Biographie

Schiemann, Theodor

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Historiker, Publizist
* 5. Juli 1847 in Grobin/Kurland
† 26. Januar 1921 in Berlin

Der gebürtige Kurländer Theodor Schiemann ist im Wilhelminischen Deutschland nicht nur als erster professioneller Osteuropahistoriker, sondern vor allem auch als engagierter politischer Publizist bekannt geworden. Er entstammte einer Mitte des 18. Jahrhunderts aus Ostpreußen eingewanderten Akademikerfamilie, einer Schicht also, deren Angehörige im Baltikum als ”Literaten” bezeichnet wurden. Er erblickte als zweiter Sohn des Stadtsekretärs von Grobin, Theodor Schiemann, das Licht der Welt. Nach dem frühen Tod des Vaters im Jahre 1853 erzog die Mutter Nadine, geb. Rodde, die beiden Jungen zu einer deutschbaltischen Gesinnung, die sich durch konservativ-nationales Denken und den christlich-protestantischen Glauben auszeichnete. In der Folge erlangte der ältere Bruder Julius (1845 -1911) die Stellung eines in Kurland angesehenen Rechtsanwalts.

Weniger linear verlief dagegen die Entwicklung von Theodor Schiemann. Sein Leben war durch die Zäsur seiner 1887 erfolgten Übersiedlung ins Deutsche Reich geprägt. Sowohl die Erfahrung der zaristischen Russifizierungspolitik im Baltikum als auch das Schicksal eines entwurzelten Emigranten bildeten wichtige Eckdaten für die Ausformung seiner weltanschaulichen Positionen. Zunächst deutete noch alles darauf hin, daß seine wissenschaftliche Karriere in den Bahnen eines Provinzgelehrten verlaufen würde. Nach dem Abschluß des Gouvernementsgymnasiums in Mitau studierte er von 1867 bis 1872 an der Universität Dorpat Geschichte, zu einer Zeit, als sich der Historiker Karl Schirren mit dem slavophilen Russen Jurij Samarin eine Polemik um die kulturelle Identität des Baltikums lieferte. Unmittelbaren Profit konnte Schiemann aus seinem Studium nicht ziehen. Zuerst trat er im livländischen Jensel eine Hauslehrerstelle an und übernahm anschließend Arbeiten am Herzoglichen Archiv in Mitau und im Ratsarchiv in Danzig. Danach entschied sich Schiemann für die Fortsetzung seines Studiums. 1874 promovierte er bei Georg Waitz in Göttingen über Salomon Hennings Livländisch-Kurländische Chronik. Es handelte sich um eine Quellenuntersuchung, die in eine nicht mehr ausgeführte Geschichte Herzog Gotthard Kettlers von Kurland einmünden sollte. Eine Wende für Schiemanns Pläne bildete die 1875 geschlossene Ehe mit Caroline von Mulert, aus der fünf Kinder, ein Sohn und vier Töchter, hervorgehen sollten. Schiemann war gezwungen, sich eine feste Anstellung zu suchen, die er zunächst von 1875 bis 1883 als Oberlehrer der Geschichte am Landesgymnasium in Fellin und dann von 1883 bis 1887 als Stadtarchivar in Reval fand.

Wie sehr sich Schiemann als Historiker seiner Heimat verbunden fühlte, ist daran zu erkennen, daß bis 1887 Themen aus der älteren baltischen Geschichte den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Publikationen bildeten. Im Hinblick auf seine spätere Tätigkeit dürfen aber auch seine Kenntnisse der russischen Sprache und Kultur nicht unterschätzt werden. Beispielsweise veröffentlichte er 1877 eine deutsche Übersetzung der russischen Geschichte des St. Petersburger Historikers Konstantin Bestužev-Rjumin. Eigene wissenschaftliche Lorbeeren verdiente sich Schiemann in den Jahren 1886/87 mit den beiden Bänden Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert, ein Werk, mit dem nach Einschätzung des Nestors der bundesdeutschen Baltikumforschung, Reinhard Wittram, die erste moderne Geamtdarstellung der Geschichte Altlivlands vorgelegt wurde.

