Der in ärmlichen Verhältnissen im Weichbild des Breslauer Domes lebende, aus Mähren zugewanderte Schuhmacher Theiner und seine Ehefrau Anna Rosine, geb. Nitschke, hatten zwei Söhne, die Kleriker wurden und in Ämter und Würden aufstiegen, aber stark in die theologischen und religiösen Auseinandersetzungen ihrer Zeit hineingerieten und dadurch beruflich abstürzten.
Augustin Theiner wurde am 11. April 1804 in der schlesischen Hauptstadt geboren, besuchte die Breslauer Domschule, dann mit Hilfe kirchlicher Stipendien das Königliche katholische Gymnasium – das spätere St. Matthiasgymnasium – , bestand 1823 die Reifeprüfung mit Auszeichnung und studierte anschließend an der damals arg kränkelnden und innerlich uneinigen Katholisch-theologischen Fakultät seiner Heimatuniversität, deren bedeutendster Kopf der rationalistische Aufklärer und Kurienkritiker Thaddäus Anton Dereser war. Unter dem Einfluß seines vier Jahre älteren Bruders Johann Anton, der als Professor dieser Fakultät lehrte und 1830 wegen Antikirchlichkeit das Amt verlor, gab Augustin Theiner das Theologiestudium auf, nach welchem er in Breslau und Halle/Saale Jurisprudenz studierte und 1829 an letzterer Universität mit einer kirchenrechtlichen Arbeit zum Dr. iur. promoviert wurde. Ein Jahr vorher hatte er zusammen mit seinem Bruder ein über 1600 Seiten umfassendes Mammutwerk gegen die obligatorische Ehelosigkeit der katholischen Geistlichen publiziert, das 1829 der Indizierung verfiel.
Ein Reisestipendium der preußischen Regierung ermöglichte es Theiner, seinen geistigen Horizont in Wien, England und schließlich Frankreich zu erweitern, wo er 1831 eintraf und beinahe in Paris der Cholera-Epidemie zum Opfer fiel. Als er in Paris und Orléans wissenschaftliche Studien betrieb, kamen seine rationalistischen Ansichten, vor allem durch die Lektüre der „Symbolik“ des berühmten Tübinger Theologen Johann Adam Möhler und durch Briefkontakt mit diesem, ins Wanken, und ein Gesinnungswandel bahnte sich an, so daß er sich 1833 nach Rom, in das Zentrum der päpstlichen Macht, begab, bei einem Jesuiten beichtete und vom Kirchenbann, in dem er sich nach Meinung des Beichtvaters befand, befreit wurde. Zu einem wohl nicht viel späteren Zeitpunkt empfing er die Priesterweihe, wurde dann Professor an einem Päpstlichen Kollegium, arbeitete sehr eifrig und mit großem Erfolg historisch und stand anscheinend in gutem Verhältnis zum damaligen Leiter des Kollegiums, Karl August Graf v. Reisach, der später zum Bischof von Eichstätt, zum Erzbischof von München und Freising und im Jahre 1855 zum Kurienkardinal avancierte.
1839 wurde Theiner in das Oratorium des hl. Philippus Neri aufgenommen, eine Priestergemeinschaft, in der er sich bald nicht wohlfühlte und an den Austritt dachte, diesen aber nie vollzog.
Die 1840 erfolgte Ernennung zum Consultor der Index-Congregation stärkte seine Position in der Ewigen Stadt und auch in deutschen Landen, aus denen sich viele Persönlichkeiten brieflich an ihn wandten. Im Laufe der Jahre entwickelte er sich zum vatikanischen Experten für Südwestdeutschland und beeinflußte das dortige diözesane Geschehen in kirchlich und politisch sehr bewegter Zeit im Sinne seiner nun anti-aufklärerischen, auf Rom und den Papst zentrierten, „ultramontanen“ Überzeugungen, die auch im guten Verhältnis zum konservativen Papst Gregor XVI. († 1846) zum Ausdruck gelangten.
Unter dessen Nachfolger, dem zuerst liberal und national empfindenden Pius IX., stieg Theiner 1851 zum Koadjutor des Präfekten des Vatikanischen Archivs und 1856 zum Präfekten auf und erhielt eine Dienstwohnung, von der aus er direkt in das Archiv gelangen konnte. Zum beruflichen Aufstieg Theiners, der auch durch weitere Funktionen deutlich wird, dürften der gute Kontakt zum damaligen Papstvertrauten und späteren Kurienkardinal Prinz Gustav v. Hohenlohe-Schillingsfürst beigetragen haben und die Zufriedenheit des Papstes mit Theiners 1850 erschienenem Buch über einen schlesischen Landsmann, den aus Glogau gebürtigen Primas von Belgien und Kardinal Johann Heinrich Graf v. Franckenberg.
Zwei große Projekte Theiners scheiterten: Die Fortsetzung der kirchengeschichtlichen Annalen der Oratorianer Barinius und Raynald – eine Riesenarbeit – blieb nach drei Bänden wegen der Masse von Material und aus finanziellen Gründen stecken, und die Veröffentlichung der Akten des Konzils von Trient bekam nicht die kuriale Druckgenehmigung. Stattdessen publizierte er u.a. eine dritte aktenreiche Arbeit zur Geschichte der russischen Kirchenpolitik (dem Prinzen Hohenlohe gewidmet), Werke zur ungarischen, polnischen und litauischen und zur französischen Kirchengeschichte – „europaweit“ interessiert und forschend, eine gewaltige Menge von Quellen erstmals zum Druck bringend und dabei manchmal von Bischöfen der betreffenden Länder geldlich gefördert.
