Ereignis vom 30. Oktober 1956

Die Temeswarer Studentenbewegung und die Vision eines dritten Weges

Timișoaras Fakultät für Maschinenbau. Dort begann die aufständische Studentensitzung.

Vor dem Hintergrund der Ungarischen Revolution entstand im Herbst 1956 unter den Studenten der westrumänischen Stadt Temes­war/Timișoara eine Reformbewegung mit dem Ziel der Erneuerung der rumänischen Gesellschaft. Etwa 3.000 Studen­ten beteiligten sich am 30./31. Oktober 1956 an Protestkundgebungen, in einer Denkschrift forderten sie u.a. den Abzug der sowjetischen Truppen, Arbeiterselbstverwaltung, Meinungs- und Pressefreiheit. Obwohl sie verfassungskonform agierten – die rumänische Verfassung von 1952 garantierte Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit –, stufte das volksdemokratische Regime die Kritik als konterrevolutionär ein und setzte Armee, Geheimdienst und Miliz ein, um die Bewegung niederzuschlagen. Rund 2.000 Studenten wurden verhaftet, die Anführer der Revolte zu Gefängnisstrafen bis zu acht Jahren verurteilt.

Nach dem Tod Stalins im März 1953 setzte in der Sowjetunion eine so genannte Tauwetterperiode ein. Die Signale der Liebe­ralisierung aus Moskau riefen eine Kette von Unruhen in ostmitteleuropäischen Staaten hervor, zuerst 1953 in der Tschechoslowakei und in der DDR. In Polen kam es 1956 zu bedeutenden gesellschaftspolitischen Veränderungen, die für die Reformkräfte in Ungarn zum Vorbild eines eigenständigen Weges zum Sozialismus wurden. Die Entwicklungen in Ungarn mündeten aus Sicht der Sowjetunion in eine Konterrevolution, was diese veranlasste, militärisch einzugreifen. Jugoslawien hatte schon bald nach dem endgültigen Bruch mit Stalin begonnen, die eigenen politischen und sozialen Ziele ohne sowjetische Bevormundung zu verwirklichen. (Am 1. Juni 1950 beschloss das jugoslawische Parlament die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung. Die ersten Arbeiterräte, Träger der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, waren bereits 1949 gebildet worden. Das Selbstverwaltungssystem der assoziierten Arbeit in Jugoslawien hatte 40 Jahre lang, in denen es immer wieder verbessert und ausgeweitet wurde, bis zur Verfassungsänderung vom 8. August 1990 Bestand.)

