Biographie

Merker, Paul

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Beruf: Germanist
* 24. April 1881 in Dresden
† 25. Februar 1945 in Stolpen bei Dresden

Paul Merker studierte in Leipzig Klassische Philologie und Sanskrit, Deutsche Philologie und Literaturgeschichte sowie die Rechte. Seine Lehrer waren nach der altgermanischen Seite hin Eduard Sievers und E. Mogk und nach der neugermanischen Albert Köster und G. Witkowski. In der von Köster herausgegebenen Reihe Probefahrten, die der Publikation von Erstlingsarbeiten aus dem Deutschen Seminar in Leipzig diente, erschien die germanistische Dissertation Merkers Studien zur neuhochdeutschen Legendendichtung. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteslebens. (Leipzig 1906). Als Jura-Doktorand verband er die Behandlung rechtswissenschaftlicher Probleme mit Fragen der altnordischen Philologie. Das Thema seiner juristischen Dissertation lautete: Strafrecht altisländischen Gragas. Seit 1917 war er Extraordinarius in Leipzig, 1921 erhielt er eine ordentliche Professur an der Greifswalder Universität. Dort bot er in einem Kollegturnus, der drei Jahre dauerte, einen Überblick über die gesamte deutsche Literatur ab 1500. Merker interessierte sich auch sehr stark für die neueren und neuesten Autoren, insbesondere im Bereich der nordischen Literaturen, die er in 1-2stündigen Vorlesungen behandelte. Er baute in Greifswald das Nordische Institut auf, pflegte in zahlreichen Vortragsreisen Kontakte zu den nordischen Ländern, begründete eine Zeitschrift und eine Publikationsreihe des Nordischen Instituts. Auch als Breslauer Ordinarius betonte er stets die Wichtigkeit der nordischen Studien, was in seinen Bemühungen um das schwedische Lektorat an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität sichtbar wurde.

In Greifswald festigte Merker seine Freundschaft mit dem Germanisten Wolfgang Stammler, den er 1912 im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar kennengelernt hatte. Mit ihm hat er bis zum Ende seines Lebens an verschiedenen Projekten gearbeitet: am Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 4. Bd. 1925/6-1931; (2. Ausgabe 1958 ff: Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr) und (von 1926 bis 1945 mit Stammler als Mitherausgeber) an der bedeutendenZeitschrift für deutsche Philologie. Dort führte er ein Verzeichnis aller in Deutschland erschienenen Dissertationen ein und schuf damit eine der Grundlagen für die künftige Wissenschaftsgeschichte, an der er selbst zunehmendes Interesse gewann. 1924 erschien im Breslauer Verlag Ferdinand Hirt ein populärer Abriß der Deutschen Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart von Wolfgang Stammler in der Reihe Jedermanns Bücherei; Paul Merker gab die Abteilung "Literaturgeschichte" heraus. Enge Freundschaft verband ihn auch mit Gustav Ehrismann, in dessen Greifswalder Hause er eine zeitlang wohnte. Mit Stammler gab er die Ehrismann-FestgabeVom Werden des deutschen Geistes (Berlin und Leipzig, 1925) heraus.

Die Zeit bis zur Breslauer Berufung hat Merkers wissenschaftliches Profil geprägt. Er verlangte eine konsequente Erforschung der deutschen neulateinischen Dichtung des Humanismus, eine stärkere Zuwendung zu den nordistischen Studien, eine sozio-genetische Methode der Literaturforschung, die sowohl den Rezipienten als auch die modernen geistigen Strömungen in bezug auf die Erschließung der literarischen Traditionen berücksichtigte. Er stand auf dem Standpunkt einer strikten Wissenschaftlichkeit, was seine Murner-Edition (1918) unter Beweis stellte. Ziemlich kritisch beurteilte er die feuilletonistische Germanistik ideengeschichtlicher Provenienz und verlangte zugleich die Bewahrung einer zeitllichen Distanz bei den Studien zur neueren Literatur. In den Anfängen des Breslauer Ordinariats wandte er sich jedoch in zunehmendem Maße der modernen Literatur zu, indem er sich als Germanist im Geiste der "Neuen Sachlichkeit" verstand.

