Biographie

Niavis (Schneevogel), Paulus

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Pädagoge, Schriftsteller, Humanist
* 1. Januar 1453 in Eger
† 1. Januar 1514 in Bautzen

Im Mittelpunkt der pädagogischen Tätigkeit des Paul Niavis stand die lebendige Vermittlung des korrekten Lateins. Dazu reformierte er die Unterrichtsmethodik: statt des sturen Auswendiglernens von Grammatikregeln und realitätsfremden Texten sollten sich die Schüler in Dialogen mit Themen aus ihrem Alltag beschäftigen. Ein Ausschnitt aus dem Dialog zwischen dem Erzieher Surgellus mit seinem Schüler Hortena belegen, dass Niavis auch die kleinen Alltagsprobleme in den Texten aufgriff:

Surgellus: Hortena, Hortena, steh auf!
Hortena: (stöhnt) Hem?
Surgellus: Steh auf, sag ich.
Hortena: Was ist denn los?
Surgellus: Du siehst, es wird hell. Wir schaffen es kaum, uns fertigzumachen. Die Uhr wird gleich die volle Stunde zeigen.
Hortena: Ach, was hab ich doch für schwere Augen! Lass mich noch ein klein wenig dösen!
Surgellus: Nein, diese Trödelei hätte den Erfolg, dass wir zu spät in die Schule kämen.
Hortena: Au weh! Der Kopf tut mir weh.
Surgellus: Ich glaube, du hast Lernschwäche, das sogenannte Schulfieber.
Hortella: Ich stehe ja auf. Wo ist bloß mein Hemd?

Aber auch die Wohnheimsuche der fahrenden Schüler, Familienruin durch Spekulation im Bergbau oder die Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern wurden in den Gesprächen behandelt. Am Abend, nach der Vesper kamen die Schüler bei Niavis zusammen und lasen diese Dialoge, vermutlich mit verteilten Rollen, laut vor. Aus der praktischen Arbeit entstanden Lehrwerke über die Fragen der Sprachpraxis und Sammlungen von Schülergesprächen, die z.T. weit verbreitet waren. So wurde die Sammlung Dialogus parvulis scholaribus ad latinum idioma pertuillissimus ab 1489 in 20 Orten in ca. 35 Auflagen gedruckt. Auch in den drei Sammlungen mit vorbildhaften Briefen, sogenannten Briefstellern, veröffent­lichte er keine fiktiven Entwürfe, sondern Briefe, die er mit seinen Freunden gewechselt hatte.

Neben seinen Lehrbüchern gab Niavis auch die Texte antiker Autoren wie Cicero, Lukian und Platon heraus und verfasste eigene Werke. In seiner Historica occisorum in Culm erzählt er von den Verbrechen und dem Untergang einer Räuberbande. Von besonderer Bedeutung ist das 1495 veröffentlichte Iudicium Iovis in valle amoenitatishabitum über den Bergbau im Erzgebirge, das die Legitimationsprobleme um den neuzeitlichen Umgang mit der Natur aufgreift. In Form einer Gerichtsverhandlung werden hier die Folgen des intensiven Bergbaus dargestellt und gegenüber dem wirtschaftlichen Nutzen abgewogen. Die Erde klagt den Menschen wegen Raubbaus vor Jupiter an. Nachdem dieser zu keinem Urteil kommt, entscheidet Fortuna für den Menschen, obwohl sie die Klagen der Erde für berechtigt hält. Damit thematisiert Niavis zwar die ökologischen Schäden und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen des Bergbaus, wie den immense Holzverbrauch, die durch Abholzung entstandene Wasserknapp­heit, Versorgungsprobleme und Teuerungen, rechtfertigt sie aber dennoch durch den allgemeinen Nutzen für den Menschen.

