Im August 2021 jährte sich die Deportation der Russlanddeutschen unter Josef Stalin zum 80. Mal. Aus diesem Anlass richtete die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen gemeinsam mit dem Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK) eine zweitägige historische Fachtagung mit dem Titel „Lebenswelten von Russlanddeutschen in der Sowjetunion nach 1953 und bis heute“ aus. Im Fokus der Veranstaltung standen die Folgen und das Nachgeschehen des Terrors und der Repression in den Sondersiedlungsgebieten in Kasachstan und Sibirien sowie schließlich die Ausreise der Russlanddeutschen aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten.
Am 22. und 23. Juli kamen Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Russland und Kasachstan online und vor Ort im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold zusammen, um bisher weitgehend unbekannte Themen, Aspekte und Zeiträume der russlanddeutschen Geschichte zu beleuchten und gemeinsam zu diskutieren.
Zunächst begrüßte Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung, die Referentinnen und Referenten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Er hob dabei den 80. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen hervor, der nicht nur mit dieser Tagung, sondern auch mit zahlreichen weiteren Veranstaltungen 2021 im In- und Ausland gewürdigt wird. Anschließend hielten Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, Dr. Olga Martens, stellvertretende Vorsitzende des IVDK, Johann Thießen, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR), Kornelius Ens, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte und Edwin Warkentin, Kulturreferat für Russlanddeutsche, Grußworte.
Kornelius Ens nahm die Zuschauer und Zuschauerinnen zum Einstieg mit auf einen virtuellen Rundgang durch das Museum und stellte zugleich die Webseite und die digitalen Angebote seiner Institution vor. Danach übernahm Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin für Geschichte, Staats- und Völkerrecht sowie Literatur bei der Kulturstiftung, die Moderation der Tagung.
Dr. Wladimir Chasin, Historiker an der Staatlichen Universität Saratow, betrachtete in seinem Grundsatzreferat zum Auftakt der Tagung die Nationalitätenpolitik des sowjetischen Staates gegenüber den Russlanddeutschen. Er zeigte auf, dass dessen Verordnungen verkompliziert und widersprüchlich, die daraus hervorgegangenen Kompromisse und Lösungsansätze ineffektiv und halbherzig waren. Wenngleich der Staat das Regime der Sondersiedlungen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre aufhob, blieb den Russlanddeutschen die Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete verwehrt. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte erfuhren sie zwar sukzessiv eine Wiederherstellung ihrer bürgerlichen Rechte, etwa in den Bereichen Bildung und Kultur, doch untersagte der Staat ihnen jegliche Form von nationaler Selbstorganisation. Projekte wie die Schaffung eines autonomen Gebiets in Kasachstan oder an der Wolga scheiterten. Infolgedessen avancierten immer mehr Russlanddeutsche zu Gegnern der offiziellen sowjetischen Politik und forderten das Recht auf Ausreise in die Bundesrepublik oder in die DDR.
Dr. Dr. h. c. Alfred Eisfeld, Historiker und Geschäftsführer des Göttinger Arbeitskreises e. V., machte in seinem anschließenden Grundsatzbeitrag deutlich, dass die Russlanddeutschen schon lange vor 1941 in die Fänge der staatlichen Sicherheitsorgane geraten waren und insbesondere während des Großen Terrors der 1930er Jahre unter Repressalien litten. Anders als Dr. Chasin nannte er für ihre Deportation auch wirtschaftliche Gründe und führte aus, dass die Gebiete in Kasachstan und Sibirien, in die die deutsche Bevölkerung verbannt wurde, „reich an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen waren und einen hohen Arbeitskräftebedarf aufwiesen“. Eisfeld zufolge habe man seit den 1920er Jahren versucht, diese Gegenden „durch die planmäßige Umsiedlung ‚überschüssiger Landbevölkerung‘ zu erschließen“ – bis dato aber nur mit wenig Erfolg. Dass sich die Russlanddeutschen in der Sowjetunion nicht frei entwickeln konnten, lag seiner Auffassung nach an drei sich überschneidenden Determinanten. Hierzu gehörten die Unifizierungsbestrebungen des Staates und die diskriminierende Einteilung von ethnischen Gruppen in „unzuverlässige Völker“, die Unterordnung von privaten Lebensentwürfen unter staatliche Interessen sowie die fehlenden oder nur unzureichenden zivilgesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten.