Nachdem die Russifizierungspolitik unter Zar Alexander III. ihren Zenit erreicht hatte, verließ Schiemann mit seiner Familie 1887 das Baltikum und ging in der Reichshauptstadt Berlin einer unsicheren Zukunft entgegen. Allerdings fand er in Heinrich von Treitschke, der ein Jahr zuvor zum offiziellen Historiographen des preußischen Staates avanciert war, einen Mentor, der seine konservative Grundhaltung noch im machtstaatlichen Sinne beeinflußte. Nach der noch im Jahre 1887 erfolgten Habilitation wurde Schiemann an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Privatdozent für mittlere und neuere Geschichte. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, trat er in den beiden folgenden Jahren noch Stellen als Geschichtslehrer an der Preußischen Kriegsakademie und als Archivar des dem Berliner Geheimen Staatsarchiv angeschlossenen Staatsarchivs in Hannover an. Bei der Einrichtung einer ersten außerordentlichen Professur für osteuropäische Geschichte an der Universität Berlin, auf die Schiemann 1892 berufen wurde, haben politische Gründe – die Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen in den 80er Jahren und der Bedarf an gesicherten Informationen über die Nachbarn im Osten – eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Sie haben dafür gesorgt, daß die wissenschaftliche Kunde von Rußland den anderen historischen Teildisziplinen gleichgestellt wurde. Im Leben Schiemanns bildete die Berufung zwar einen Wendepunkt, doch gab er sich mit der außerordentlichen Professur nicht zufrieden. Im Jahre 1900 legte er die DenkschriftEinige Gedanken über die Notwendigkeit für eine Erweiterung unserer Kunde von Rußland Sorge zu tragen vor, in der er für das Fach osteuropäische Geschichte die Einrichtung eines Ordinariats in Berlin und von Extraordinariaten in Breslau und Königsberg anregte. Schiemanns Hauptargument lautete, daß die Kenntnis von Sprache und Institutionen anderer Völker im internationalen Wettbewerb eine unabdingbare Voraussetzung sei. Und in diesem Zusammenhang prognostizierte er, daß das Russische neben dem Englischen und dem Französischen zu den Weltsprachen der Zukunft gehören werde. Schiemanns Initiative ist die 1902 erfolgte Gründung des Berliner ”Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde” zu verdanken. Damit war der Grundstein für die Institutionalisierung der deutschen Osteuropaforschung gelegt. Schiemann wurde am 27. Januar 1906, am Geburtstag des Kaisers, zum ordentlichen Professor berufen. Ab 1910 zählte er zu den Herausgebern der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte. Seine Mitarbeit in der ”Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands”, deren Mitglieder seinen politischen Überzeugungen eher skeptisch gegenüberstanden, beschränkte sich dagegen auf die Jahre 1913/14. 1916 ließ sich Schiemann, um mit ganzer Kraft für die besetzten baltischen Provinzen wirken zu können, von seinen dienstlichen Pflichten an der Universität entbinden; er war aber bis zu seiner endgültigen Emeritierung im Jahre 1920 weiterhin am Seminar tätig.

Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland im Jahre 1887 hatten sich Schiemanns wissenschaftliche Interessen immer mehr auf die neuere russische Geschichte verschoben. Sein Lebenswerk, die Geschichte Rußlands unter Nikolai I., erschien in vier Bänden von 1904 bis 1919. Es handelte sich um eine personenbezogene Darstellung, bei der die Diplomatiegeschichte im Vordergrund stand. Zahlreiche Archivreisen nach Rußland, Frankreich und England erlaubten es Schiemann, tatsachenorientiert zu schreiben und dabei neue Erkenntnisse vorzulegen. Nicht zuletzt dadurch, daß es ihm methodisch darum ging, die Intentionen seiner Protagonisten intuitiv zu verstehen, muß sein Werk als Musterbeispiel für die Geschichtsauffassung des Historismus bezeichnet werden. Neben seiner Forschungsarbeit ging es Schiemann darum, die russische Geschichte zu popularisieren. Auf diesem Gebiet ist die in den Jahren 1893 bis 1895 erfolgte Herausgabe einer siebenbändigenBibliothek russischer Denkwürdigkeiten mit Erinnerungen und Korrespondenzen von Vertretern des russischen öffentlichen Lebens sowie das 1916 erschienene Buch Russische Köpfe mit Porträts von Peter dem Großen bis Nikolaus II. zu nennen.

