Biographie

Leh, Matthias

Herkunft: Donaugebiet, Siebenbürgen
Beruf: Präsident der Genossenschaft Agrária in Entre Rios
* 9. März 1937 in Tomaschanzi/ Syrmien, Jugoslawien
† 28. Juni 1994 in Entre Rios/ Brasilien

Wer gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach der Verfolgung der volksdeutschen Minderheit Jugoslawiens durch Titos kommunistische Partisanen entkommen konnte, fristete oft ein jahrelanges kümmerliches Dasein in überfüllten österreichischen Sammellagern ohne langfristige Perspektive zum Aufbau einer neuen Existenz. So auch die aus Tomaschanzi, Kreis Djakowo, in Syrmien geflohene Familie des siebenjährigen Mathias Leh. In den sieben Jahren, die sie in der Steiermark zubrachte, genoss der aufgeweckte Junge immerhin eine solide Schulbildung, vier Jahre Grundschule in St. Peter im Sulmtal und die Hauptschule in Deutsch-Landsberg. Einen Ausweg aus ihrer aussichtsarmen Lage bot 1951 die Gründung einer Kolonie im brasilianischen Bundesstaat Paraná. Diese von der Schweizer Europahilfe finanzierte Chance konnten 2.446 donauschwäbische Siedler bzw. 500 Familien wahrnehmen, von denen die meisten Ackerbauern und Handwerker waren. Zu ihnen gehörte auch die Familie des damals vierzehn Jahre alten Mathias Leh. Sie schloss sich einer Auswanderergruppe in das Munizip Guarapuava an, wo gerade die donauschwäbische Siedlung Entre Rios mit ihren fünf Dörfern entstand. Hier hofften sie, sich und ihren Nachkommen eine neue Heimat aufbauen zu können.

Jedoch standen die ersten 15 Jahre der Siedlung unter keinem guten Stern. Ausbleibende Ernteerfolge und Schulden zwangen viele Familien dazu, in brasilianischen Städten Arbeit zu suchen. Bevor die Siedler sich an das Klima angepasst und gelernt hatten, geeignete Nutzpflanzen zur rechten Zeit anzubauen, dem Boden die nötige Düngung zuzuführen, ihn mit passenden Maschinen zu bearbeiten und die Ernte optimal zu vermarkten, war schon mehr als die Hälfte der Kolonisten abgewandert, vor allem nach Deutschland mit seinem Wirtschaftswunder. Die Siedlung drohte zu scheitern.

Wie viele andere junge Männer und Frauen ging auch Mathias Leh nach São Paulo, um Geld zu verdienen, das auf der Siedlung so dringend benötigt wurde. Nach drei Monaten in einem Restaurant als Tellerwäscher und Kartoffelschäler wurde er Bürogehilfe in einer Export- und Importfirma. Um aufzurücken, besuchte er im deutschen Hans-Staden-Institut Kurse für Portugiesisch und Buchführung.

Nach zweieinhalb Jahren kehrte er 1955 nach Entre Rios zurück und widmete sich der Arbeit in der Landwirtschaft, die er von der Pike auf erlernte. Seine frisch erworbenen kaufmännischen Kenntnisse bewährten sich im seinerzeit blühenden Handel mit Trockenreis. Zusammen mit seinem Bruder Philipp, der eine Reismühle betrieb, erledigte er als Teilhaber den geschäftlichen Teil der Firma. 1958 heiratete Mathias Leh seine Frau Elisabeth, geb. Mayer. Vier Töchter und ein Sohn kamen zur Welt. Ab 1962 begann er, sein Kapital in den Aufbau eines eigenen landwirtschaftlichen Betriebes zu investieren, der den Unterhalt seiner Familie garantieren sollte. Die Äcker, Maschinenparks und Wirtschaftseinrichtungen versetzte er in einen mustergültigen Zustand.

Seine administrativen Fähigkeiten erprobte Leh schon in jungen Jahren als Sekretär und Buchhalter der Ortsgenossenschaft der Agrária im zweiten Dorf Jordãozinho. Er zeichnete sich durch Umsicht, Korrektheit und Initiative aus. Damals hatte die Siedlung noch vier Dorf- und eine Zentralgenossenschaft. Im Jahr 1965 wurde er zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Zentralgenossenschaft gewählt und brachte bei den Sitzungen und Generalversammlungen sachlich fundierte Vorschläge ein, die aufhorchen ließen. So war es kein Wunder, dass bei der Generalversammlung am 6. Juni 1966 er zum Präsidenten der Genossenschaft erhoben wurde.

