Biographie

Mühlen, Raimund von Zur

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Konzertsänger
* 10. November 1854 in Neu-Tennasilm/Livland
† 9. Dezember 1931 in Steyning-Sussex/England

Das Sprichwort „Die Nachwelt flicht dem Sänger keine Kränze“ gilt für Raimund von Zur Mühlen nicht, wenngleich er einer Sängergeneration angehörte, welcher die Möglichkeit der Reproduktion noch versagt war. Trotzdem fand sein Wirken den Weg zur Nachwelt: zum einen wird gesagt, er habe den reinen Liederabend in das Konzertwesen eingeführt, zum anderen waren seine Interpretation und sein auf das Lied spezialisierter Unterricht für die Entwicklung des Liedgesangs von großer Bedeutung. Als Sohn eines typischen baltischen Landedelmannes, dem Landwirt und Kreisdeputierten Hermann von Zur Mühlen und seiner Ehefrau Jenny, geb. von Holst, wurde er auf dem väterlichen Gut geboren. Besonders die Musik hatte bei den Holsts eine wesentliche Bedeutung, die dann in dem nach England ausgewanderten Zweig der Familie, in Gustav Holst, kulminierte. Die Mutter wurde auch Raimunds erste Musiklehrerin. Früh überraschte er die Familie mit dem Wunsch, Sänger zu werden – nach dem Vortrag eines Lieds von Robert Schumann, das er der Mutter abgelauscht hatte. Sein Bemühen um Ausdruck stand in merkwürdigem Gegensatz zu seiner kindlichen Stimme. Schwierig wurde seine Schulzeit in Fellin. Sein träumerisches Wesen vereinbarte sich nicht mit der Prosa des Schulalltags. Doch fand er in Musiklehrer Adolph Mumme einen musikalischen Förderer und in dem Klassenkameraden Hans Schmidt eine gleichgestimmte Seele. 1870 übersiedelte die Familie nach Hirschberg, wo er das Gymnasium besuchte. Nach dem Tod des Vaters 1872 entfloh er den Anforderungen von Schule und Elternhaus. Er ging nach Berlin, wo er sich mit seiner Begabung für Schneiderei durchbrachte. Seine Sängerkarriere verfolgte er zielstrebig. Er fand in der Gesangspädagogin Auguste Hohenschildt eine gute Lehrerin und hilfreiche Freundin, welche ihm den Weg an die Königliche Hochschule in Berlin wies. Seine Professoren Felix Schmidt und Adolf Schulze waren sich über Raimunds Talent klar und so wurde er bald zu größeren solistischen Aufgaben bei Aufführungen der Hochschule herangezogen. 1878 debütierte er mit Hans Schmidt in Riga, der sich in Berlin niedergelassen hatte, mit dem er erste Konzertreisen in Deutschland und in den baltischen Landen unternahm. Zur weiteren Ausbildung ging Mühlen nach Frankfurt zu Julius Stockhausen und zu Clara Schumann. Im Hause von Julius Otto Grimm in Münster, wo Mühlen längere Zeit Gastfreundschaft geboten wurde, machte er die Bekanntschaft von Johannes Brahms, der über Mühlen sagte: „Endlich habe ich meinen Sänger gefunden“. Wiederholt hat er mit Brahms Konzerte gegeben und auch mehrere Brahmslieder uraufgeführt. Mit Clara Schumann gab er in dieser Zeit eine Reihe von Schumann-Liederabenden und so schaffte ihm diese auch Beziehungen nach England, woraus sich 1883 sein erstes Konzert in London ergab. Mühlen war immer um Erweiterung seiner sängerischen Möglichkeiten bemüht, so hat er in Neapel mit Beniamino Carelli und in Paris mit Manuel Garcia und Pauline Viardot gearbeitet. Ab Mitte der 1880er Jahre war er zu einer bekannten Größe im europäischen Konzertleben geworden. Er war in mehreren Ländern zu hören, u.a. in Frankreich, England, Rußland, Österreich, Italien, Skandinavien und immer wieder in den baltischen Landen. Von berühmten Dirigenten wurde er zu Oratorien-Aufführungen herangezogen, u.a. von Hans