Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, wächst das Bedürfnis, stärker als bisher über sein Leben und Wirken, über seinen Anteil daran und über das Wirkliche und das Mögliche nachzudenken. Die Jahre sind vorbei, „wo man gedankenlos von einem Tag zum anderen gelebt“. Die Zeit ist jetzt stärker denn je auf das Absolute, das Wesentliche zu orientieren. Das bekannte einmal der Schriftsteller Armin Müller, der aus dem niederschlesischen Schweidnitz stammte, dort Kindheit und Jugend verbrachte und 1944 noch zum „Volkssturm“ geholt wurde und bei Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft geriet, aus der er geflüchtet ist. Es verschlug ihn und seine Familie zunächst in ein Dorf bei Eisenach in Thüringen, ab 1946 kam er nach Weimar, wo er jahrzehntelang lebte. „Da stand ich nun, und da steh’ ich noch immer – an einem Kreuzweg deutscher Geschichte, an einem Ort, der die Möglichkeiten des Menschen in so besonderer Weise deutlich macht. Zwei Linien der jüngsten deutschen Geschichte kreuzen sich hier: Das KZ Buchenwald als Ort der Unmenschlichkeit – im Schatten Goethes und Schillers, die ein Thomas Mann als Gute, gesittete Größe, Vorbild unseres Volkes 1949 und 1955 im Deutschen Nationaltheater Weimar beschwor.“ In Tagebuchnotizen hielt Armin Müller dergleichen Erlebnisse fest.
Die Erinnerung an die Herkunft, an das Land seiner Kindheit und Jugend, die Heimat so vieler bedeutender deutscher Dichter hat den Schweidnitzer Armin Müller nie losgelassen, und die Prägung durch Flucht und Vertreibung ist in vielen seiner Werke und auch in seinen Bildern erkennbar. Und damit auch der immer wieder gesuchte Dialog mit den Menschen des polnischen Nachbarvolkes. Das wurde bereits deutlich in seinem ersten Gedichtband „Hallo, Bruder aus Krakau“, der schon 1949 erschienen ist. 1953 legte der junge Autor, der sich seine literarischen Sporen in der 1947 in Weimar gegründeten „Arbeitsgemeinschaft junger Autoren“ verdiente, den Titel „Sommerliche Reise ins Nachbarland“ vor, und auch das Stück „Der goldene Vogel“ ist dem deutsch-polnischen Dialog verpflichtet. Unüberhörbar auch dabei der Schmerz des Verlustes von heimatlichen Gründen und Spuren, wie der Gedichtband „Reise nach S.“ (1965) zeigt – Verse, die eine lebendige Gegenwart behalten, wie der erneute Abdruck derartiger Texte in der jüngsten Ausgabe „Meine schlesischen Gedichte“ bekunden: „Noch einmal möchte ich über Stoppeln laufen, barfuß, mit zerschundenen Sohlen, noch einmal den Laubfrosch aus der Tasche ziehn, in die er geschlüpft war … Noch einmal möchte ich den Schrei der Hirsche hören, noch einmal hinterm Judenfriedhof Sauerampfer kauen und mit dem Zeh den Namen meiner Stadt in den Staub kritzeln.“
Dafür steht auch sein Bild „Friedenskirche zu Schweidnitz“, das Armin Müller so gemalt hat, wie er sich das Bauwerk in seinem Gedächtnis bewahrte. Im Bild beherrscht die Kirche den gesamten Mittelgrund in einer abendlichen Winterlandschaft. Eine bezwingend-nachdenkliche Stille strömt von diesem Fachwerkbau aus, der inzwischen zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt worden ist. Für Armin Müller war dieses Stück Heimat besonders nahe, da sich hier das „Grab seines Vaters“ befindet, von dem es ein Gedicht gibt: Der steinerne Beweis der Jahre. Es gibt weitere Bilder, die der Landschaft Schlesiens und seiner Vergangenheit verpflichtet sind. Man kann sich nicht lossagen von seinen frühen Tränken, der Geschichte und den menschlichen Schicksalen.
Auch Müllers Hauptwerk, der Roman „Der Puppenkönig und ich“ lebt aus diesem Spurengeflecht, trägt zweifellos auch autobiographische Züge, da hier die Geschichte von einem sechzehnjährigen Jungen erzählt wird, der in einem Dorf im Eulengebirge aufwuchs und den die Märchen und Geschichten des Großvaters geformt haben – eine Welt der Träume und der Idylle, die von der Realität des Kriegsgeschehens rasch zerstört wird, ausgeliefert in Gefangenschaft und Deportation. Auf der Flucht lernt er einen jungen Polen kennen, der selbst aus seiner Heimat vertrieben wird – somit verbindet beide das Erlebnis vom Abschiednehmen der Kindheitsträume. Müllers Erzählstruktur, seine Erzählweise, die sich im Spannungsfeld von Schilderung und Reflexion bewegt, macht die Lektüre zu einem Erlebnis. Es sei – so der Autor selbst – wohl das Buch, das vielleicht von allen Versuchen, Gedichte eingeschlossen, „bleiben“ könnte. Der „Puppenkönig“ als Lebensbuch. Dergleichen Fragen zur Relevanz des eigenen Schaffens stellt der Tagebuchschreiber in seinen Aufzeichnungen „Ich sag dir den Sommer ins Ohr“ (Rudolstadt 1989). Zum Standort seiner eigenen „Malversuche“ liefert dieses Bekenntnisbuch auch bedenkenswerte Überlegungen. Eine Trennung von Malen und Schreiben ließ der „malende Poet“ freilich nicht zu. Und in Übereinstimmung präsentieren sich auch eine Reihe von Texten und Bildern in den Ausgaben „Auf weißen Pferden“ (Rudolstadt 1983) und im „Vorbeiflug des goldenen Fisches“ (Erfurt 1993). Bemerkenswerte Einsichten zu diesem Komplex liefert auch der Beitrag „Traumbilder“ – „Bildträume“ von Ingrid Maut (in: Armin Müller: Abschied und Ankunft, hrsg. von Günter Gerstmann. Jena-Quedlinburg 1999). „Gemalte und ungemalte Träume waren für Armin Müller unverzichtbar. Mit ihnen wollte er anderen Menschen Mut machen, und mit ihnen verbinden sich seine Hoffnungen, ohne die er nicht leben kann.“ Armin Müllers Bilder wurden inzwischen in ca. 50 Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt.
Lit.: Armin Müller. Abschied und Ankunft. Hrsg. von Günter Gerstmann. Jena-Quedlinburg 1999 (Auswahlbibliographie).
Werke: (Auswahl): Das weiße Schiff. Gedichtzyklus, Berlin 1959. – Poem Neunundfünfzig, Weimar 1959 (Neuausgabe Rostock 2004). – Reise nach S. Gedichte, Berlin 1965. – Der Maler und das Mädchen. Erzählung, Berlin 1966. – Sieben Wünsche. Schauspiel, Berlin 1974 (Uraufführung: Weimar 1974). – Der goldene Vogel. Schauspiel, Berlin 1975 (Uraufführung: Leipzig 1975). – Prosa 1978-1981, Rudolstadt 1985. – Klangholz. Kalendergeschichten, Rudolstadt 1998 (und Würzburg 2001 u.d.T.: Erzählungen). – Der Vogel Traum. Gedichte (Deutsch und Italienisch). Festausgabe zum 75. Geburtstag von Armin Müller am 25. Oktober 2003, Weimar 2003.
Bild: Privatarchiv des Autors
Günter Gerstmann