Mit dem damals 29-jährigen Mathias Leh kam eine jüngere, dynamische Generation an die Spitze der Genossenschaft und damit der Verwaltung der fünf Dörfer, die mit den brasilianischen Gegebenheiten und der Landessprache, dem brasilianischen Portugiesisch, schon bestens vertraut war. Mit seinen jungen Mitarbeitern konnte Leh die entscheidende Wende aus der existenzbedrohenden Krise von Entre Rios herbeiführen und dadurch die Abwanderung stoppen. Seine entschlussfreudige Tatkraft und standfeste Zielstrebigkeit, sein pragmatischer Weitblick, seine selbstsichere Kontaktfreude und ausgleichende Natur konnten sich nun zusammen mit seiner suggestiven Überzeugungskraft voll entfalten. Was er bei seinem Amtsantritt als Präsident vorfand, war ein Berg von Problemen, die alle unlösbar schienen und in eine Tristesse des Niedergangs mündeten. Es ging ums nackte Überleben als Gemeinschaft. Aber mit seiner Vision der Erneuerung, die er durch einen langfristigen Arbeitsplan mit klaren Vorstellungen beglaubigen konnte, flößte er den Bauern Mut ein. Sie gewannen neues Vertrauen zu sich selbst sowie zu ihren Institutionen, also zur Genossenschaft. Diese wie auch ihre einzelnen Mitglieder gewannen ihre Kreditwürdigkeit zurück.

Als inspirierende Führungspersönlichkeit stieß Leh eine Aufwärtsentwicklung an, deren Impuls bis heute spürbar ist. Zunächst stärkte er die Cooperativa, die von Anfang an Siedlungsträgerin war, erwarb außerhalb des Siedlungsgebietes 2.000 Hektar Neuland und führte eine innere Landreform durch, bei der 14.000 Hektar flurbereinigt wurden. Kleine Fazendas kaufte die Agrária und veräußerte sie wieder an die jeweiligen Nachbarn, um die bei der ersten Landverteilung zu kurz gekommenen Bauern abzufinden und rentable, also existenzsichernde Be­triebs­größen von jeweils rund 100 Hektar für die vollmechanisierte Bearbeitung herzustellen.

Für die Siedlergemeinschaft war diese interne Agrarreform von ungeheurer Bedeutung und hatte zündende Wirkung. In Brasilien und darüber hinaus hat sie Beachtung gefunden. Universitäten und Parlamentsausschüsse für Agrarfragen haben sich dafür interessiert, bei der Neufassung der brasilianischen Konstitution wurde sie im Parlament hervorgehoben, und im November 1990 strahlten die Fernsehstationen Brasiliens den Besuch des Landwirtschaftsministers Cabrera bei den Donauschwaben aus. Er wollte sich in Zusammenarbeit mit der Siedlung um die Lösung nationaler Probleme im Bereich seiner Verantwortung kümmern.

Leh bahnte Partnerschaften mit der brasilianischen Regierung an, die Kontakte zu deutschen, österreichischen und schweizerischen Behörden ermöglichten, um Zugang zu Forschungstechnologien und Kenntnissen über den Einsatz neuer Kulturen wie Soja und Gerste zu gewährleisten. Nach über zwanzig Jahren konnten die donauschwäbischen Bauern endlich befriedigende Erträge auf bis dahin kargem Boden ernten.

Die Landreform des „presidente“ Leh forderte den Bauern viel Fleiß und Disziplin ab. Aber zusammen mit seinen außerordentlichen Fähigkeiten als Lenker der Siedlungsgeschicke und seiner Findigkeit bei der Erschließung von Helfern und Hilfsquellen hat diese Erneuerung die Siedlung gerettet und auf den Weg zu erstaunlichen Erfolgen geführt. Eine Metamorphose von biederem Bauernfleiß zu diplomatischer Weltläufigkeit hatte sich im Präsidenten der Agrária personifiziert und eine Revolution von oben ausgelöst. Leh zog dank seines Verhandlungsgeschicks Fachkräfte aus dem In- und Ausland heran. Durch deutsche Entwicklungshilfe stehen seit 1968 moderne Maschinen sowie geeignete Dünge- und Pflanzenschutzmittel als nötiger Unterbau zur Verfügung. Eine landwirtschaftliche Expertengruppe wurde eingesetzt, um die Bauern ständig zu beraten und ihre technischen Kenntnisse zu erweitern. Neben Agronomen verfügt die Agrária seither auch über Veterinäre und Agrartechniker sowie über eine moderne landwirtschaftliche Versuchsstation mit 300 Hektar Experimentiergelände, die neue Erkenntnisse für Anbau und Ernte, Lagerung und Aufbereitung verschiedener Kulturpflanzen sofort an die Bauern weitergibt und Gutachten für Finanzierungen erstellt. Längst ist sie Motor der landwirtschaftlichen Entwicklung geworden und hat überregionale Bedeutung gewonnen. Außer der Ertragsfähigkeit der Böden untersuchen die Experten in erster Linie anbautechnische Probleme, erproben neue Sorten und Saatgut, Pflanzenschutz- und Düngemittel, Fruchtfolgen und Zwischenfrüchte. Um den landwirtschaftlichen Entwicklungsstand im Ausland kennen zu lernen, werden hin und wieder kleine Gruppen von Bauern und Genossenschaftsmitgliedern in die USA, nach Kanada, Deutschland, Österreich, Holland, Argentinien und Uruguay geschickt. Mit all diesen Maßnahmen zur Informationsgewinnung soll erreicht werden, dass die bäuerlichen Betriebe modern, effizient, rationell, umweltschonend und mit einem möglichst großen Radius an Diversifikation geführt werden können.

