Philipp Spitta hatte maßgeblichen Anteil an der Fundierung der Musikwissenschaft, die sich als jüngste Disziplin im akademischen Fächerkanon etabliert hat. In Spittas akademischem Werdegang spiegelt sich gleichsam der Verwissenschaftlichungsprozeß der Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Spitta, der aus einem evangelischen Pfarrhaus stammte, studierte in Göttingen Klassische Philologie bei Hermann Sauppe und Ernst Curtius sowie Archäologie bei Friedrich Wieseler. Im Sommer 1864 wurde er mit einer lateinisch geschriebenen Arbeit über den Satzbau bei Tacitus promoviert. Spitta hatte bereits in jungen Jahren eine gediegene musikpraktische und -theoretische Ausbildung erhalten und sie in Göttingen, vor allem unter dem Einfluß des Deutschbalten Julius Otto Grimm, weiter vervollkommnet. Hier lernte er Johannes Brahms kennen (mit dem er später einen – auch gedruckt vorliegenden – Briefwechsel unterhielt) und Joseph Joachim, der ihm von der zeitweilig erwogenen Komponisten-Laufbahn abriet.
Seine erste berufliche Station führte ihn 1864 ins Baltikum. Nach dem hannoverschen legte er im Februar 1865 das russische Staatsexamen an der Universität Dorpat ab, die 1802 als deutsche Universität reorganisiert worden war, in der zweiten Jahrhunderthälfte ihre Blütezeit erlebte und weit in die Ostseeprovinzen ausstrahlte. Spitta unterrichtete zwei Jahre als Oberlehrer für Griechisch und Lateinisch an der Ritter- und Domschule in Reval. Seinen musikalischen Neigungen folgend trat er in Reval einem Männergesangverein bei, beschritt aberhier bereits zielstrebig den Weg musikhistorischer Forschung, arbeitete in Revaler Archiven und trat mit einem großen Vortrag über Johann Sebastian Bach hervor. Damit hatte er das Thema aufgegriffen, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Von Reval aus gelang ihm einer der bedeutendsten Funde der Bach-Forschung überhaupt: Mit Hilfe seines Freundes Riesemann zog er aus dem Moskauer Hauptstaatsarchiv Bachs Brief vom 28. Oktober 1730 an seinen ehemaligen Ohrdrufer und Lüneburger Mitschüler Georg Erdmann, damals kaiserlich-russischer Resident in Danzig, ans Licht – ein Schlüsseldokument für Bachs Biographie. Es hat seitdem so viele Deutungsversuche erfahren wie kaum ein anderer Musikerbrief und ist in jüngster Zeit – mit deutlicher Kritik an Spittas Interpretation – als Hauptquelle für die „Umrisse eines neuen Bach-Bildes“ (Friedrich Blume, 1962) interpretiert worden. Erst 1983 sollte der Fund eines weiteren Bach-Briefes an Erdmann in Moskau gelingen.
In Estland nahm Spitta inneren Anteil am Kampf der baltischen Patrioten um die, Aufrechterhaltung deutscher Sprache und Gesittung, deutschen Wesens und Lebens“ gegen die aufkommenden Russifizierungsbestrebungen. Er hat darüber in einem warmherzigen Nachruf auf Oskar von Riesemann, den mit ihm befreundeten Revaler Stadtsyndikus, berichtet.
Da seiner Frau das rauhe Klima der baltischen Küstenstadt nicht gut bekam, gab Spitta 1866 seine Stelle auf. Er ging an das Gymnasium in Sondershausen, mitten in die Heimat Johann Sebastian Bachs, dessen Spuren er jetzt in den thüringischen Archiven systematisch folgte. Ergebnis seiner quellenkritischen, philologisch-exakten Forscherarbeit war 1873 der erste Band seiner monumentalen Bach-Biographie. Unmittelbar danach verbrachte er den Sommer 1873 zur Erholung wieder in Reval. Das Buch brachte Spitta Ostern 1875 die Berufung nach Berlin als Lehrer für Musikgeschichte (seit 1879 Mitdirektor) an der Hochschule für Musik unter gleichzeitiger Ernennung zum zweiten ständigen Sekretär an der Akademie der Künste und als Extraordinarius für Musikwissenschaft an der Universität ein. In diesen Positionen entfaltete er eine immense Schaffenskraft: 1875/76 gab er die Orgelwerke Dietrich Buxtehudes in zwei Foliobänden heraus, 1880 folgte der zweite Band der Bach-Biographie (1979 die achte unveränderte Auflage, 1883/85 die englische, 1950 die spanische Übersetzung), 1882 Ein Lebensbild Robert Schumann’s; 1885 rief er mit Guido Adler und Friedrich Chrysander die Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft ins Leben, von 1885 bis 1894 gab er die Gesamtausgabe der Werke von Heinrich Schütz in sechzehn Foliobänden, 1889 eine Auswahl der musikalischen Werke Friedrichs des Großen heraus, 1892 initiierte er die bis heute laufende Edition der Denkmäler Deutscher Tonkunst, 1892 und 1894 folgten seine gesammelten Studien Zur Musik und Musikgeschichtliche Aufsätze(Nachdruck 1976).
