das dortige Kaiser Karl Gymnasium. Vorausgegangen waren die Flucht aus Pommern und zweijährige Internierung in Dänemark. 1957 legte er das Abitur ab, in den Jahren 1957-1965 studierte er unter anderem in Hamburg, Frankfurt und Zürich. Den „wesentlichen Einfluß“ Theodor W. Adornos auf sein Denken hat er immer wieder betont. Während des Studiums durchlief er eine Dramaturgieausbildung bei Sellner am Landestheater Darmstadt und war von 1960-1961 unter Gnekow 1. Dramaturg am Stadttheater in Luzern. Seit 1959 datieren die ersten Happenings, die ihn unter anderem mit Hundertwasser, Beuys und Nam June Paik in Verbindung bringen. 1965 bis 1978 war Brock Professor für nichtnormative Ästhetik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1978 bis 1981 für Gestaltungslehre an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Sommersemester 2001 für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität in Wuppertal. Seit 1968 ist sein Name durch die Einrichtung von Besucherschulen eng mit den Kasseler Documenta-Ausstellung verbunden, und seit 1959 absolvierte er ca. 1600 der für ihn kennzeichnenden „Action Teachings“, unter anderem in den USA, in Japan und in fast allen Staaten Europas. Während der siebziger Jahre war Brock intensiv am Aufbau des internationalen Designzentrums in Berlin beteiligt, mit dem Schwerpunkt von Ausstellungen und Kongressen zur Ästhetik in der Alltagswelt. Seit den neunziger Jahren wendet er sich zentral dem Problemzusammenhang von Krieg und Ästhetik zu; er fragt, im Kontext seiner „Forscher-Familie bildende Wissenschaft“, die er selbst, in Anspielung auf Einrichtungen des 18. Jahrhunderts als „Fruchtbringende Gesellschaft“ verstanden wissen will, warum bisherige Strategien der Konfliktbewältigung so wenig erfolgreich waren und ins Leere liefen. Als heutigen Arbeitsschwerpunkt gibt Brock die Neuronale Ästhetik und die Imaging Sciences an, deren Ziel es ebenfalls ist, auf eine „Zivilisierung der Kulturen“ hinzuarbeiten. Brock ist ein, nach eigenem Zeugnis, stets sich selbst und andere überfordernder, dabei ungemein erfolgreicher akademischer Lehrer gewesen, von dessen Assistenten, Promovenden und Habilitanden aus den Jahren 1980 bis 1995 heute mehr als 22 als Universitätsprofessoren oder in leitender Position im Kulturmanagement tätig sind, als Museumsdirektoren, Agenturchefs, Ausstellungsmacher.

Hinter diesen äußeren Fakten verbirgt sich eine vielschichtige Selbstinszenierung. Der Name Bazon Brock ist persona (Maske) einer lebenslangen Alltagsinszenierung des Lebens als eines Kunstwerks, die nur verständlich wird, wenn man hinter Bazon (griechisch: der starke Redner, aber auch „der Schwätzer“) den Menschen Jürgen Herrmann Brock (so der bürgerliche Name) erkennt; grundguter Bürger nach eigenem Urteil und stets zu väterlichem Rat und zu Vertrauensvorschüssen gestimmt, ungeachtet vielfacher Enttäuschungen. Als Grunderfahrung Jürgen Herrmanns hat Brock die Kriegswirrnisse und damit verbundene Traumata, darunter die Erschießung des Vaters, die Vertreibung, den Hunger- und Erschöpfungstod zweier jüngerer Geschwister während Lagerhaft und Flucht namhaft gemacht. Er erklärt, daß ihn die Plagegeister der Geschichte bis heute verfolgen; und Bazon Brock sieht Jürgen, sein „alter ego“, sogar als „Verkörperung eines deutschen Schicksals“. Allerdings nimmt er sich für seinen siebzigsten Geburtstag, den Tag des Übergangs in ein Lebensalter „furchtloser Hoffnung“, vor, sich „in einem rituellen Akt dieser Plagegeister“ durch Austreibung (Gorgonisierung) zu entledigen. Wie man hört, soll dies geschehen, indem er die potentiellen Grabbeigaben seiner Generation sammelt und präsentiert.