Die folgende Tagungsrunde widmete sich „Sprache und Identität“. Dr. Aleksandr Minor, Linguist an der Staatlichen Universität Saratow, hielt zunächst einen Vortrag über Sprachvarietäten und Identität der Russlanddeutschen. Dabei skizzierte er die Perioden der russlanddeutschen Sprachgeschichte und stellte Sprachvarietäten vor. Die Blütezeit der deutschen Sprache von 1917 bis 1941 fiel mit der Existenz der Autonomen Republik der Wolgadeutschen zusammen. Bezüglich der Sprachvarianzen unterschied Minor für diese Zeit zwischen der Landbevölkerung, die ihren Heimatdialekt als Hauptkommunikationsmittel nutzte; der jungen Generation der Wolgadeutschen, die neben ihrem Heimatdialekt auch Hochdeutsch beherrschte; der jungen Intelligenz der Wolgadeutschen, die die Schaffung einer einheitlichen wolgadeutschen Sprache vorantrieb; und schließlich den „alten“ Intellektuellen, die ihren Heimatdialekt, Hochdeutsch und Russisch sprachen. Die Deportation führte schließlich zum Verlust der Muttersprache und zum russischen Monolingualismus.
Den zweiten Beitrag lieferte der Historiker Prof. Dr. Arkadij Herman von der Staatlichen Universität Saratow, der den historischen Weg der nationalen Bewegung der Russlanddeutschen nach dem Krieg nachzeichnete. Er demonstrierte, dass sich die Russlanddeutschen im Zuge ihres Deportationsschicksals zwar immer stärker als ein einheitliches Volk wahrnahmen. Die Verteilung über ein riesiges Territorium führte jedoch rasch zur Anpassung an die gegebenen Bedingungen und zur Assimilation. Für den Weg ihrer nationalen Bewegung machte Prof. Herman sieben Etappen aus. Ihren Ausgang nahm die Bewegung im Jahr 1955, als die Russlanddeutschen zunächst durch Briefe und Eingaben an Partei- und Staatsorgane auf sich aufmerksam machten und gleiche Bürgerrechte für sich einforderten. Für die siebte Etappe, die 2009 begann und bis heute anhält, hofft Prof. Herman auf eine größere Selbstorganisation und die Beilegung innerer Streitigkeiten.
Den Abschluss des ersten Tagungstages bildete eine von Dr. Kathleen Beger moderierte Podiumsdiskussion zum Thema „Russlanddeutsche heute – Leben zwischen zwei Welten“, an der Dr. Olga Martens, Johann Thießen, Edwin Warkentin, Hartmut Koschyk, Parlamentarischer Staatssekretär a. D. und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, sowie Prof. Dr. Tatjana Ilarionowa, Russische Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation, teilnahmen. Dabei wurde deutlich, dass es die Russlanddeutschen als homogene Gruppe nicht gibt, nicht zuletzt deshalb, weil sie ein globales Phänomen darstellen und nicht nur in Deutschland, Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sondern auch in Nord- und Südamerika leben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Diskussionsrunde stimmten auch dahingehend überein, dass die Identität der Russlanddeutschen keine abgeschlossene Einheit, sondern vielmehr einen fluiden Prozess darstellt, und dass ihre Identität geradezu nach einer offenen flexiblen Form verlangt, wenn die Russlanddeutschen als Bereicherung in zwei oder auch mehr Welten wahrgenommen werden, Brückenkopf- und Vermittlerfunktionen zwischen mehreren Ländern ausüben wollen.
Literatur, Glaube und Kulturkontakt
Der zweite Tagungstag begann mit dem Panel „Literatur, Kultur und Bildung“. Der Historiker Dr. Viktor Krieger vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) begann mit einem Vortrag zum russlanddeutschen Samisdat, der Verbreitung von unzensierten, behördlich nicht genehmigten Schriften. Krieger zufolge bildete sich im Zuge der Autonomiebestrebungen in den 1960er Jahren zunächst ein politischer Samisdat heraus. Als sich immer deutlicher abzeichnete, dass der Staat den Forderungen nach einer neuen Wolgarepublik nicht nachkommen würde, gaben immer mehr russlanddeutsche Aktivisten ihre anfangs pro-sowjetische systemloyale Haltung zugunsten einer pro-westlichen auf, avancierten zu Oppositionellen und begründeten damit den Samisdat der Ausreisebewegung. Indem viele Russlanddeutsche in der Sowjetunion auf der Einhaltung von bürgerlichen, nationalen und auch religiösen Rechten bestanden, die durch die Verfassung und internationale Verträge verankert waren, trugen sie laut Krieger dazu bei, das System zu delegitimieren und seinen Untergang herbeizuführen.