Die Ereignisse in Ungarn lösten in allen Staaten des „Ostblocks“ ein starkes Echo aus. Bedingt durch ihre Lage an der Grenze zu Ungarn, mit einer multiethnischen und von humanistischen Werten geprägten Bevölkerung, war die westrumänische Region Banat sehr empfänglich für die Ideale der Ungarischen Revolution. Die Veränderungen im Nachbarland beeinflussten mit Sicherheit die Gemütslage der Banater Bevölkerung, haben aber den Ausbruch der Studentenrevolte im Herbst 1956 in Temeswar, der Hauptstadt des Banats, nicht direkt ausgelöst. Vorläufer der 1956er Revolte waren die Protestkund­gebungen im November 1945 und im Juni 1946, auf denen Studenten das Ende der sowjetischen Besatzung des Landes und demokratische Reformen forderten. In den darauffolgenden Jahren nahm der Widerstand andere Formen an: Zerstörung von Propagandamaterial, Unterstützung der Familien von politischen Häftlingen, Verteilung von Flugblättern mit regimekritischem Inhalt. In den Jahren 1949, 1952 und 1953 wurden eine Reihe von Temeswarer Studenten, Schülern und Arbeitern zu Gefängnisstrafen oder Zwangsarbeit verurteilt, weil sie sich „gegen die existierende soziale Ordnung“ auflehn­ten, zum „Widerstand gegen die sowjetische Besatzung“ aufriefen oder gegen die Deportation von Banater Grenzlandbewohnern in die Bărăgan-Ebene protestierten. (Vor dem Hintergrund des Zerwürfnisses zwischen Stalin und Tito – Rumänien stellte sich in dem Konflikt bedingungslos auf die Seite Moskaus – verfügte das rumänische Innenministerium 1951 die Umsiedlung aller „gefährlichen Elemente“ aus einer 25 km breiten Zone entlang der Grenze zu Jugoslawien. Mehr als 40.000 Personen wurden für die Dauer von vier-fünf Jahren in die Bărăgan-Ebene im Südosten Rumäniens deportiert.) Eine Aktionsgruppe um den Studenten Friedrich Resch rief in Flugblättern die Bevölkerung zum Widerstand auf. 1952 wurden ihre Mitglieder zu Haftstrafen von zehn bis 25 Jahren verurteilt. (Resch/Mildt 2014. Dem Widerstandskreis gehörten elf Freunde an, die sich zum Ziel gesetzt hatten, einen in der Bevölkerung vorausgesetzten passiven Widerstand gegen das volksdemokratische Regime zu aktivieren. Am 11. September 1951 verteilte die Gruppe in den Temeswarer Stadtteilen Josefstadt, Elisabethstadt und Fabrikstadt Flugblätter, in denen sie die Zwangsumsiedlung in den Bărăgan und die sowjetische Besatzung brandmarkten. Kurz darauf wurden alle Elf verhaf­tet, der Prozess vor dem Temeswarer Militärgericht fand am 14. März 1952 statt. Nach einer Berufungsverhandlung wurden insgesamt 167 Jahre Zwangsarbeit oder schwerer Kerker ver­hängt. Friedrich Resch und Engelhard Mildt erhielten die Höchst­strafen: 25 bzw. 20 Jahre. Im Rahmen der Generalam­nestie für politische Gefangene wurden sie 1964 vorzeitig freigelassen.) Die Ereignisse im Herbst 1956 aber wurden zum Kulminationspunkt des studentischen Aufbegehrens. In ihrem Verlauf wurden die Studentenproteste zu einer eindeutig politi­schen Aktion.

Bereits im Frühjahr/Sommer, nach Bekanntwerden der Ge­heim­rede des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow vor den Delegierten des XX. Parteitags der KPdSU, in der dieser Stalin heftig kritisierte, rumorte es in der Temeswarer Studentenschaft. Beginnend mit dem neuen Universitätsjahr ver­stärkte sich die Krise, Studenten sprachen Probleme offen an und äußerten Kritik an der Politik der Staats- und Partei­führung. (Die Rumänische Arbeiterpartei – Partidul Muncito­resc Român, PMR –, 1948 aus der Vereinigung der Kommu­nistischen Partei mit der Rumänischen Sozialdemokratischen Partei hervorgegangen, war als Einheitspartei die „führende Kraft der Gesellschaft“. Unter ihrem Generalsekretär Nicolae Ceaușescu wurde sie 1965 in Rumänische Kommunistische Partei – Partidul Comunist Român, PCR – umbenannt und ver­kam nach und nach zur bloßen organisatorischen Hülse seiner Familiendiktatur. 1989 wurde das sultanistische Ceaușescu-Regime, von Temeswar ausgehend, durch eine siegreiche Re­vo­lution gestürzt.) Die erste direkte Aktion der sich formie­renden Studentenbewegung wurde am 25. Oktober verzeichnet, als der UTM-Sekretär (UTM: Uniunea Tineretului Muncitoresc – Verband der werktätigen Jugend, Jugendorganisation der Arbeiterpartei) des 4. Studienjahrgangs Heinrich Drobny am Ende einer Vorlesung in „Wissenschaftlichem Sozialismus“ den Professor bat, den Studenten einige Fragen zu beantworten …

