Biographie

Riesemann, Oscar von

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Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Schriftsteller, Komponist, Musikwissenschaftler
* 29. Februar 1880 in Reval/Estland
† 29. September 1934 in St. Niklausen bei Luzern/Schweiz

Einen geschlossenen Lebenslauf von Oscar v. Riesemann darzustellen ist sowohl in Hinsicht auf den Lebensgang als auf das Schaffen und Wirken schwierig, da die Quellenlage lückenhaft ist. Die der Kürze geschuldeten lexikalischen Artikel kommen über schmale Faktensammlung nicht hinaus, andererseits sind mit zwei autobiographischen Büchern einige Lebensjahre stark ausgeleuchtet. Ähnliche Diskrepanzen zeigen sein vielseitiges Schaffen und Wirken.

 Bernhard Oscar v. Riesemann war der Sohn des bekannten Revaler Kommunalpolitikers Oscar v. Riesemann und der Marie geb. Paulsen. Der Vater, damals Stadthaupt von Reval, verstarb nach kurzer Erkrankung bald nach der Geburt seines Sohnes, am 15. Juli 1880. Das väterliche Erbe hat sich in dem Sohn in vielfältiger Weise voll erfüllt, in Bezug auf das Jura-Studium, auf die Musik, auf einen ausgeprägten Gemeinsinn und auf die Schriftstellerei.

Nach dem Revaler Gourvernements-Gymnasium studierte er an der Moskauer Universität Jura und war Klavierschüler des Konzertpianisten Louis Pabst. 1898 nahm er sein Studium in München an der Akademie der Tonkunst sowie an der Universität (Ludwig Thuille, Anton Beer-Wallbrunn, Adolf Sandberger, Wilhelm v. Riehl) auf, um dann in Moskau 1899 Philologie und seit 1900 bis 1904 Jura zu studieren und mit dem Staatsexamen abzuschließen. Zwischenzeitlich belegte er 1901 Musikwissenschaft an der Berliner Universität bei Oskar Fleischer und Max Friedländer sowie 1903 in Leipzig bei Hugo Riemann und Dirigieren bei Arthur Nikisch. 1907 promovierte er in Leipzig mit der Studie Die Notationen des altrussischen Kirchengesangs, die 1908 in Deutsch in Moskau erschien und zu einem Standardwerk wurde, das 1909 auch als Festschrift für Hugo Riemann der Internationalen Musikgesellschaft bei Breitkopf & Härtel Leipzig Verbreitung erlangte, mit Nachdrucken bis in die Gegenwart.

Riesemann lebte dann wieder in Moskau, wo er mit der Elite der russischen Musik in Verbindung stand. Über die Uraufführung von Alexander Skrjabins Prometheus in Moskau 1911 berichtete er u. a. in der Zeitschrift Signale für die musikalische Welt (Berlin). 1912/13 machte er eine abenteuerliche Reise durch Südamerika mit seinem Freund Peter Fürst von Lieven, der ebenfalls Musik studiert hatte. Die Reise schilderte Riesemann in Briefen für die Moskauer Deutsche Zeitung, welche 1914 als Buch herauskamen (2. Aufl. Berlin 1921). Riesemann leitete wiederholt die berühmten Kussewitzki-Konzerte in Moskau, wo er z. B. 1912 im Grossen Saal der Adelsversammlung unter Mitwirkung Rachmaninows dessen 3. Klavierkonzert, die 1. Sinfonie von Alexander Skrjabin, Wagners Tristan-Vorspiel und Isoldes Liebestod aufführte. Auch nach der Rückkehr aus Südamerika stand er wieder am Pult des Kussewitzky-Orchesters. Er trat häufiger als Pianist auf und erteilte auch Kompositionsunterricht, ein Moskauer Schüler war 1913-1915 Leo Spieß. Seit 1901 war er langjähriger Musikreferent an der Moskauer Deutschen Zeitung, bis nach Ausbruch des 1. Weltkriegs die Zeitung verboten wurde.

Während des Ersten Weltkriegs griff er auf ein anderes väterliches Erbe zurück, den ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl und seine organisatorischen Fähigkeiten. Mehr „zufälligerweise“ wurde er Geschäftsführer eines russischen Lazaretts des Allrussischen Landschaftsverbandes, des Zemstvo-Verbandes. Diese selbstlose Tätigkeit, wofür ihm ein Etat entsprechend einem kleineren Nationalstaat zur Verfügung stand, übte er auch in den Bürgerkriegsjahren aus, wo er das Lazarettwesen für die Weiße Armee organisierte und eigens produzierende Fabriken beaufsichtigte. Im Januar 1918 musste er Odessa fluchtartig verlassen, da ihm ein „kurzer Prozess“ auf dem Bolschewikenschiff Almas gemacht werden sollte, das in der Ferne vor Odessa auf der Reede lag. „Vom Almas war noch nie jemand zurückgekehrt. Die vermeintlichen Delinquenten verschwanden – in den Fluten des Schwarzen Meeres. Man band den Opfern unbrauchbar gewordene Projektile an die Beine und ‚verankerte‘ sie fest und sicher am Seeboden. Nie wurde eine Leiche am Strande angespült …“. Spätere Nachforschungen wurden bald eingestellt, „denn einer der Taucher verlor den Verstand, als er in den grotesken Reigen der auf dem Meeresgrund mit gespreizten Armen aufrecht hin und her schwankenden Leichen hineingeriet – es waren viele Hunderte, vielleicht mehr noch, Tausende“ (Fluchten S. 13). Seine Tätigkeit führte ihn auch in andere Städte im Süden Russlands, nach Ekaterinodar, wo er durch seinen Namen als Musiker und Pädagoge einige Zeit Unterkommen fand und dafür am dortigen Konservatorium unterrichtete.