Während die Schriften Niavis bekannt und nachweisbar sind, ist seine Biographie nur bruchstückhaft überliefert. Die erste Station, die im Leben des Paul Niavis dokumentiert ist, ist seine Immatrikulation an der Universität in Ingolstadt am 19. April 1475. Aufgrund dieses Datums hat zuerst Alois Böhmer sein Geburtsjahr auf ca. 1460 angesetzt. In der neueren Forschung wird angezweifelt, dass Niavis bereits mit 14 Jahren die Universität bezog. Andrea Kramarczyk geht davon aus, dass der Student bereits 20 Jahre alt war und setzt daher ein früheres Geburtsdatum, um 1453, an. Bereits als Kleinkind zog Niavis von Eger nach Plauen und besuchte dort die Schule. Evtl. war er dann noch einige Semester als fahrender Schüler unterwegs, bevor er sich in Ingolstadt einschrieb. 1479 wechselte Niavis an die Universität in Leipzig und schloss dort sein Studium mit dem Magistergrad ab. Im Anschluss wurde er Rektor einer Schule in Halle/Saale. 1485 brach dort die Pest aus und ließ auch Schüler und Lehrer nicht ungeschoren. Als in der Folge die Schule geschlossen wurde, floh Niavis nach Chemnitz. Hier übernahm er 1485 oder 1486 die Leitung der Stadtschule in Chemnitz und führte eine umfassende Reform des Lateinunterrichts durch. Aufgrund von Intrigen im Stadtrat bewarb er sich nicht um eine zweite Amtszeit, sondern kehrte 1488 an die Universität in Leipzig zurück. Nachdem es ihm nicht gelungen war, seinen Lebensunterhalt durch seine akademische Lehrtätigkeit zu finanzieren, übernahm er 1490 das Amt des Stadtschreibers in Zittau. 1497 zog er nach Bautzen um. Zuerst war er auch hier als Stadtschreiber tätig, dann erhielt er die Stelle eines Rechtsbeistands für den Rat und schließlich saß er von 1508 bis 1514 im Stadtrat. Auch das Todesdatum ist in der Literatur umstritten; während die ältere Forschung mit dem letzten Beleg „nach 1514“ angibt, bezieht sich Kramarczyk auf eine Urkunde vom 5. Februar 1518, nach der die Witwe eine „ewige Messe“ gestiftet hat, und setzt 1517 als Todesjahr an.

Die Bedeutung Paul Niavis’ besteht vor allem in seiner pädagogischen Tätigkeit und in der Reform des Lateinunterrichts. Damit legte er – zusammen mit anderen Vertretern des Schulhumanismus – die bildungsgeschichtliche Grundlage, auf der sich der Humanismus entfalten konnte.

Werke (undatiert): Dialogus parvulis scholaribus ad latinum idoma pertuilissimus. – Epistolae breves, Epistolae mediocres. – Epistolae longiores. – Elegantiae latinitatis. – Modus epistolandi, Thessaurus eloquentiae. – Historia occisorum in Culm, Iudicium Iovis in valle amoinitatis habitum. – Spätmittelalterliche Schülerdialoge lateinisch und deutsch. Hrsg. von Andrea Kramarczyk und Oliver Humberg. Chemnitz 2013.

Lit.: ADB. – NDB. – Paul Niavis, Iudicium Ivois oder Das Gericht der Götter über den Bergbau: ein literarisches Dokument aus der Frühzeit des deutschen Bergbaus. Übersetzt und überarb. von Paul Krenkel, Berlin 1953 (Freiberger Forschungshefte, D 3). – Gerhard Strecken­bach, „Latinum ydeoma pro novellis studentibus“ – ein Gesprächs­büchlein aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, Teil 1-2, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 6.1970, S. 152-191, 7.1972, S. 187-191. – Andrea Kramarczyk, Vom hellen Licht der Unterweisung. Der Autor Paul Niavis (um 1453-1517) und sein Leben, in: Spätmittelalterliche Schülerdialoge, Chemnitz 2013, S. 21-46. – Andrea Kramarczyk, Lehrer, Schüler und Eltern in Chemnitz zur Zeit des Paul Niavis, in: Lateinschulen im mitteldeutschen Raum. Hrsg. von Christoph Fasbender und Gesine Mierke Würzburg 2014 (Euros, 4), S. 148-175.

Bild: Accipies-Holzschnitt als Frontispiz zu Paul Niavis, Latinum ideoma: pro parvulis editum, Augsburg 1501, Bayerische Staatsbibliothek.

Konstanze-Mirjam Grutschnig-Kieser