Leh regte auch den Anbau von Gerste und Hafer an und plante die dazu erforderliche Agro-Industrie. 1977 wurde die Agromalte S. A. gegründet, in der die in der Region angebaute Braugerste in Malz umgewandelt wird, um die nationalen Brauereien zu beliefern. Durch ihre Mälzerei wurden die Donauschwaben zu den größten Produzenten von Braugerste in Brasilien und zu den zweitgrößten in ganz Südamerika.

Die nun folgende schnelle Entwicklung und beachtliche Steigerung der Produktion legte einen Zusammenschluss der fünf Ortsgenossenschaften in eine starke Zentralgenossenschaft und den Bau eines modernen zentralen Industriesektors mit ausreichender Empfangs- und Lagerkapazität sowie Anlagen zur Verarbeitung und Veredelung der gesamten Produktion nahe. Auf 40.000 Quadratmetern entstand im Lauf der Jahre alles, was ein neuzeitlicher genossenschaftlicher Betrieb erfordert: von einer elektronischen Prüfanlage für die Getreideübernahme über ein Keimversuchslabor, Saatgutanlagen, Lagerhallen und Hochsilos für Saatgut, Frucht und Kunstdünger, ein Keimversuchslabor, Mühlen für Weizen, Roggen und Reis, ein Futtermittelmischbetrieb bis hin zu Betriebswerkstätten. Für die zahlreichen zugezogenen Arbeiter und ihre Familien wurden Dienstwohnungen und ein Arbeiterdorf mit eigener Kirche und Schule errichtet. Diese und weitere Maßnahmen dienten einer gleichberechtigten Integration und der Sicherung des sozialen Friedens.

Unter Leh als Bauherr entstanden ein neues Verwaltungsgebäude, Wasserleitungen, Tankstellen und Telefonanschlüsse für alle fünf Dörfer sowie ein Supermarkt. Die Landesregierung baute durch sein energisches Eintreten eine 30 km lange Asphaltstraße von Guarapuava nach Entre Rios, eine wesentliche Errungenschaft bei der hohen Frequenz allein an Transportverkehr. Das alte Krankenhaus wurde wesentlich erweitert und modernisiert. Es ist mit zwei OP-Sälen, einer Entbindungsstation mit Brutkästen und einer Kapazität von 40 Krankenbetten ausgestattet. Auch die altbrasilianischen Neubürger sind so gesundheitlich mitversorgt.

Neben der Infrastruktur und Wirtschaft, dem Sozial- und Gesundheitswesen bauten Leh und seine Mitstreiter auch den Bildungs- und Kultursektor umfassend aus. Die Kulturarbeit profitierte von den engen Beziehungen zu Deutschland, Österreich und der Schweiz, um die sich Leh intensiv bemühte. Die schwachen örtlichen Schulvereine der Siedlung wurden zusammengelegt und eine repräsentative Zentralschule für 500 Schüler errichtet, die das vollständige brasilianische Schulsystem umfasst und durch die Entsendung von fünf Deutschlehrern (1980) zur Universitätsreife führt. Mit umfangreicher Bibliothek, Labors für Biologie, Physik und Chemie, Übungscomputern, einem Sprachlabor und über 1.000 deutschsprachigen Videos ist das „Colégio Imperatriz Dona Leopoldina“ zeitgerecht assortiert und gehört zweifellos zu den am besten ausgerüsteten Schulen im Staat Paraná. Studierenden steht in der Landeshauptstadt Curitiba das Wohnheim „Casa Austria“ zur Verfügung, das von der Republik Österreich und dem Land Tirol mitfinanziert wurde. Für die Erwachsenenbildung sind in Entre Rios diverse Abendkurse im Angebot. Für die heranwachsende Jugend wurde das Jugendcenter mit einem Clubhaus gebaut. Und von allen Teilen der Bevölkerung kann ein schönes Freizeitzentrum mit Badesee genutzt werden. Neben einer eigenen Zeitschrift hat Entre Rios auch einen eigenen Radiosender. Zur Bewahrung des Kulturerbes der Donauschwaben wurde in Entre Rios ein Kulturzentrum gebaut und später auf den Namen Lehs getauft. Während dort volkstümliche deutschsprachige Theaterstücke zur Aufführung kommen und drei Dutzend Kulturgruppen üben und auftreten können, wird in einem Museum die Siedlungsgeschichte von Entre Rios bilderreich illustriert. Ein zentrales Archiv sammelt alle für die bewegte Historie der Kolonie relevanten Dokumente und macht sie der Forschung zugänglich.