Am 1. April 1928 wurde Merker auf den Lehrstuhl für neue deutsche Sprache und Literatur an das Germanistische Seminar der Universität Breslau berufen. Er mußte in der Entstehungsphase des Deutschen Instituts (offiziell gegründet 1929) vor einem großen Kreis von 300 Studenten tätig wirken. Sein Kollege und zweiter Direktor des Deutschen Instituts war der 1929 aus Königsberg berufene Vertreter der alten Germanistik Friedrich Ranke. Zusammen mit ihm (sowie mit anderen Kollegen, vor allem dem zwar zum 1. Oktover 1929 emeritierten, aber weiterhin aktiven Theodor Siebs) konnte er ein modernes germanistisches Institut aufbauen, das zu den wichtigsten und angesehensten in Deutschland gehörte. Besonders wichtig in der ersten Phase seiner Breslauer Tätigkeit waren Vortragsreisen und Gastprofessuren an den amerikanischen Universitäten (1931 Columbia-Universität in New York, Vortragsreisen in Amerika, unter anderem nach Chicago); in den nächsten zwei Jahren hielt Merker Vorträge in Oxford und Cambridge, fuhr er nach Abo und Helsinki und wurde Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest. Merker trug vor allem über die neuere Literatur (Neue Sachlichkeit, Expressionismus) vor und knüpfte zahlreiche Bekanntschaften an; amerikanische Studenten arbeiteten nicht nur als Humboldt-Stipendiaten in Breslau; sie waren mit der Familie Merker eng befreundet. Eine wesentliche Unterstützung fand Merker in seiner Frau Erna, (geboren 1887), die auch promovierte Germanistin war (in der Reclam-ReiheDichter-Biographien gab sie 1918 eine inhaltsreiche Kleinmonographie über Christoph Martin Wieland heraus) und seine wissenschaftlichen Projekte mit warmer Anteilnahme begleitete.

Hatte sich Merker in Greifswald intensiv den Problemen der Nordistik zugewandt, so trat er in seiner Breslauer Zeit mit den Strömungen der Geisteskultur Schlesiens in Verbindung. Besonders nachhaltig war sein Interesse für die sogenannte lebensbejahende Dichtung der Zeit um die Jahrhundertwende; in diesem Bereich konnte er einige bis heute grundlegende Arbeiten anregen. Daraus (und aus den "liberalen" Sympathien) entstand die Bekanntschaft und dann hochachtungsvolle Freundschaft mit Gerhart Hauptmann. Merker betreute die Hauptmann-Studien Felix A. Vogts, äußerte sich zum Schaffen Hauptmanns sowohl 1932 in den Schlesischen Monatsheften als auch 1942 in dem Festakt und in der Festgabe des Deutschen Instituts zum 80. Geburtstag des Dichters. Sein Interesse an der schlesischen Dichtung äußerte sich auch in den Kontakten mit den Autoren, die er nach Breslau einlud (er veranstaltete Abende im Hotel "Monopol" mit Hans Carossa, Bruno Brehm und E.G. Kolbenheyer) oder als angehende Germanisten betreute (Hanns Gottschalk und Wolfgang Schwarz); enge Freundschaft verband die Familie Merker auch mit Werner Steinberg. Merker regte viele Dissertationen zu den schlesischen Themen an; auch die von ihm betreute Habilitation Wolfgang Baumgarts Die Preußische Wendung der schlesischen Literaturgeschichte (1944) geht auf dieses Interesse zurück. Er war Autor eines in den Evakuierungswirren verschollenen Vortrages über Hermann Stehr und eines Überblickes über die schlesische Dichtung, den er in der Reihe Heimat Schöpferischen Geistes. Schlesische Monographien1943 veröffentlichte.

In einem noch nicht publizierten Brief an Gerhart Hauptmann zum Neujahr 1944 schrieb Merker über diesen Aufsatz: "Wenn ich mir erlaube, in Ihr winterstilles Agnetendorfer Tusculum einzudringen, wo noch immer beglückend rege poetische Geisterchen an der Vollendung Ihres großen Lebenswerkes tätig sind und in diese grosse Welt lebensweiser und von den Ahnungen mystischer Daseinsgeheimnisse umwitterten Dichterphantsie ein nüchternes Werkchen wissenschaftlicher Arbeit hineinzureichen, so tue ich dies keinesfalls, weil ich etwa diesen knappen, auf Anregung des Herausgebers dieser Schlesischen Monographien geschriebenen Überblick über die Entwicklung der schlesischen Dichtungsgeschichte für eine besonders wertvolle Leistung hielte. Das Ganze ist vielmehr ein Parergon [Nebenwerk] ohne alle Ansprüche und von vornherein auf weitere Kreise berechnet. Aber da ich weiss, dass Sie als guter Schlesier für alle schlesischen Belange ein reges Interesse bekunden, darf diese Darstellung eines Nichtschlesiers vielleicht kurz Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen einer ruhmreichen zweitausendjährigen Dichtungsgeschichte Schlesiens selbst Ihr alles überragendes Gesamtwerk nur eine begrenzte Raumspanne einnehmen kann. Ich hoffe aber trotz dieser gebotenen Kürze doch die entscheidenden Grundlinien richtig zur Darstellung gebracht zu haben. Wieweit mir dieser erster Versuch gelungen ist, auch die nach Ihnen kommende allerjüngste schlesische Dichtung wenigstens in den wichtigsten Erscheinungen und Gruppierungen richtig zu erfassen, muss ich berufneren Beurteilern überlassen. Wir sitzen in Breslau in banger Erwartung der Dinge, die da eventuell vom Himmel kommen könnten, und haben schon öfter der doch wohl vor solchen modernen Dämonen bewahrten Stätte Ihres Dichterheims gedacht."

