Biographie

Nathan, Joseph Martin

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Bischof von Branitz
* 11. November 1867 in Stolzmütz, Leobschütz/Oberschlesien
† 30. Januar 1947 in Troppau

Joseph Martin Nathan wurde als dritter Sohn des Lehrers Josef Nathan geboren. Sein Heimatort Stolzmütz gehörte seit alter Zeit zum Besitz des Erzbischofs von Olmütz. 1818 wurde in dem kleinen Dorf eine einklassige Volksschule eröffnet, die etwa 70 Kinder besuchten. Nebenan wohnte die Familie Nathan bei einem Bauern. Joseph Martin blieb keine Zeit, um seinen Geburtsort kennenzulernen, denn schon im zweiten Lebensjahr kam sein Vater als Lehrer nach Ludgerstal im Hultschiner Ländchen (damals zum Kreis Ratibor gehörig). Hier verbrachte Joseph Martin seine ersten Schuljahre (ab 1873) und seine in religiöser Hinsicht wichtigsten Jahre. Im Herbst 1879 fand der Schüler Aufnahme in das Gymnasium zu Leobschütz. Um der Heimat näher zu sein, siedelte der Gymnasiast jedoch 1884 nach Ratibor über, wo er bis zur Reifeprüfung blieb, die er am 18. März 1887 bestand.

Von Jugend auf war Joseph Martin entschlossen, Priester zu werden. Wohl aus Gesundheitsgründen wählte er das Sommersemester 1887 in Freiburg im Breisgau als sein Anfangssemester. In die Studienzeit fiel der Militärdienst. Vom 1. Oktober 1887 bis zum 30. September 1888, dem bekannten Drei-Kaiser-Jahr, diente er als Einjährig-Freiwilliger im 1. Schlesischen  Grenadierregiment Nr. 10 in Breslau. Seine Kurskollegen waren die letzten Alumnen, die zum Militär mußten. Er verließ die Kaserne als Unteroffizier. Im März 1889 legte Joseph Martin die erste und im Juli 1890 die zweite theologische Prüfung ab und wurde von Kardinal Kopp in Breslau am 21. März 1891 zum Diakon und schließlich am 23. Juni 1891 zum Priester geweiht. Nach der Primiz in Hultschin kam der Neupriester Nathan als Kaplan nach Sabschütz bei Leobschütz (20.9.1891) und schon am 12. Juli 1892 als Kooperator nach Branitz, an der südwestlichen Grenze des Leobschützer Kreises.

Joseph Martin Nathan hat in Branitz die weithin bekannten, ja berühmten Heil- und Pflegeanstalten errichtet, die am Ende des Zweiten Weltkrieges rund 2000 Kranke, 120 Ordensfrauen, sieben Ärzte und viele Pfleger umfaßten; schließlich wurde der Institution auch ein Forschungsinstitut für Gehirn- und Geisteskrankheiten angegliedert. Nathan trug sich 1897 – noch als Kaplan – mit dem Gedanken, eine Ordensgemeinschaft nach Branitz zu rufen. Das gelang ein Jahr später, im Jahre 1898. Das damals gegründete Frauenkloster, das ”Marienstift”, bildete den Urkern eines mächtigen, vielverzweigten Caritaswerkes. Damals setzte sich der Gründer gegen den nachwirkenden Zeitgeist des Kulturkampfes durch und holte den Geist christlicher Caritas nach Branitz. Sein Bemühen um die geistig Behinderten hatte ein sehr modernes Ziel: Die Kranken von Branitz sollten durch eine kluge Arbeitstherapie gefördert werden. Nathan ließ die weniger stark Erkrankten ausfindig machen, damit sie unter Aufsicht von Pflegern bestimmte Arbeiten verrichten konnten. Diese Therapie unterstützte die Mühe der Ärzte. Dem dienten Landwirtschaft und Werkstätten. Das große Branitzer Werk umfaßte am Ende auf einem zehn Hektar großen Gelände zwölf Pavillons und Sanatorien, dazu viele kleinere Häuser, zusammen 26 Objekte.

Im übrigen nützte Nathan die zwischen dem Ersten und dem  Zweiten Weltkrieg entstandene Liturgische Bewegung zusammen mit der Exerzitienbewegung, um die Gläubigkeit im ganzen Land zu fördern. Von 1925 bis 1926 baute er in Branitz das große Exerzitienhaus Sankt Josef. Schon im Jahre 1926 wurden zwei Exerzitienkurse gehalten, einer für Priester und ein Kurs für Abiturienten aus Leobschütz. Dieses geistige Unternehmen der inneren Erneuerung wurde vom Jahre 1927 an zu einer Großaktion entwickelt und dauerte bis zum Jahre 1939, d.h. bis zum Zweiten Weltkrieg.

Im Laufe der Zeit wurde durch Joseph Martin Nathan der Sakralbau in beträchtlichem Maße vorangebracht. Es entstanden zwölf Kirchen. Zum eigentlichen Zentrum der Heil- und Pflegeanstalt wurde die Anstaltskirche ”Heilige Familie”. Sie erhielt ein einzigartiges Altarbild in der Apsis: das Große Mosaik. Der Benediktinerbruder Notker Becker konzipierte 1932/33 die Ausgestaltung in einer eigenwilligen Kombination von Gnadenstuhl und Heiliger Familie im Geiste der Laacher Kunstschule unter Abt Ildefons Herwegen. Wie das Große Mosaik, so faßt auch das Goldene Gitter in der Anstaltskirche der ”Heiligen Familie” Nathans pastorale Ziele zusammen. Es ist eine 150 Quadratmeter große Kunstschmiedearbeit zu dem Thema der ”Ewigen Anbetung der Heiligen Dreifaltigkeit”. Sie ist von einem Chor singender, musizierender, opfernder und anbetender Engel umgeben, inmitten von Pflanzen- und Blütenmotiven, mit Kostbarkeiten und Juwelen beladen, Früchte und Blumen bringend, Trompeten, Flöten, Geigen, Triangeln, Pauken, Notenbücher tragend.