Die Staatsmacht war sich der Existenz einer kritischen Masse in der Studentenschaft durchaus bewusst. Alarmiert durch die Ereignisse in Ungarn begann sie, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Am 26. Oktober 1956 wurden die Temeswarer Hoch­schul­dozenten angewiesen, in Sitzungen mit den Studen­ten deren Haltung zu ergründen und potentielle Unruhestifter zu identifizieren. Studenten des 5. Studienjahrs der Maschinen­baufakultät des Polytechnikums erfuhren davon und trafen sich noch am selben Abend um Maßnahmen zur Vereitelung dieser Manöver zu diskutieren. Zu der am 27. Oktober vom Assis­tenten Stefan Rosinger geleiteten Sitzung erschienen – statt nur der einbestellten Gruppe der Fachrichtung Dampfmaschinen – alle über 100 Maschinenbaustudenten des 5. Studienjahrs. Die Diskussionen berührten neben studentenspezifischen Themen alle wesentlichen sozialen und politischen Aspekte der rumä­nischen Gesellschaft. Die Studenten kritisierten die Position der Staats- und Parteiführung gegenüber der Entwicklung in Ungarn und erklärten sich mit den Idealen der ungarischen Genossen solidarisch.

Die nächsten beiden Tage nutzte eine Initiativgruppe, der Caius Muțiu, Teodor Stanca, Aurel Baghiu, Friedrich Barth, Ladislau Nagy, Valentin Rusu, Heinrich Drobny u.a. angehörten („Fast alle waren UTM-Aktivisten, also kann man nicht sagen, dass es sich um ein aus einer bestimmten Ecke kommendes Komplott handelte, sondern sie haben sich für die dortige Jugend verantwortlich gefühlt.” Karl Lupșiasca in: Sitariu 2004, S. 66), um eine machtvolle Versammlung der gesamten Temes­warer Studentenschaft sowie Kundgebungen und Streiks der Studenten vorzubereiten. Eine mögliche Ausweitung der Pro­teste auf Arbeiter, Bauern, Intelektuelle und das Militär wurde in die Planungen einbezogen. Teodor Stanca redigierte eine Denkschrift (Memoriu din partea studenților din Timișoara [Denkschrift der Temeswarer Studenten]. Original im Archiv des Militärgerichts Temeswar – Arhiva Tribunalului Militar Timişoara, dosar 3624, vol. I/Tm, f. 4, Kopie in: Sitariu 2004, S. 195-197.) mit den Forderungen der Studenten. Am 30. Okto­ber versammelten sich ca. 2.000 der 4.287 Studenten Temes­wars zunächst in der Aula der Maschinenbaufakultät, dann in der Kantine des Polytechnischen Instituts. Teodor Stanca, Aurel Baghiu und Gheorghe Tămaș bildeten das Präsidium. In Anwesenheit der Sondergesandten der Parteiführung und der Regierung, Petre Lupu, Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der PMR, Coriolan Drăgulescu, stellvertretender Bildungsminister, Ilie Verdeț, stellvertretender Leiter der Organisationsabteilung des ZK der PMR, sowie des Rektors des Polytechnischen Instituts, Alexandru Rogojan, ergriffen etwa 30 Studenten das Wort. Während der sechsstündigen Versammlung skizzierten sie schonungslos das wahre Bild der rumänischen Gesellschaft jener Zeit. In ihren politischen Ausführungen stellten die Stu­den­ten Forderungen auf, die die Partei als „offensichtliche Gefahr” einstufte: Arbeiterselbstverwaltung, Abzug der sowje­tischen Truppen aus Rumänien, Meinungs- und Pressefreiheit, Beendigung des Personenkults, Abschaffung der landwirt­schaft­lichen Zwangsabgaben und des Normensystems in der In­dustrie. Die Offiziellen wurden bei jeder ihrer Stellung­nahmen ausgebuht. Von Teilnehmern wird dies, ebenso die Rufe „Freiheit” und „Nieder mit dem Kommunismus”, den eingeschleusten Geheimdienstleuten zugeschrieben. (In einer Sitzung des Regionalbüros der Partei bestätigte Vasile Negrea, Securitate-Chef der Region Banat: „Unsere Leute waren damals im Saal.” Sitariu 2004, S. 58.)