Die Maske des „großen Redners“ hat den Zweck, als „Beobachter zweiter Ordnung“ und – paradoxerweise – als Dandy im 20. Jahrhundert aufzutreten und aus der „Täterperspektive“ einer Tyrannei gegenüber der Welt und gegenüber sich selbst die Strukturen des Willens zur Macht inszenatorisch zu zeigen. Man verfehlt wohl Brocks Intention nicht, wenn man auf Thomas Manns auf Nietzsche gemünzten Vergleich des Dandys mit dem Märtyrer hinweist. Dabei eignet der Person Bazon Brock in hohem Grade ein elitäres Selbstverständnis, so daß sie auf dem Weg zur Findung der Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins soziale Begegnungen als Akte des Krieges versteht. Die hoch bewußte Doppelsinnigkeit dieser Existenz zeigt sich in unterschiedlichen Facetten: wenn Brock sich in der Scientific community als Künstler, bei den Künstlern aber als Wissenschaftler versteht und geriert und seine Abneigung in einer „Affektkumulation“ gegen unterschiedlichste, teils einander entgegengesetzte Tendenzen kultiviert: „gegen das Geniegeraune der Künstler und Kulturprofis, gegen die Selbstverwirklichungs-, Individualitäts- und Selbstmarginalisierungstendenzen von Subkulturbewegungen und gegen die von naivem Friedenspathos vernebelten Geister der multikurkulturellen Gesellschaft.“

In seinen frühen Performances verstand sich Brock als „Beweger“, „als Gelegenheitsmacher und einer der ersten Dichter ohne Literatur“, dem es, wie manchem anderen Zeitgenossen auch, um die Umformung des Lebens in Kunstwerke oder doch zumindest Kunstereignisse ging: hierher gehört es, daß er 1961 ein Institut für Gerüchteverbreitung begründet und im selben Jahr eine neuartige Maschine, den „Säkularisator“ erfindet. Ästhetik begreift Brock nicht als eigenständige Disziplin, sondern als „Vermittlung von Verhaltensweisen zur Bewältigung der gesellschaftlichen Praxis“. Dabei firmiert Ästhetik als Lehre von der Bedingtheit unserer Wahrnehmungen, die in die Lage setzen soll, sich „aus bloßem mechanischen oder zwanghaften Produzieren“ zu lösen. Zwar erweisen sich aus der Sicht von Brock die klassischen Ästhetiken als nicht mehr funktionstüchtig, insofern sie auf eine „gute Form“, den ideenhaften Stilbegriff des Schönen als umfassende Norm für die Gestaltung von Objekten aller Art verweisen. Dieser Horizont kam mit dem Bauhaus an sein Ende. Das Kant maßgeblich beschäftigende Urteil: „Das ist schön“ behält indes für Brock seine Bedeutsamkeit, da es für denjenigen, der es fällt, zu verstehen gibt, „daß der Gegenstand seines Urteils (eine Objektfiguration seiner Lebensumgebung) von ihm als Auslöser der Externalisierung“, also einer Wiederholung der künstlerischen Weltgestaltung in der Lebenswelt, verstanden werden kann.

Bazon Brock ist, wie es bei der skizzierten Auffassung gar nicht anders sein kann, ein brillanter Selbstdarsteller, der sich gleichermaßen souverän unterschiedlichster Medien bedient: neben dem Theorietext, der Videodokumentation, des Fernseh- und Hörspiels, nicht zuletzt auch des Internets und der Ausstellungen; besonders hervorgehoben sei die in 18 Städten gezeigte Ausstellung „Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer“ (seit 1994) und „Die Macht des Alters. Strategien der Meisterschaft“ (Berlin, Bonn, Stuttgart 1998/99). Nicht zu vergessen ist, daß er seit 1997 höchst erfolgreich als Moderator der auf dem Programm 3sat gezeigten Serie „Bilderstreit“ fungiert. Die stark performanzorientierte Grundtendenz von Brocks Kunst ließ clownesk paradoxale Züge in seinen Aktionen und Action Teachings nicht ausbleiben. Hierhin gehört die Propaganda zur Abschaffung des Todes, dieser „verdammte[n] Schweinerei“, die Brock selbst konterkariert, wenn er nach eigenem Zeugnis dort „mit äußerster Radikalität“ einschreitet, „wo es jemandem gelungen ist, sich mittels der Kosmetik von der natürlichen Determiniertheit“ des Alterns zu befreien.