Nachdem in den ersten Oktobertagen des Jahres 1938 das Sudetenland von der Deutschen Wehrmacht besetzt worden war, versah der Olmützer Erzbischof das für den preußischen Teil seiner Erzdiözese bestimmte Generalvikariat in Branitz (1924 aus dem Kommissariat in Katscher hervorgegangen) mit einer neuen Umschreibung, derzufolge es auch für die seiner Jurisdiktion unterworfenen Sudetendeutschen zuständig war. Die Urkunde vom 2. November 1938 bestimmte Joseph Martin Nathan zum Generalvikar und damit zum Vertreter des Erzbischofs gegenüber der Reichsregierung, der Nuntiatur in Berlin und dem Ordinariat in Breslau. Erfreulich war die Tatsache, daß nicht nur Olmütz, sondern offensichtlich auch Rom die Erfolge Nathans schätzte und er am 17. April 1943 zum Titularbischof von Arycanda und zum Weihbischof für die deutschsprachigen Gebiete des Erzbistums Olmütz ernannt wurde. Die Bischofsweihe am 6. Juni 1943 in Branitz war die Krönung aller Auszeichnungen, die Joseph Martin Nathan im Leben erhalten hatte.

Die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg waren nach den Worten Nathans eine ”Zeit, da feindliche Kräfte in Haß und Verblendung daraufhin arbei[te]ten, das Christentum zu schädigen und auszurotten”. So rief er dazu auf, ”daß die gläubige Jugend es wagt, einen feierlichen Protest auszusprechen gegenüber allem schädlichen und gefährlichen Unternehmen der feindlichen Mächte, indem sie feierlich den Glauben bekennt” (Hirtenbrief 1937). Bei der Kirchenabteilung der Troppauer Gestapo galt Joseph Martin Nathan als ”persona ingratissima”. Viele seiner Priester wurden an der Ausführung ihres Berufes gehindert. Sie mußten versetzt werden oder kamen hinter KZ-Gitter.

Im darauffolgenden Chaos des Kriegsendes stellte Nathan einen sehr klaren Grundsatz auf: ”Der Hirt hat bei seiner Herde zu bleiben”. Die letzten Lebensjahre des Branitzer Bischofs sprechen deutlich vom treuen Durchhalten. Am Ostersonntag, dem 1. April 1945, dem Tag, an dem die Sowjets (noch vergeblich) versuchten, das nahegelegene Troppau einzunehmen, nachmittags, wurde in Branitz ein militärischer Räumungsbefehl gegeben, demzufolge alle gehfähigen Kranken die Anstalt verlassen mußten. Noch am Abend brachen 600 Kranke und Schwestern auf. Es war ein Elendszug, dem sich auch der Bischof anschloß. Aber am 5. Juni kehrte Nathan nach Branitz zurück. Er wollte die von den Kriegseinwirkungen zerstörten oder beschädigten Häuser wieder aufbauen. Doch am 11. Dezember 1946 wurde er durch einen Beamten der politischen Abteilung der Wojwodschaft Kattowitz aufgesucht, der dem Bischof den Ausweisungsbefehl überbrachte. Trotz der Bemühungen des Ortsdechanten, Nathan in Branitz zu belassen, wurde dieser am 21. Dezember in einem Auto von Branitz nach Troppau abgeschoben. Die Fahrt war für den Achtzigjährigen, der bettlägerig war, eine unzumutbare Strapaze. Alle ärztlichen Bemühungen halfen nicht mehr. Nathan starb. Er wurde am 4. Februar 1947 auf dem Kommunal-Friedhof (Otická) in Troppau durch den Olmützer Weihbischof Dr. Zela beigesetzt. Der kränkliche, hochbetagte Erzbischof Dr. Prečan mußte sich durch ihn vertreten lassen. Unter großer Beteiligung der Bevölkerung folgten etwa 130 Priester und zahlreiche Ordensfrauen dem Sarg.

Das geistige Vermächtnis des Verstorbenen ist eine ”Wohltätigkeit im ausgedehnten Maße”. Sein Wunsch an den auf ihn folgenden kirchlichen Oberhirten, Boleslaw Kominek, war: ”Tragen Sie Sorge darum, daß der kirchliche und caritative Charakter der Branitzer Anstalten auch weiterhin erhalten bleibe.” Nathans bischöfliches Wappen trägt das Motto: ”Die Liebe Christi drängt uns”.

Lit.: Grocholl, Wolfgang: Joseph Martin Nathan. Leben und Leiden für eine grenzenlose Caritas im mährisch-schlesischen Land, Eschershausen 1990 (mit Lit.). – Komarek, Emil: Distrikt Katscher in Recht und Geschichte. Nach Quellen bearbeitet, Ratibor 1933. – Kretschmer, Ernst: Das Generalvikariat für den sudetendeutschen Anteil der Erzdiözese Olmütz in Branitz O/S 1938-1945, in: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien, hrsg. v. Kurt A. Huber, Bd. 5, Königstein/Ts. 1978, 392-408. – Stasiewski, Bernhard: Nathan, Joseph Martin (1867-1947), in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, hrsg. v. Erwin Gatz, Berlin 1983, 531 f. – Wollasch, Hans-Josef: Aus der caritativen Geistigbehindertenarbeit in Ostdeutschland vor 1945, in: Caritas ’80, Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Karlsruhe 1980, 327-340.

Wolfgang Grocholl