Die größte Sprengkraft im Forderungskatalog der Temeswarer Studenten steckte im ersten Punkt der Denkschrift: „Hinsichtlich der Sicherstellung der Weiterentwicklung des Wirtschaftslebens in unserem Land und der Stimulierung des Interesses der Werktätigen für den Aufbau des Sozialismus fordern wir … die Selbstverwaltung der Arbeiterklasse“, der einzigen Forderung, welche die ursprüngliche Einordnung der Ziele der Bewegung als „Verschwörung gegen die soziale Ordnung“ rechtfertigen hätte können. (Memoriu … in: Sitariu 2004, S. 195: „autoconducerea clasei muncitoare“.) Vorbild war die Entwicklung in Jugoslawien, wo das neue wirtschaftspolitische Modell der Arbeiterselbstverwaltung seit 1950 die starre zentrale staatlich dirigierte Wirtschaftsordnung abgelöst hatte. Mit der Demokratisierung der Wirtschaft sollte eine Effizienzsteigerung einhergehen. Die in den 1940er Jahren verstaatlichten Betriebe wurden in Gemeineigentum überführt (zum Unterschied von Staatseigentum und Gemeineigentum siehe Dahn 2015), marktwirtschaftliche Mechanismen implementiert und die Kollektivierung der Landwirtschaft 1953 rückgängig gemacht. Voraussetzung für das Beschreiten dieses „dritten Wegs“, dessen Grundbausteine „Sozialisierung der Produktionsmittel, Gesamtplanung, industrielle Demokratie, Autonomie der Unternehmungen, wirtschaftlicher Konkurrenzkampf, Entlohnung der Arbeiter in Abhängigkeit von der Produktion und der Rentabilität“ sind (Bericht des Bureau International du Travail über die „Arbeiterverwaltung der Unternehmungen in Jugoslawien“, Genf 1962), war jedoch die Abwesenheit von sowjetischen Truppen, Wirtschaftsberatern und Militärexperten. Vor diesem Hintergrund wird die starke Betonung der Forderung der Temeswarer Studenten nach deren Abzug nur allzu verständlich. Punkt II.a der Denkschrift: „Sofortiger Abzug der auf dem Territorium unseres Vaterlandes stationierten russischen Truppen“ (Memoriu … in Sitariu 2004, S. 195). Die rumänische Partei- und Staatsführung erkannte weitsichtig die Gefahr, die ihr durch eine Selbstverwaltung der Arbeiterklasse in der Zukunft drohen könnte. Eine Weiterentwicklung hin zu einer Selbstverwaltung in allen Bereichen der Politik wäre eine natürliche Folge gewesen. Formen der direkten Demokratie würden das Einparteiensystem, welches Herrschaft durch den Staat bedeutet, in Frage stellen. Die Forderungen der ungarischen Studenten waren in diesem Punkt weit weniger radikal. In ihrer berühmt gewordenen 14-Punkte-Resolution war nur vage von einer „Neuorganisation des Wirtschaftslebens“ die Rede; das planwirtschaftliche System sollte zunächst lediglich einer Überprüfung unterzogen werden (Gosztony 1966).

Die Repräsentanten des Regimes vermieden jede konkrete Stellungnahme, wählten eine Hinhaltetaktik und versprachen, dass die Studenten wegen ihrer radikalen Kritik keine Repressalien zu befürchten hätten. Sie kündigten an, sich mit der Staats- und Parteiführung beraten zu wollen, um am 2. November die Gespräche mit den Studenten fortzusetzen. Dann wurde die Denkschrift der Organisatoren Punkt für Punkt diskutiert, mit weiteren Forderungen ergänzt und verabschiedet. Die zusätzlichen Punkte wurden von Aurelian Păuna schriftlich festgehalten; bei ihm wird der Geheimdienst Securitate auch das dreiseitige Dokument sicherstellen. Ein Studentenkomitee mit Repräsentanten der Fakultäten wurde gegründet. Ihm gehörten an: Aurel Baghiu, Heinrich Drobny, Octavian Vulpe, Aurelian Păuna, Teodor Csomocos, Gheorghe Păcuraru. Das Komitee wurde bevollmächtigt, den Forderungskatalog tags darauf den lokalen Machthabern und der Presse bekanntzugeben. Mit dem Beschluss, falls die Wiederaufnahme der Verhandlungen scheitern sollte, Streiks und Demonstrationen nach dem 2. November durchzuführen, endete die Versammlung gegen 20 Uhr.