Als Ordinarius verstand es Merker, einen strikt apolitischen Kurs zu steuern, was dem Deutschen Institut ein eigenes und in wissenschaftlicher Hinsicht unabhängiges Profil sichern konnte. Unermüdlich baute er das Institut aus. Er wirkte an den Nachrichten aus dem Deutschen Institut (1932-1938), einer Fachschaftszeitschrift, mit, erweiterte die Bibliothek, legte ein Presse-Archiv an (wichtig in diesem Zusammenhang waren seine Kontakte zu dem Chefredakteur der Breslauer Gerichts-Zeitung Majunke-Lange), sorgte für den Unterricht zum Thema Theater und ging auf Vortragsreisen (1943 war er noch in Fribourg und Basel). 1942 fiel sein Sohn in Rußland. Die "Kriegsfurien" erfüllten ihn mit Angst und Resignation. Von Merkers hohen menschlichen Qualitäten zeugen die letzten Tage seines Lebens, an denen er sich auf der Flucht befand. Während des Bombenangriffs auf Dresden am 13./14. Februar 1945 zog er sich im Zentrum der Stadt eine schwere Vergiftung durch Phosphorgase zu; er hatte in einem Luftschutzkeller eine Tür, an der er stand, mehrere Male geöffnet, um den eingepferchten Menschen frische Luft zu verschaffen. Merker starb bald darauf. Seine Frau Erna wurde Mitarbeiterin am Goethe-Wörterbuch in der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin; sie betreute die erste Goethe-Ausgabe in der DDR (Berlin 1954) und erarbeitete das Wörterbuch zu Goethes Werther (Berlin 1966).

Werke:
Literaturgeschichtliche Synthesen:Neuere deutsche Literaturgeschichte (1914-1920. Mit Bibliographie der 1920/22 erschienenen Werke) Stuttgart-Gotha 1922 (Wissenschaftliche Forschungsberichte. Geisteswissenschaftliche Reihe). – Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation, in: Aufriss der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten. In Verbindung mit Emil Ermatinger (u.a.), Teil 4, hrsg. von H. A. Korff u. W. Linden. Berlin 1931 (2. Aufl.),  3. Aufl. 1932.

Zeitschriften: Zeitschrift für deutsche Philologie. Hrsg. von Paul Merker u. W. Stammler. Bd. 1 ff. Halle (zuletzt Stuttgart) 1869 ff. Seit dem Jg. 51 (1926) werden hier von H. Ziegler regelmäßig neue germanistische Dissertationen verzeichnet sowie an entlegenerer Stelle veröffentlichte germanistische Aufsätze aus nichtgermanistischen Zeitschriften und Sammelwerken.

Reihen: Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker. Hrsg. von W. v. Horn, P. Merker und Fritz Neubert. B. Germanistische Reihe. Bd. 1 ff. Breslau 1929 ff. Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von P. Merker und Gerhard Lüdtke. 1 ff. Berlin und Leipzig 1929 ff.

Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und zu den methodologischen Fragen:Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte, Leipzig 1921 (Zeitschrift für Deutschkunde. Ergänzungsheft 16).

Herausgebertätigkeit: Otto Ludwig, Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung des Goethe- und Schiller-Archivs in Verbindung mit Hans Heinrich Borcherdt, Conrad Höfer, Julius Petersen, Expeditius Schmidt, Oskar Walzel, hrsg. von P. Merker. München-Leipzig 1912-1914. – Deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. In Auswahl von P. Merker. Bonn 1913 – Von Goethes dramatischem Schaffen. Siebzig Vorstufen, Fragmente, Pläne und Zeugnisse, gesammelt und herausgegeben von P. Merker. Leipzig 1917. – Thomas Murners Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke. Herausgegeben unter Mitarbeit von G. Bebemeyer, E. Fuchs, P. Merker, V. Michels, Pfeiffer-Belli, M. Spanier u.a. von Franz Schultz. Bd. IX: Von dem großen Lutherischen Narren. Berlin 1918 – Deutsche Idyllendichtung 1700-1840 nach stilgeschichtlichen Gesichtspunkten, ausgewählt von P. Merker. Berlin 1934.

Studien und Aufsätze: Simon Lemnius: Ein Humanistenleben. In: Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völker. Herausgegeben von A. Brandl, E. Martin, E. Schmidt. 104 Heft. Strassburg 1908. – Der elsässische Humanist Johannes Sapidus. In: Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt. Neue Folge Nr. 18. Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte der Oberrheinlande. Franz Schultz zum 60. Geburtstag gewidmet. Hrsg. von Hermann Gumbel. Frankfurt am Main 1938, S. 79-111.

 

Wojciech Kunicki