Spitta war der Geschichtsschreibung des Historismus verpflichtet, wie sie der gleichzeitig in Berlin wirkende Leopold von Ranke geprägt hatte, mit dessen Werk er vertraut war. Das Rüstzeug des Historikers hatte er sich bei dem Ranke-Schüler Georg Waitz in Göttingen erworben, der im gleichen Jahr wie Spitta nach Berlin berufen wurde, um die Leitung derMonumenta Germaniae Historica zu übernehmen, die ihrerseits Vorbild für die Denkmäler Deutscher Tonkunst waren. Spitta führte die Musikgeschichtsschreibung auf die Höhe der Historiographie seiner Zeit, wobei er sich stets der anzuwendenden Methode vergewisserte, die er auch gelegentlich explizit erläuterte (etwa in seinem Aufsatz Denkmäler deutscher Tonkunst, in: Die Grenzboten 1893). Spitta stellte die hervorragende Einzelpersönlichkeit in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Er fragte nach der Individualität und ihren Wirkungen, nach ihren geschichtlichen Voraussetzungen und den „klar zu entfaltenden Verhältnissen“, in denen sie gelebt. Zu gesicherten Erkenntnissen suchte er auf der Basis „sorgfältiger Durchforschung“ aller in Frage kommenden Archive unter Verwendung der Urkundenkritik zu gelangen, die „alle ihre Instrumente zur Anwendung bringen“ müsse. In der Darstellung fühlte er sich, darin dem Vorbild Rankes folgend, der „Forderung stilistischer Einheit“ verpflichtet (vgl. Vorwort zu J.S. Bach). In dem AufsatzKunstwissenschaft und Kunst hat er eine Begründung der Musikwissenschaft als selbständige Disziplin vorgelegt.
Spitta hat selbst gespürt, wie Organisationskraft und Forscherfleiß, die er sich im Übermaß abverlangte, seine Kräfte verzehrten. Ein Herzschlag riß ihn mitten aus der Arbeit. Sein Name ist in der Musikforschung so lebendig geblieben wie kaum ein anderer.
Nachlaß: Musikabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; Bibliothek der Hochschule der Künste (West-)Berlin; Universitätsbibliothek Lodz; Arnold Mendelssohn-Archiv der Kreuzkirchengemeinde Bonn.
Lit.: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Philipp Spitta und Otto Dessoff. Hg. v. Carl Krebs. Berlin 1921-1922 (= Brahms-Briefwechsel, Bd. 16). – Willibald Gurlitt: Der Musikhistoriker Philipp Spitta (1942). Wieder in: Ders.: Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge, Teil II. Wiesbaden 1966 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 2), S. 140-148. – Friedrich Blume: Umrisse eines neuen Bach-Bildes (Vortrag Mainz 1962). In: Musica 16 (1962) S. 169-176. Wieder in: Ders.: Syntagma musicologicum. Gesammelte Reden und Schriften. [Bd. I]. Kassel [u.a.] 1963, S. 466-479, 898-899. – Walter Wiora (Hg.): Die Ausbreitung des Historismus über die Musik. Aufsätze und Diskussionen. Regensburg 1969 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 14), – Siegfried Borris: Philipp Spitta und die deutsche Bachpflege seiner Zeit. In: Günter Wagner (Hg.): Bachtage Berlin. Vorträge 1970 bis 1981.Neuhausen-Stuttgart 1985, S. 235-248. – Christoph Wolff: From Berlin to Lodz: The Spitta Collection resurfaces. In: Notes 46 (1989) S. 311-327.
Bild: Straßburg 1980 (Privatbesitz).