Noch während die Versammlung andauerte, umstellten Securitate, Miliz und Armee den Campus mit Panzern und anderen Armeefahrzeugen. Um 21 Uhr schlug die Staatsmacht zu. Mit Gewehren im Anschlag wurden zahlreiche Studenten, darunter die Organisatoren, verhaftet und in Kellern der Securitate eingesperrt, mehrere Hundert wurden mit Lkws in ehemalige Kasernen bei Kleinbetschkerek/Becicherecu Mic gebracht. Wäh­rend der Nacht kam es zu weiteren massiven Verhaftungswellen. Diese Maßnahmen wurden von höchster Ebene, vom Politbüro des ZK der PMR, angeordnet. Die Militärpräsenz in Temeswar wurde verstärkt und ein politisch-militä­risches Kommando übernahm unter Führung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Emil Bodnăraș die Aufgabe, die Studentenrevolte niederzuschlagen. Dieses Kommando, dem Innenminister Alexandru Drăghici, Verteidigungsminister Leontin Sălăjan und der Sekretär des ZK der Partei Nicolae Ceauşescu angehörten, war bevollmächtigt, mit Unterstützung von Verteidigungsministerium, Innenministerium, Militärstaats­anwaltschaft und anderen Staatsorganen alle notwendigen Maßnahmen zur Liquidierung der Revolte zu ergreifen, so auch den Notstand in einzelnen Regionen des Landes auszurufen und, wenn nötig, den Securitatetruppen und der Armee den Schießbefehl zu erteilen. Zur Unterstützung wurde auch ein lokales Kommando unter Leitung des Vizepräsidenten des Ministerrates, des Mitglieds des ZK der PMR, Alexandru Moghioroș installiert, das die Situation bis zum 3. November normalisieren sollte. Das Hauptaugenmerk der Staatsmacht lag auf der Verhinderung eines Generalstreiks der Studenten mit allen Mitteln; sie fürchtete einen möglichen „Einfluss auf die Bevölkerung“. Für den Fall, dass die Unruhen weitergehen würden, erwog die Regierung die Schließung des Universitätsstandortes Temeswar.

Noch aber gab die Studentenbewegung nicht auf. Am nächsten Morgen versammelten sich auf Initiative von Gheorghe Păcuraru 800 bis 1000 Studenten vor der Agronomiefakultät und forderten die Freilassung ihrer inhaftierten Kommilitonen. Politische Losungen skandierend bewegte sich der Demonstrationszug über die Begabrücke Richtung Stadtzentrum. Im Stalinpark bei der Kathedrale wurden die Studenten mit Warnschüssen gestoppt und von Securitate und Miliz eingekesselt. Soldaten mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten trieben sie auf offene Armeelaster und brachten sie weg. Um weitere „staatsfeindliche und konterrevolutionäre Aktionen“ der Studenten zu verhindern, wurden die Wohnheime von bewaffneten Soldaten umstellt, wieder fielen Schüsse. Die Medizinstudenten unter Führung von Victor Diaciuc und Octavian Vulpe versuchten eine letzte Aktion und traten in den Hungerstreik. Auch diese Studenten wurden verhaftet. Unmittelbar danach kam es zu einer spontanen Solidaritätskundgebung von Lyzeumsschülern, die mit 30 Festnahmen endete.