Über solchen Momenten sollte die zutiefst humane und subtile Philosophie am Grund seiner Unternehmungen nicht verkannt werden. Der Ernstfall ist für Brock eine zentrale Kategorie; anders als für Carl Schmitt freilich oder in seiner Generation für Karl Heinz Bohrer resultiert daraus bei Brock keine Wünschbarkeit der äußersten Sphäre oder der Ästhetik des Schreckens. Das Alltägliche versteht er, ähnlich wie der spätere Peter Handke, als die eigentliche Sensation. Und ähnlich wie der späte Heidegger spricht Brock von einer Kunst der Unterlassung. Dieser „Heroismus des Nicht-Tuns“, das „Pathos der Prätentionslosigkeit“ resultiert zentral aus der eigenen Biographie. „Wer die Erfahrungen meiner Generation gemacht und selber miterlebt hat, wie wenig selbstverständlich das Selbstverständliche ist, der wird sein Leben lang nur damit beschäftigt sein, sich selber zu fesseln und alle […] unter der Dimension des bösen angesprochenen Aspekte in sich selbst unter Kontrolle zu halten“. Zur Inkunabel der Selbstentfesselung in den Ernstfall wird für Brock die Gestalt des Barbaren. Die Insistenz auf eigener kultureller Identität habe, wie Brock schon während der achtziger Jahre notierte und wie es sich erst recht in den Bürgerkriegen der Dekade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bewahrheiten sollte, „in vielen Ländern die aufeinander angewiesenen Gruppen ihrer Lebenschancen […] im größeren Umfang [beraubt] als es die Zumutung der bisherigen Unterordnung unter monokulturelle Strukturen erzwang.“ Umgekehrt ist aber die viel beschworene Multikultur keine Lösung, sondern nur ein Name, eine Phrase. Als entscheidende Frage und Postulat der Gegenwart hat Brock eine „Kultur diesseits des Ernstfalles“ festgehalten, in der die Beziehungen zwischen Menschen, Sozialitäten und Kulturen ohne Gewaltandrohung verbindlich werden könnten. Damit verbindet sich der Blick auf „die Geschichte des Scheiterns“; „die Tradition der Geschlagenen zu pflegen. Geschichten des Versagens zu erzählen“: eben dies projektiert Brock immer wieder. Denn „Opfer sind ja die, von denen man nicht spricht“.

Dabei wäre Brock vollkommen mißverstanden, wenn man ihn als Modetheoretiker begriffe, der verschiedenen, rasch wechselnden Trends hinterher jagt in der Betriebsamkeit zwischen Avantgardes und Arrièregardes. Er ist vielmehr von der Bedeutung des Anfangs, des Primären in Kunst und Leben fasziniert, in diesem Punkt Botho Strauß oder George Steiner vergleichbar. Den Anfang begreift er in einem denkwürdigen Text als „das metaphysische Alter des Kunstwerks par excellence“: Es ist kein Anfang, der auf einen linearen Fortschritt zielte, sondern einer, der sich jählings mit dem Ende zusammenschließt. Mit Rudolf Borchardt weiß Brock, daß Dichtung, man könnte weitergehend sagen: Kunst „nicht als Form (nicht als Ergebnis jeweils geleisteter Welt), aber als Tendenz unsterblich“ ist.

Bazon Brock ist also in mehrfachem Sinne Zeitgenosse. Er hat dabei nicht wenige Spuren hinterlassen, die diese Zeit überdauern dürften.

Werke: I. Schriften von B. Brock: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Ostfildern 1977. – Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986, Ostfildern 1986. – Die Macht des Alters. Katalog zur Ausstelluung. Köln 1998. – Die Re-Dekade: Kunst und Kultur der 80er Jahre, München 1990. – Lock-Buch. Bazon Brock, ‚Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken‘, Ostfildern 2000. – Der Barbar als Kulturheld, Köln 2002. – Video-Dokumentation: Ästhetik als Metatheorie. Eine Einführung in die Denkwelt des KünstlerPhilosophen und GeistTäters.

Lit.: Nicole Stratmann, Der Selbstfesselungskünstler – Bazon Brock. Einführung in eine Ästhetik des Unterlassens, Weimar 1995. – Heiner Mühlmann, Kunst und Krieg. Das säuische Behagen in der Kunst. Über Bazon Brock, Köln 1998. – Martin Heller/Hans Ulrich Reck (Hrsg.), BB. Ästhetik nach der Aktualität des Ästhetischen. Ein Symposium zur Perspektive der Kulturentwicklung, Zürich 1998. – Cordula Walter-Bolhöfer (Interview), Bettina Wolf (Fotografien): Bazon Brock. Künstler, Kämpfer, Kritiker. ars momentum Kunstverlag, Witten 2007.

Bild: Lock-Buch. Bazon Brock, ‚Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken‘, wie oben, ohne Seitenzählung.

Weblinks: https://de.wikipedia.org/wiki/Bazon_Brock; https://www.bazonbrock.de/

Harald Seubert