Der hervorragende Kirchenhistoriker Hubert Jedin, der aus Schlesien nach Rom kam und sich intensiv mit Leben und Leistung Theiners befaßte, urteilt: „Im Gegensatz zu seinem im Grunde oberflächlichen Bruder war Augustin eine ausgesprochene historische Begabung, ein Gelehrter von außerordentlichem Wissen und geradezu stupender Produktivität.“ Man müsse seine Leistung bewundern, obwohl er beim Edieren nicht immer die nötige Sorgfalt angewandt habe.
Als weitere Schwäche Theiners ist zu konstatieren, daß der päpstliche Archivar die Bestände der größten kirchlichen Schatzkammer der Kirchengeschichte „fast als sein Eigentum betrachtete“ (Jedin), an das er andere Forscher nur sehr ungern heranließ. Auch kümmerte er sich zu wenig um Ordnung im Archiv, vernachlässigte also auch in dieser Hinsicht das archivarische Dienen.
War er in Rom zum Verteidiger des Papsttums, der Zentralisation der Kirche und bestimmter Päpste geworden, so befand er sich nicht so recht im Einklang mit Pius IX., der sich energisch der Zerschlagung des Kirchenstaates bei der Einigung Italiens widersetzte („Römische Frage“). Und daß er in seiner Geschichte des Pontifikates von Clemens XIV. den Versuch einer Ehrenrettung dieses Papstes unternahm, der 1773 unter starkem Druck der bourbonischen Höfe den Orden der Jesuiten aufgelöst hatte, wurde ihm von diesen inzwischen wieder in Rom Mächtigen angekreidet.
Während des Vatikanischen Konzils unterhielt Theiner enge Kontakte zu Gegnern des (oft mißverstandenen) Unfehlbarkeitsdogmas und händigte diesen die bei den Beratungen als Waffe zu verwendende Geschäftsordnung des Trienter Konzils aus, was ein grober Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit war und im Juni 1870 zu seiner – ihn tief verletzenden – Suspendierung führte. In der Folgezeit bekämpfte der Gemaßregelte weiterhin die Jesuiten, begrüßte deren Ausweisung aus Deutschland (1872), sympathisierte zeitweilig mit den Altkatholiken, akzeptierte aber doch die Beschlüsse des Vatikanums.
Am 9. August 1874 starb Augustin Theiner in Civitavecchia.1970 fand man seinen Nachlaß im Vatikanischen Archiv. Er war ein vorzüglicher Kopf von exzellenter Gedächtniskraft, enormer Arbeitsleistung, hochverdient bei der Erstveröffentlichung wichtiger Quellen; ein Unsteter und Schwankender oder ein Suchender und geistig sehr Beweglicher? Eine tragische Gestalt? – Seine Verbundenheit mit Schlesien wird auch dadurch bekundet, daß er es in der Vorrede eines seiner Bücher als „unser Vaterland“ („Plural der Majestät“) bezeichnete.
Lit.: Hubert Jedin: Kirchenhistoriker aus Schlesien in der Ferne, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 11 (1953), S. 243-259, hier 247-250. – Ders.: Kirchenhistorikerbriefe an Augustin Theiner, in: Römische Quartalsschrift 66 (1971), S. 187-231. – Ders.: Augustin Theiner. Zum 100. Jahrestag seines Todes am 9. August 1874, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 31 (1973), S. 134-176. – Ders.: Silesiaca aus dem Nachlaß Augustin Theiners 1838-1864, ebd. 32 (1974), S. 173-196. – Rainer Bendel: Augustin Theiner (1804-1874), in: Schlesische Lebensbilder 7, Stuttgart 2001, S. 200-214. – Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., 10. Bd., Sp. 27-28 (F. X. Seppelt); 3. Aufl., Bd. 9, 2000, Sp. 1387-1388 (H. H. Schwedt). – Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 11, 1996, Sp. 791-795 (K.-G. Wesseling).
Werke: (Auswahl): Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen und ihre Folgen. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. Von Johann Anton Theiner u. Augustin Theiner. 2 Bde., Altenburg 1828, (3. Aufl.) 3 Bde., Barmen 1891-1898. – Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten, Wien 1835. – Die neuesten Zustände der katholischen Kirche beider Ritus in Polen und Rußland seit Katharina II. bis auf unsere Tage, Augsburg 1841; 2. Ausg. ebd. 1853. – Der Cardinal Johann Heinrich Graf von Franckenberg, Erzbischof von Mecheln, Primas von Belgien, und sein Kampf für die Freiheit der Kirche und die bischöflichen Seminarien unter Kaiser Joseph II., Freiburg i. Brsg. 1850. – Zustände der katholischen Kirche in Schlesien von 1740-1758 und die Unterhandlungen Friedrich’s II. und der Fürstbischöfe von Breslau, des Kardinals Ludwig Ph. Grafen v. Sinzendorf und Ph. Gotth. Fürsten v. Schaffgotsch mit dem Papst Benedikt XIV., 2 Bde., Regensburg 1852. – Vetera Monumenta Poloniae et Lithuanie gentiumque finitimarum historiam illustrantia (…), 4 Teile, Rom 1860-1864. – Robert Samulski: Die selbständig erschienenen Veröffentlichungen von Augustin Theiner, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 31 (1973), S. 177-186. – Dominik Burkhart: Augustin Theiner – ein deutscher Doppelagent in Rom? In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 15 (2000), St. 191-251.
Bild: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 31 (1973)
Hans-Ludwig Abmeier