Insgesamt wurden während der Studentenunruhen in Temeswar etwa 2.000 Studenten verhaftet und in den Kasernen in Kleinbetschkerek und in der Calea Lipovei festgehalten, wo sie sich schriftlich von den Forderungen und Aktionen der Bewegung lossagen und die Bestrafung der Organisatoren fordern mussten. 868 Studenten wurden von der Securitate intensiv verhört und bearbeitet, aber schließlich nur 29 der „Verschwörung gegen die soziale Ordnung“ – ein Vergehen, das mit mindestens 15 Jahren Gefängnis, aber auch mit der Todesstrafe geahndet werden konnte – angeklagt. Da Rumänien international kein Aufsehen erregen und weitere Spannungen im studentischen Milieu vermeiden wollte, waren die Machthaber bestrebt, die Bedeutung und das Ausmaß der Bewegung herunterzuspielen. Im November und Dezember 1956 verurteilte das Temes­warer Militärgericht 26 Anführer der Revolte (einschließlich einem Assistenten) wegen „öffentlicher Aufwiegelung“ zu insgesamt 78 Jahren Gefängnis, so Caius Muțiu, Teodor Stanca und Aurel Baghiu zu je acht Jahren, Valentin Rusu zu sieben, Heinrich Drobny und Friedrich Barth zu je sechs Jahren, Ladislau Nagy zu 4 Jahren. 81 Studenten wurden exmatriku­liert, 126 bekamen geringere Strafen. Die Verurteilten kamen ins Gefängnis nach Gherla und in die Arbeitslager in der Balta Brăilei und im Donaudelta. Für manche Studenten schlossen sich nach ihrer Entlassung noch ein bis fünf Jahre Zwangs­aufenthalt im Bărăgan, hauptsächlich in Lătești, an. Sie wohn­ten in den verlassenen Häusern, die von den zwischen 1951 und 1956 in die Bărăgansteppe deportierten Banatern gebaut wurden. Auch das Lehrpersonal wurde nicht verschont. Mehrere Professoren wurden entlassen oder verwarnt.

Die Temeswarer Studentenrevolte war kein isolierter Akt. Zu Unruhen in der Studentenschaft kam es auch in Bukarest, Klau­senburg/Cluj und Jassy/Iași. Das Regionalkomitee Banat der PMR konstatierte eine extrem kritische Haltung der Banater Bevölkerung gegenüber den Exponenten des Regimes und eine „Zunahme antisowjetischer Manifestationen“, es herrsche allgemeine Aufregung und Nervosität. Unruhen, Bekundungen von Unzufriedenheit und Kritik an der Politik der Regierung waren an der Tagesordnung. Bürger sprachen Probleme an, auf die die Parteiaktivisten keine Antworten hatten. In Temeswar, Arad, Lugosch/Lugoj und Reschitza/Reșița äußerten sich Ar­beiter offen gegen die hohen Normen und Abgaben sowie gegen die Anwesenheit der sowjetischen Truppen. In Lugosch und Fatschet/Făget wurden regimefeindliche Flugblätter ver­teilt, auf Wänden standen Parolen wie „Russen raus“ und „Wir wollen Brot“. Auch in den Dörfern war die Lage explosiv. Parteiaktivisten und Securisten wurden geschlagen und verjagt, Bauern verweigerten die Zwangsabgaben und verlangten die Annullierung der Kollektivierung.

Vordergründig wurde die Temeswarer Studentenrevolte nieder­ge­schlagen. Ihre Folgen waren jedoch weitreichend. Noch im gleichen Jahr wurde die Führung des Bildungsministeriums ausgewechselt, die Studentenvereinigungen gewannen an Bedeutung und brachten bald eine eigene Zeitschrift heraus. Der obligatorische Russischunterricht wurde vom Lehrplan gestrichen und war fortan nur noch Wahlfach. Die Luftabwehrübungen wurden für ein Jahr ausgesetzt und die paramilitärische Ausbildung der Studenten wurde reduziert. Ab 1957 initiierte Ion Gheorghe Maurer – zunächst als Außenminister und Staats­oberhaupt, ab 1961 als Ministerpräsident – tiefgreifende Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik Rumäniens. Nachdem der Wirtschaftsexperte Alexandru Bârlădeanu mit der Koordination der Wirtschaft beauftragt wurde, verbesserte sich in den folgenden Jahren die materielle Lage der Bevölkerung spürbar. Die Löhne stiegen um 15 Prozent und im Januar 1957 wurden die Bauern von den Zwangsabgaben landwirtschaftlicher Produkte befreit. Außenpolitisch begann Rumänien mit einer vorsichtigen Öffnung gegenüber nichtsozialistischen Staaten und setzte immer mehr Akzente in Richtung Unabhängigkeit von Moskau. Im Sommer 1958 verließen die sowjetischen Truppen das Land. Die Studenten, die genau dies gefordert hatten, verbüßten ihre Strafen noch bis in die 1960er Jahre hinein.