v. Bülow, Gustav Mahler, Arthur Nikisch, Siegfried Ochs und Felix Weingartner. Seinen ständigen Wohnsitz hatte er in Berlin, wo er in höchsten Kreisen Verehrer seiner Kunst fand, so auch im Hause Bismarck. Bei Konzerten in Friedrichsruh soll der Zug eigens für ihn gehalten haben. Großes Aufsehen fand die Aufführung der Oper „Christus“ von Anton Rubinstein 1895 in Bremen unter Carl Muck. Allgemein war die Ansicht, daß das fünfstündige Werk mit Mühlens Darstellung der Hauptrolle stehe oder falle, da das dramatische Geschehen im Verhältnis zur Länge des Werkes sich als nicht tragfähig erwiesen hatte. Rubinstein, der 1894 verstarb, hatte Mühlen noch zum einzigen Sänger der Titelrolle bestimmt: „Niemand von euch anderen hat dieses Mitleid in der Stimme.“ Ein Höhepunkt seiner Karriere war die Einweihung der Bechstein Hall (Wigmore Hall) in London 1901, bei der auch Helen Trust, Ferrucio Busoni und Eugène Ysaye auftraten. 1906 trat er in St. Petersburg auf und war zu Besuch bei der Zarenfamilie in Zarskoe Selo. 1904 und 1905 hatte er für Sommerkurse das „Alte Schloß“ in Fellin angemietet. 1906 verlegte er die Kurse in das ostpreußische Neuhäuser, einem kleinen, feinen samländischen Seebad westlich von Königsberg, wo die Kurse bis 1911 stattfanden. Seine Assistentin war Monica Hunnius, die in ihren Memoirenbüchern über die Zusammenarbeit berichtet. 1907 ging Mühlen nach London und erwarb Wiston Old Rectory in Styning-Sussex als Landsitz. Dort gab er 1911 seinen ersten Sommerkurs. Ein Winter-Kurs 1913/1914 in Berlin wurde zu seinem letzten Aufenthalt in Deutschland. 1925 gab er seinen Londoner Haushalt auf und zog sich nach Styning zurück. 1930 mußte er noch einen schweren Schicksalsschlag ertragen, Feuer vernichtete große Teile des Hauses mit seinen wertvollen Sammlungen von Dokumenten, Musikalien und Kunstgegenständen. Zwar war das Haus 1931 wiederhergestellt, aber der Inhalt war verloren. Mühlen verstarb am 9. Dezember 1931 an Herzversagen. Mühlen war mit seinem Aussehen nicht zufrieden und so kompensierte er dies mit seinem Sinn für das Schöne und Dekorative. Er war eine extravagante Erscheinung, zu der auch drei Pudel gehörten. Über seine Stimme meinte er: „Ich habe überhaupt keine Stimme! Ihr ahnt ja nicht, wie ich jeden Ton künstlich aus dem Nichts schaffen muß.“ In einer großen Zahl von Schülern war Mühlens Einfluß bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirksam. Einige bekannte Namen seien genannt: Frieda Hempel, Lula Mys-Gmeiner, Mark Raphael, Hans Lißmann, sowie Hermann Weissenborn und Georg A. Walter, letztere Lehrer von Dietrich Fischer-Dieskau. Die Übernahme des Begriffs „The Lied“ im Englischen sowie „Le Lied“ im Französischen für das deutsche Kunstlied soll mit Mühlens Verdienst gewesen sein.

Lit.: Diverse Musiklexika. – Neue Berliner Musikzeitung: R. v. z. M., 27. 4. 1893, Jg. 17, S. 223f. – Schloß Fellin – eine Künstlerwerkstatt, Illustrierte Beilage der Rigaschen Rundschau Oktober 1905 Nr. 10, S. 73f. – Dorothea v. zur-Mühlen: Der Sänger R. v. z. M., Hann.-Döhren 1969. – Dietrich Fischer-Dieskau: Auf den Spuren der Schubert-Lieder, Kassel 1971, S. 51, 342, 346. – H. Scheunchen: Die Musikgeschichte der Deutschen in den Baltischen Landen, in: W. Schwarz/F. Kessler/H. Scheunchen: Musikgeschichte Pommerns, Westpreußens, Ostpreußens und der baltischen Lande, Dülmen 1989, S. 160. – Mitteilung an den Verfasser Dr. Patrik v. Zur Mühlen, Bonn 1992.

Bild: E. v. Eggert/Riga Private Ostdeutsche Studiensammlung.

Helmut Scheunchen