Riesemanns Zeit der Fluchten endete erst 1921, als er über Rumänien, Bulgarien, die Türkei und Italien schließlich durch die Fürsprache seines Lehrers und Freundes Arthur Nikisch nach Deutschland gehen konnte, wo er vornehmlich in Münchenlebte und Ende der 1920er Jahre Generalsekretär der Deutschen Sektion des Europäischen Kulturbundes war. 1926 besuchte er seine Heimatstadt Reval wieder, wo er auch konzertierte, u.a. zusammen mit dem bekannten Violinprofessor Johannes Paulsen, den er in einem Beethoven-Abend begleitete. Anfang der dreißiger Jahre ließ er sich in der Schweiz nieder.

Mit seinen gediegenen musikwissenschaftlichen Schriften, die sich vor allem mit der russischen Musik befassten, so mit Studien zur altbyzantinischen Musik, mit Publikationen u.a. zu Modest Mussorgsky, Alexander Skrjabin und Nikolai Rimsky-Korsakoff und auch mit der Herausgabe mehrerer Notendrucke leistete er einen wesentlichen Beitrag zu Verbreitung russischer Musik im westlichen Europa und darüberhinaus. So schrieb sein Landsmann Kurt von Wolfurt, der selbst mit grundlegenden Schriften zur russischen Musik hervortrat über seine Monographien zur russischen Musik: „Riesemann verbrachte sein halbes Leben in Moskau, und es gibt heute niemanden, der mehr als er imstande wäre, diesen fesselnden und schwierigen Stoff zu meistern.“ Er hatte nicht nur mit seiner musikwissenschaftlichen Arbeit zur russischen Musik Erfolge, auch die beiden autobiographischen Bücher und seine Übersetzungen aus dem Russischen fanden Leser. Die Beschäftigung mit russischer Musik hatte in sein eigenes kompositorisches Schaffen Eingang gefunden. Sieht man von den 2 Walzern für Violine und Klavier (1927 Zimmermann Leipzig) ab, hat Riesemann ausschließlich Klaviermusik in russischen Verlagen vor dem 1. Weltkrieg veröffentlicht.

Am ehesten wahrnehmbar ist Riesemann heute noch als langjähriger Freund und Biograph von Sergej Rachmaninow, den er 1899 kennengelernt hatte und in seiner ersten Rezension 1901 als„Brahms der russischen Musik bezeichnete“. Riesemann hat sich publizistisch auch in Deutschland (z. B. Riemanns Musiklexikon Aufl. 1909) nachhaltig für Rachmaninow eingesetzt und seine Werke als Dirigent und Pianist immer wieder aufgeführt. Während Rachmaninows Aufenthalt in Dresden stand Riesemann in engem Kontakt zu ihm. Sie besuchten gemeinsam Opernaufführungen und Konzerte in Dresden und Leipzig. Später überredete er ihn zum Bau der Villa Serena bei Luzern, in deren Nachbarschaft Riesemann wohnte, wie auch der gemeinsame Freund und Weggefährte Peter Fürst von Lieven. Zum grundlegenden Werk wurde das aus dem deutschen Manuskript übersetzte Rachmaninoff’s recollections told to Oskar von Riesemann, das 1934 in London erschien, in jenem Jahr, als Riesemann seinem längeren Herzleiden erlag.

Es war Riesemann nicht gegeben, seine vielseitigen Begabungen zu bündeln, auch durch seine Lebensumstände in„jener Zeit, in der das grauenvollste und gewaltigste Experiment der Weltgeschichte vollzogen wurde, das Bolschewismus heißt und dessen große Tragweite sich wohl erst kommenden Generationen erschließen wird.“ (Einleitung Fluchten 1. Juni 1925) und so erfüllte sich auch seine Schlussmaxime des Südamerika-Buches: „Das Beste am Reisen ist – die Heimkehr“ nicht.

Werke: Zahlreiche Artikel und Aufsätze in Zeitschriften, Sammelwerken und Lexika; Werke für Klavier (ersch. b. den Moskauer Verlagen Jurgensohn und Gutheil). – Rund um Südamerika. Reisebriefe (Berlin 1914). – Fluchten. Abenteuerliche Kapitel aus meinem Leben (Stuttgart 1925). – Übers. Ivan Lukas, Moskau in Flammen, 2. Aufl. Berlin 1931. – Übers. u. bearb. v. L. L. Sabaneev, Geschichte der russischen Musik. Für deutsche Leser (Leipzig 1926). – Übers. N. A. Rimskij-Korsakov, Chronik meines musikalischen Lebens 1844-1906 (Stuttgart/ Berlin 1928). – Die Musik in Rußland vor Glinka (München 1923). – Modest Petrowitsch Mussorgsky (München1926, ND 1975, a. engl. 1929, ND 1971). – Monographien zur russischen Musik (München 1923 und 1926, ND Hildesheim 1975), Bd. I: Die Musik in Rußland vor Glinka, Glinka, Dargomyshki, Sseroff, Bd. II Mussorgski. – Übers. u. Einleitung Alexander Skrjabin: Prometheische Phantasien (Stuttgart 1924).

Lit.: Div. Musik- u. Literaturlexik. – Kürschners Deutscher Literatur-Kalender, Berlin 1932. – Reinhard Paulsen, Johannes Paulsen, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 1980 Jg. XXVII, S. 40. – Helmut Scheunchen, Lexikon deutschbaltischer Musik, Wedemark-Elze, S. 208f. – Charlotte Kratz,Die Rezeption von Sergej Rachmaninovs Konzerttätigkeit in Deutschland, Masterarbeit Marburg 2008, S. 57-63.