Im Herbst 1956 waren 3.170 Temeswarer Studenten Mitglieder der Jugendorganisation der Partei, UTM. Deren Regionalkomitee konstatierte, dass nicht weniger als 2.819 UTM-Mitglieder an der Versammlung am 30. Oktober und an der Demonstration am 31. Oktober teilgenommen hatten, darunter auch UTM-Sekretäre wie Teodor Stanca, Heinrich Drobny und Stela Duvac. Aus Respekt vor der historischen Wahrheit muss festgehalten werden, dass die Temeswarer Studentenrevolte von 1956 kein antikommunistischer Aufstand, als was die Ereignisse heutzutage oft verzerrt dargestellt und von interessierter Seite gern vereinnahmt werden, war. Im Gegenteil, sie war eine Protest- und Reformbewegung innerhalb des Systems, die der Arbeit der Partei und der Regierung beim Aufbau des Sozialismus neue Impulse verleihen wollte. „Sie war ein Versuch, das System zu reformieren. Die Denkschrift beinhaltete keine Forderungen nach einer Regimeänderung oder nach einem Mehrparteiensystem. 1956 war eine Bewegung, die nicht aus den alten Strukturen kam, sondern von uns Kindern der neuen Gesellschaftsordnung. Es war eine Revolte der sozialistischen Gesellschaft.“ (Heinrich Drobny in: Sitariu 2004, S. 62-63, 153).

Durch die Niederschlagung der Temeswarer Studentenrevolte vergab die Rumänische Arbeiterpartei eine historische Chance. Die vollständige und nachhaltige Erfüllung der politischen For­derungen der Studenten hätte die rumänische Gesellschaft auf den Weg eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, in eine bessere Zukunft, bringen können. Am 4. November 1956 intervenierte die Rote Armee in Budapest und beendete das Experiment des demokratischen Sozialismus in Ungarn. Ob ein solches System dort oder in Rumänien eine Chance gehabt hätte, können wir nicht wissen, aber damals – und zwölf Jahre später in der Tschechoslowakei – erschien diese Vision eines Dritten Wegs durchaus zukunftsfähig.

Lit.: Bureau International du Travail, La gestion ouvrière des entreprises en Yougoslavie. Genève 1962, S. 341. Online: http:// staging.ilo.org/public/libdoc/ilo/ILO-SR/ILO-SR_NS64_fren.pdf (auf-gerufen am 16.10.2016). – Daniela Dahn, Staatseigentum ist Pri­vateigentum. Warum Staat und Eigentum getrennt werden müssen, in: agora42 – Das philosophische Wirtschaftsmagazin, Ausg. 3/2015, S. 33-36. – Die Forderungen der ungarischen Studenten. 14-Punkte-Resolution der Studenten der Budapester Technischen Hochschule vom 22./23.10.1956, in: Péter Gosztony, (Hg.), Der Ungarische Volksaufstand in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1966, S. 127-129. – Karl Ludwig Lupșiasca, War die Studentenbewegung von 1956 antikommunistisch? Online: http://www.banaterra.eu/german/content/
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Bild: Timișoaras Fakultät für Maschinenbau. Dort begann die aufständische Studentensitzung. / Quelle: Von Elisabeth Packi – Elisabeth Packi, Bild-frei, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=6053680

Uwe Detemple