Darüber hinaus machte sich Schiemann als politischer Publizist einen Namen. Als Berliner Korrespondent der Münchener Allgemeinen Zeitung in den Jahren 1887 bis 1893 und als Verfasser der politischen Wochenschau der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung) in den Jahren 1892 bis 1914 vertrat er eine Politik der Stärke und eine außenpolitische Konzeption, die das ”Miteinander” Deutschlands und Englands und das ”Nebeneinander” Deutschlands und Rußlands zum Inhalt hatte (Klaus Meyer). Seine in der Kreuzzeitung erschienenen Artikel veröffentlichte er seit 1902 in den JahrbüchernDeutschland und die große Politik. Über seine Artikel geriet Schiemann in unmittelbaren Kontakt zu einflußreichen Persönlichkeiten der Wilhelminischen Ära sowie zum Auswärtigen Amt. Im Jahre 1904 machte er die Bekanntschaft des Kaisers. Nach zahlreichen weiteren Begegnungen und der Teilnahme an kaiserlichen Jagden und Reisen entwickelte sich sogar so etwas wie eine Freundschaft mit dem Monarchen. Unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Vorkriegspolitik hat Theodor Schiemann aber nicht gehabt.

Nach dem Ausbruch des I. Weltkrieges widmete Schiemann seine ganze Kraft den baltischen Provinzen. Dabei geriet er wegen der Anprangerung der ”russischen Gefahr” und aufgrund seines vehementen Eintretens für eine annexionistische Politik immer mehr in die Isolation. Als Medium konnte er den ”Baltischen Vertrauensrat”, den ”Baltenverband” und die ”Deutschbaltische Gesellschaft” nutzen. In seiner DenkschriftDie deutschen Ostseeprovinzen Rußlands vertrat er im April 1915 die These, Est-, Liv- und Kurland bildeten eine geographische und kulturelle Einheit und seien für das Reich nicht nur wegen ihres deutschen Charakters, sondern auch wegen ihrer handelspolitischen Bedeutung von Interesse. Als Schiemann 1918 zum Kurator der eroberten deutschen Universität Dorpat ernannt wurde, sprach er in seiner Eröffnungsrede von der ”Befreiung Alt-Livlands vom Zwang russischer Tyrannei und vom Druck russischen Größenwahns”.

Bei den Zeitgenossen galt Theodor Schiemann als der Rußlandkenner der Epoche. Er erblickte im Zarenreich ein morbides Staatswesen, das lediglich durch die Klammer der Autokratie zusammengehalten werde. Nicht frei von Vorurteilen war sein Bild des russischen Volkes, dem er wegen seiner angeblichen orientalischen Orientierung politische Unmündigkeit attestierte. Schiemanns bleibendes Verdienst ist es, die Grundlagen für die wissenschaftliche Erforschung Rußlands gelegt zu haben.

Lit.: Deutsches Biographisches Jahrbuch. Bd. III. Das Jahr 1921. Berlin/Leipzig 1927, S. 216-222 (Oskar Stavenhagen). – Deutschbaltisches Lexikon 1710-1960. Hrsg. v. Wilhelm Lenz. Köln/Wien 1970, S. 676/677. – Klaus Meyer: Theodor Schiemann als politischer Publizist. Frankfurt am Main/Hamburg 1956. – Ders.: Theodor Schiemann und die russische Geschichte. In: Zeitschrift für Ostforschung 28 (1979), S. 588-601. – Gabriele Camphausen: Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung in Deutschland 1892-1933. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 7-108. – Gerd Voigt: Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843-1945. Berlin 1994.

 

  Thomas M. Bohn