Anschließend folgte ein Beitrag von der Historikerin Prof. Dr. Irina Tscherkasjanowa, der der Wiedergeburt der deutschen Bildung in der Sowjetunion zwischen den 1950er und 1980er Jahren gewidmet war. Wie Tscherkasjanowa demonstrierte, wurde 1957 zwar die Einführung muttersprachlichen Deutschunterrichts für Kinder an Schulen der Russischen SFSR, Kasachischen SSR und der Kirgisischen SSR beschlossen. Bei der praktischen Umsetzung offenbarte sich jedoch eine Reihe von Problemen. Zum einen mangelte es an Lehrmaterial und an Lehrkräften, zum anderen oblag es der Entscheidung der Eltern, ob ihre Kinder auf Deutsch unterrichtet werden oder nur fremdsprachlicher Deutschunterricht stattfindet. Hinzu kommt, dass auch Schulleiter darüber bestimmten, ob an ihrer Institution auf Deutsch unterrichtet wird oder nicht. Insgesamt, so Tscherkasjanowa, sei die Bildungs- und Kulturarbeit der Russlanddeutschen bis in die späten 1980er Jahre hinein von zahlreichen Unzulänglichkeiten geprägt gewesen.
Das dritte Panel „Glaube und Religion“ begann mit einem Vortrag der Historikerin Ljudmila Burgart über russlanddeutsche Christen in Zentralasien zwischen den 1960er und 1990er Jahren. Sie machte deutlich, dass die Russlanddeutschen verschiedenen Religionsgemeinschaften, insbesondere Katholiken, Lutheranern und Mennoniten, angehörten. Die sowjetische Politik ihnen gegenüber charakterisierte sie als ambivalent und widersprüchlich, da die Russlanddeutschen jenseits aller staatlichen Verbote und Einschränkungen Mittel und Wege zur religiösen Selbstorganisation fanden. Einerseits kamen viele in illegalen Gebetsgruppen zusammen, hielten verbotenerweise Gottesdienste ab oder erwarben Häuser, die sie insgeheim zu Kirchen umgestalteten. Andererseits bestand in den 1950er und 1960er Jahren auch die Möglichkeit, Religionsgruppen zu legalisieren und Pfarreien, Gemeinden, Kapellen und Gebetshäuser offiziell registrieren zu lassen.
Die Tatsache, dass Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion mit einer offiziellen Registrierung legal agieren konnten, spielte auch im Vortrag der Historiker Apl. Prof. Dr. Dr. h. c. Victor Dönninghaus vom Nordost-Institut (IKGN e. V.) an der Universität Hamburg und Dr. Andrej Savin von der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften eine Rolle. Dönninghaus und Savin, die sich dem russlanddeutschen religiösen Dissens in der Breschnew-Ära zuwandten, führten dabei aus, dass viele russlanddeutsche Gemeinden eine staatliche Registrierung ablehnten und es stattdessen vorzogen, in der Illegalität zu bleiben, als sich staatlicher Einmischung und Kontrolle auszusetzen. Nicht-registrierte Gemeinden sahen sich infolgedessen vom Staat verfolgt und politisiert.
Zum Abschluss des dritten Panels sprach Erzbischof Dietrich Brauer von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland zur gegenwärtigen Lage der Religion des Landes. Dabei betonte er, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche viel für die historische Aufarbeitung und Erinnerung tue, Kirchen und Museen baue, Literatur herausgebe und Aufklärungsprojekte initiiere. So habe es zum 75. Jahrestag des Kriegsendes eine Ausstellung zu christlichen Märtyrern gegeben, die den Widerstand evangelischer, katholischer und orthodoxer Christen gegen die Diktatur proträtierte.
Zum Thema „Kulturkontakt und Migration“ referierte die Historikerin und Philosophin Prof. Dr. Tatjana Ilarionowa von der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst. Sie sprach über interkulturelle Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft im heutigen Russland. Hierzu stellte sie mehrere Faktoren vor, die diese Beziehungen bestimmen, darunter das 1996 verabschiedete föderale Gesetz „Über nationale Kulturautonomie“ und die Gesetzgebung zum Schutz kleiner indigener Völker. Wie Ilarionowa verdeutlichte, trug die staatliche Gesetzgebung in den letzten 30 Jahren wesentlich dazu bei, dass sich die Situation zwischen Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft stabilisierte und heute weniger konfliktreich ist als in den 1990er Jahren, obwohl natürlich auch Russland mit Phänomenen und Tendenzen wie Rassismus und Nationalismus zu kämpfen hat. Erschwerend auf die Arbeit der Minderheiten wirkt sich in den letzten Jahren allerdings auch das Gesetz hinsichtlich „ausländischer Agenten“ aus, aufgrund dessen vielen Minderheitenorganisationen Gelder aus dem Ausland fehlen.
Die Tagung wurde live auf Youtube übertragen und ist nun auf dem Youtube-Kanal der Kulturstiftung im Originalton und mit deutscher Tonspur abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo
- Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen / (kab)
Der Text der Pressemitteilung als pdf:
2021-08-06-KS-15-Tagung-Russlanddeutsche-Detmold