Ereignis vom 1. Januar 1552

Die Revaler Olai-Bibliothek wird gegründet

Ansicht von Reval (1630)

Als im Zuge der Reformation in Reval 1525 das Dominikanerkloster aufgelöst wurde, verlor auch die bis dahin bedeutendste Bibliothek Revals ihre Heimstatt. Die von den Mönchen bei verschiedenen Bürgern versteckten Bücher wurden vom Rat aufgespürt und vermutlich wieder zusammengeführt – an welchem Ort, ist unbekannt. Bald darauf müssen jedoch an den beiden Hauptkirchen Revals, St. Nikolai und St. Olai, in Reaktion auf Luthers Aufruf zur Gründung von „Librareien oder Bücherhäusern“ (1524) kleinere Büchersammlungen angelegt worden sein, die sich möglicherweise auch aus Teilen der alten Dominikanerbibliothek speisten.

Das Gründungsjahr der Olai-Bibliothek (1552) ist nicht beurkundet, sondern aus zwei Schriften des späteren Bibliothekars Heinrich Bröcker bekannt, der 1658–1660 eine Inventarisierung und Neuordnung der Bestände durchführte. Er verzeich­nete nach eigenem Bekunden die „von der alten Revalschen Bibliothec“ seit 1552 überbliebenen und „jetzo“ (1659) noch in der Olai-Bibliothek vorhandenen Bücher. Die naheliegende Ver­mutung, bei Bröckers Angabe handele es sich um eine Verschreibung für das Jahr 1525, ist aufgrund einer zweiten Nennung zurückzuweisen. Dort heißt es, die Vorfahren hätten „Anno 1552 … alhir, sonderlich zu S. Olai, eine Bibliothec an­richten … wollen“. Weil es diesen beiden Jahresangaben jedoch an Eindeutigkeit mangelt, können die Zweifel bis heute nicht ganz ausgeräumt werden.

Daher ist anzunehmen, daß zwar schon 1525 oder kurz darauf „ein feiner Vorrat an Büchern“, wie es in der Kirchenordnung von 1608 heißt, bei St. Olai und St. Nikolai angelegt wurde, jedoch erst 1552 von einer Bibliotheksgründung im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann, die der Olai-Bibliothek vor allem eine Vorrangstellung gegenüber St. Nikolai einräumte. Hierbei spielte fraglos auch eine Rolle, daß im Jahr zuvor der Prediger an St. Olai, Reinhold Grist († Febr. 1551), seine stattliche Sammlung von 137 theologischen und humanistischen Schriften „der Liberie“ hinterlassen hatte. 1564 erweiterten dann einige Bücher aus dem aufgelösten Franziskanerkloster in Wesenberg die Bestände der Olai-Bibliothek. Hinzu kamen auch einzelne Buchspenden von Bürgern Revals, doch liegen für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts kaum Informationen über die Geschicke der Bibliothek vor.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren die beiden Kirchen-Bibliotheken durch Schuld der „Schwestern Negligentia et Infi­delitas“ in so schlechtem Zustand, daß laut der Kirchenordnung von 1608 Maßnahmen zur Pflege der Bestände ergriffen wer­den sollten. Allerdings scheint diese Initiative wegen des anhaltenden Krieges keinen Erfolg gehabt zu haben. Durch die Reformen im Kirchen- und Bildungswesen Estlands, namentlich die Gründung eines Gymnasiums in Reval und einer Universität in Dorpat, entstand in den 1630er Jahren offensichtlich neuer Bedarf an einer guten Bibliothek. Bürger und Gelehrte aus der Stadt vermachten der Olai-Bibliothek Bücher, doch erst 1658 wurde mit einer Revision und Neuordnung der Bibliotheken begonnen. Einige Professoren und Studenten der Dorpater Universität waren 1656 vor den einfallenden Russen nach Reval geflohen und hielten dort ihre Vorlesungen, doch eine verheerende Pestepidemie brachte 1657 das gesellschaftliche Leben zum Stillstand und entvölkerte die Stadt. Vom verstorbenen Prediger Nikolaus Specht erhielt die Olai-Bibliothek nun eine stattliche Sammlung von 450 Bänden. Gabriel Elvering, einst Bibliothekar der Dorpater Universitätsbibliothek und Professor für Theologie, wurde zum Pastor an St. Olai und zum Superintendenten ernannt. Wohl auf seine Initiative hin wurde 1658 vom Rat die Anstellung eines Bibliothekars beschlossen, der zunächst die Bücher inventarisieren sollte, wobei nun auch die Bestände aus der Bibliothek an St. Nikolai in die Olai-Bibliothek überführt wurden. Zum Abschluß der Neuordnung bewilligte der Rat im Jahre 1660 außerdem einen Betrag von 200 Speziestalern und verpflichtete im folgenden Jahr die Kirchen zur weiteren Unterstützung der Olai-Bibliothek.