Zu den Jubiläumsfeiern der Siedlung, die mit großen Umzügen und zahlreichen Festakten begangen zu werden pflegen, kommen jeweils Gäste aus aller Welt nach Entre Rios. Zur 25-Jahr-Feier konnte Leh den brasilianischen Staatsminister Ernesto Geisel sowie den deutschen Landwirtschaftsminister Josef Ertl auf der Siedlung begrüßen. Viele weitere prominente Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland haben Entre Rios besucht, darunter der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger, als 1978 sein Bundesland die Patenschaft über die Siedlung übernahm, wie auch sein Nachfolger Erwin Teufel 1993.

Lehs Erfolge wussten nicht nur die Siedler zu würdigen, sondern auch auswärtige Stellen. Im Laufe seiner 28-jährigen Amtsperiode als Agrária-Präsident wurden ihm folgende Ehrungen zuteil, die er als ein zutiefst bescheidener Mensch immer als Vertreter der Genossenschaft und damit der Donauschwaben von Entre Rios entgegennahm: 1966: Medalhe Marechal Candido Mariano da Silva Rondon; 1970: Ehrenbürger von Guarapuava; 1979: Ehrenmitglied der Gesellschaft „Schwaben International“; 1984: Tiroler Adler in Gold; 1985: Bundesverdienstkreuz der BRD für seine Verdienste um die Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland; Colaborador Emérito des brasilianischen Heeres; 1989: Ehrenbürger des Staates Paraná; 1991: Ehrenurkunde der Stadt Guarapuava.

Bevor Mathias Leh am 28. Juni 1994 sein noch junges Leben durch einen Hirntumor verlor, mahnte er die Siedlergemeinschaft, zusammenzuhalten, um alle Schwierigkeiten überwinden zu können. Über 800 Beileidskarten trafen in Entre Rios nach seinem Tod ein.

Um die Erinnerung daran wachzuhalten, was Mathias Leh und seine Frau Elisabeth für die Gemeinschaft geleistet haben, besteht seit 2012 die Gedächtnisstätte „Memorial Mathias e Elisabeth Leh“ im ersten Dorf Vitória, die nach dem Tod der Eltern von den Kindern eingerichtet wurde. Dort sind zahlreiche Objekte, Pressestimmen und Fotos sowie die Auszeichnungen museal aufbereitet.

Lehs größtes Verdienst liegt nicht primär in einzelnen Weichenstellungen und Erneuerungsschritten, sondern in dem visionären Geist, den er einem verkümmernden Siedlungsprojekt und einer sich auflösenden Gemeinschaft einhauchte, um sie zu neuem Lebens- und Schaffenswillen zu erwecken. Sein konservativer Optimismus ist in Entre Rios bis heute jenseits aller Wandlungen als weiterhin tragendes Vermächtnis lebendig geblieben.

Lit.: J[akob] Lichtenberger, Mathias Leh. 15 Jahre Präsident der Agraria Entre Rios, in: Der Donauschwabe v. 2.8.1981, S. 1. – H[einrich] Sattler, Fünf Lustren dauernde Erfolgsstory. Mathias Leh ist seit fünfundzwanzig Jahren Leiter der Agrária, in: Der Donauschwabe v. 21.6.1991, S. 7. – Jakob Dinges, Mathias Leh ist tot, in: Mitteilungen für die Donauschwaben in der Bundesrepublik Deutschland v. 15. Juli/1. August 1994, S. 1 f. – Stefan Teppert, Die donauschwäbische Siedlung Entre Rios in Brasilien: https://kulturstiftung.donauschwaben.net/aktuelles/2013_01_15_entre_rios/Entre%20Rios%20-%20Stefan%20Teppert.pdf. – Klaus Pettinger, Zum 80. Geburtsjahr von Mathias Leh – Längster amtierender Präsident der Agrária, in: Donaudeutsche Nachrichten v. Sept. 2017, S. 26 f.

Bild: Mathias Leh 1992, Foto: Stefan P. Teppert.

Stefan P. Teppert