Bis 1658 war diese eine Kirchenbibliothek gewesen. Nun entwickelte sie sich durch das Engagement des Rates zu einer städtischen Bibliothek, die jedoch in der Olaikirche untergebracht und eng mit der Kirche verbunden war. Deshalb wollte sich das Konsistorium nach dem Tode Bröckers, der als Jurist vom Rat zum Bibliothekar bestimmt worden war, nicht mehr einen „Politicus“ vorsetzen lassen, sondern selbst einen Theologen bestimmen. Der als Kompromiß bestimmte Theologiestudent Jakob Felsberg (alias Petrus Montanus) leitete die Bibliothek von 1668–1684 mit Geschick, wie ein von ihm angelegtes Bücherverzeichnis veranschaulicht. In der Folge setzte sich der Rat durch und berief wieder Juristen als Bibliothekare.

Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts war für die Olai-Biblio­thek eine Blütezeit: Aus dem Nachlaß einzelner Bürger und ins­besondere Gelehrter wurden zahlreiche Bücher gestiftet, außerdem gab es Geldspenden und Buchgeschenke. Der Nordische Krieg (1700–1721) beendete diese glückliche Phase. Nach einer Zeit der Vernachlässigung sollte 1712 ein neuer Bibliothekar angestellt werden, doch sind keine weiteren Einstellungen bekannt. Statt dessen wurde 1714 eine Ratsbibliothek gegründet, die im Rathaus untergebracht wurde, während die Olai-Bibliothek der Kirche verblieb. Da 1717 auch die Gymnasialbibliothek in Reval durch bessere finanzielle Ausstattung an Bedeutung zunahm, verlor die Olai-Bibliothek ihre zentrale Rolle und wurde fortan nur noch notdürftig gepflegt.

Bei einem durch Blitzschlag verursachten Band der Olaikirche 1820 wurde die Bibliothek durch Zufall gerettet. Während das Gotteshaus bis auf die Mauern niederbrannte, standen die Bücher in einem feuerfesten Gewölbe, weil der Bibliotheksraum zu dieser Zeit renoviert wurde. Heimatlos geworden, fanden die Bücher 1825 in einem Raum der alten Stadtwaage Unterkunft, mußten jedoch schon bald darauf wieder ausziehen. Deshalb übergab das Konsistorium die Olai-Bibliothek 1831 der sechs Jahre zuvor gegründeten Estländischen Allgemeinen Öffentlichen Bibliothek als Depositum für zunächst 10 Jahre. Beide Bibliotheken übernahm dann die Estländische Literärische Gesellschaft bei ihrer Gründung 1842. Eine Inventarisierung der Estländischen Allgemeinen Öffentlichen Bibliothek brachte entgegen der Deponierungsvereinbarung 1863/64 das Ende der bis dahin noch geschlossen aufgestellten Olai-Bibliothek. Die Bücher wurden nun als Eigentum der Gesellschaft betrachtet und dem Gesamtbestand einverleibt. Über die Größe des Bestandes gibt es lediglich aus dem Jahre 1803 eine Angabe, der zufolge die Olai-Bibliothek 2.732 Bände umfaßte.

Fast ohne Schäden gelangte die Bibliothek der 1940 aufgelö­sten Estländischen Literärischen Gesellschaft durch die Wirren der sogenannten „Umsiedlung“ der Deutschbalten und des Zwei­ten Weltkrieges und wurde schließlich der 1946 gegrün­deten Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Estnischen SSR übergeben, deren Nachfolgeinstitution, die Estnische Akademische Bibliothek, damit heute die alte Revaler „städtische Bibliothek zu St. Olai“ beherbergt.

Lit.: Kyra Robert: Raamatutel on oma saatus. Kirjutisi aastaist 1969–1990 [Die Bücher haben ihr eigenes Schicksal. Aufsätze aus den Jahren 1969–1990], Tallinn 1991. – Dies.: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der estnischen Akademie der Wissenschaften, in: Daphnis 22 (1993) S. 27–39. – Dies.: Die Bibliotheca Revaliensis ad D. Olai seit dem 16. Jahrhundert, in: Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Norbert Angermann und Wilhelm Lenz, Lüneburg 1997 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 8), S. 173–182. – Endel Valk-Falk: Köiteuunikume Eesti Akadeemilises Raamatukogus. Kostbare Bucheinbände aus Estnische Akademische Bibliothek [!]. Näituse kataloog. Konsultanten: M. Luuk, T. Reino, Tallinn 1997. – Hellmuth Weiss: Zur Bibliotheksgeschichte Revals im 16. und 17. Jahrhundert, in: Syntagma Friburgense. Historische Studien, Hermann Aubin dargebracht zum 70. Geburtstag am 23.12.1955, Lindau/Konstanz 1956 (Schriften des Kopernikuskreises, 1), S. 279–291. – Gotthard von Hansen: Die Codices manuscripti und gedruckte Bücher in der Revaler Stadtbibliothek. Separat-Abdruck aus dem „Revaler Beobachter“ 1893, Nr. 189 und 191. – Th. Kirch­hofer/0. Greiffenhagen: Verzeichnis der in zwei Revaler Bibliotheken und im Stadtarchiv vorhandenen Inkunabeln, in: Beiträge zur Kunde Est-, Liv- und Kurlands 7 (1912), S. 64–85. – J. E. Wehrmann: Oef­fentliche Bibliotheken in Reval, in: Dorpater Jahrbücher für Literatur, Statistik und Kunst 2 (1834), S. 78–80.

Bild: Ansicht von Reval, 1630 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Martin Klöker (OGT 2002, 367)