„Ostpreußen – nach 1945?“ Rückblick auf den internationalen Workshop vom 21.-23. Oktober 2022 in Stuttgart

„1945“ ist eine Zahl, die vielen Ostpreußen wie eine Brandmauer erscheint. Es gibt Museen und Vorträge über die wahrhaft reiche Geschichte Ostpreußens, die Deutschland und Europa nachhaltig prägten, bis 1945. Und was war danach? Mit dem Massenexodus aus der Heimat und den damit geschaffenen europapolitischen Fakten war zwar Ostpreußen als politisch-administrative Gebietskörperschaft endgültig verloren, nicht aber ihre Menschen, die ihre kulturelle Identität in ihre neue Heimat mitgenommen haben und diese nachhaltig prägten. Ostpreußen war auch nach Flucht und Vertreibung nicht zu Ende, sondern existierte in einer Vielzahl an kulturellen Identitäten weiter.

Vom 21.-23. Oktober 2022 fanden sich in Stuttgart junge Nachwuchswissenschaftler und Schriftsteller zum Workshop „Ostpreußen – nach 1945?“ unter Leitung von Dr. Andreas Borm zusammen. Veranstalter war die Landesgruppe Baden-Württemberg in Kooperation mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung. Referenten und Teilnehmer konnten via Online-Zuschaltung auch aus Berlin und Polen einbezogen werden.

Thematisch völlig neu war der Fokus auf das Leben und Wirken der Ostpreußen nach dem Untergang der Provinz. In zehn hervorragenden Vorträgen wurde anhand von Einzelbeispielen die Vielfalt dieses Themas dargelegt. Es wurde viel über Mikrogeschichte erzählt, nicht von den bekannten Persönlichkeiten, sondern von Einzelschicksalen der vielen Millionen Unbekannten, die im Verborgenen an die Heimat dachten. Es ging um Erinnerungskulturen, im Privaten und in Familien.

Nach einem Impulsvortrag am Freitag von Dr. Andreas Borm referierte die Rostocker Doktorandin Josephina Strößner über ihr Dissertationsprojekt zu den Musikkulturen ostpreußischer Vertriebener. Der Samstag begann mit vier weiteren Vorträgen von JUWOST-Mitgliedern, dem neuen Nachwuchsnetzwerk der Kulturstiftung. Angelika Enders hielt ihren Vortrag über die „Ankunft und Integration der ostpreußischen Vertriebenen in Westdeutschland. Ostfriesland – eine neue Heimat?“ Der Beitrag von der in Frankfurt/Oder lebenden Doktorandin Tatjana Kohler trug den Titel: „Die russlanddeutsche Fast-Landnahme in Kaliningrad Anfang der 1990er Jahre“. Lars Fernkorn sprach über die wichtigsten Stationen der Baugeschichte des Königsberger Doms und seiner Gegenwartsbedeutung für junge Russen. Matthias Lempart von der Kulturstiftung berichtete über das ostpreußische Pressewesen (1918-1945) und die Möglichkeiten für zukünftige Forschungsprojekte, die sich hieraus ergeben. Ein weiterer Höhepunkt des Samstags stellte der Vortrag über Gräfe und Unzer von Anja Kurz dar, die bei dem Verlag angestellt ist und sich dezidiert mit der 300jährigen Firmengeschichte auseinandergesetzt hat. Im Anschluss daran stellte ein neues Mitglied der Landesgruppe Baden-Württemberg ein Buch über die Geschichte der Wolfskinder vor. Es folgte eine angeregte Diskussion, die in einem gemeinsamen, Abendessen und gemütlichen Beisammensein endete.

Eine besondere Freude war es, am Sonntag zwei Schriftsteller zu Worte kommen zu lassen. Marcel Krueger war Inhaber des Stadtschreiber-Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa, das vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien seit mehreren Jahren finanziert wird. Er berichtete von seinen vielen Begegnungen während seiner Zeit als „Stadtschreiber von Allenstein“, seiner ganz persönlichen Familiengeschichte, den vielen Graustufen in der Geschichte Ostpreußens und Rissen, die kriegsbedingt durch die Familien gegangen sind. Die polnische Schriftstellerin Karolina Kuszyk stellte ihr neues Buch „In den Häusern der Anderen“ vor, welches sowohl in Polen als auch jetzt in Deutschland erschienen ist.

Erst fünf Tage zuvor wurde das Werk im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ in Berlin mit Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit vorgestellt. Sie zeichnete ein ähnliches Bild wie Marcel Krueger, nur aus polnischer Perspektive. Es wurde überlegt, ob Ähnliches nicht auch in Russland und Litauen geschehen ist. Einen anderen Fokus auf Ostpreußen hat Florian Landes gelegt. Er entwickelte einen Gedanken, der in der „Zukunftswerkstatt Ostpreußen“ 2018 in Ellingen aufgeworfen wurde, weiter, und zwar, wie man junge Menschen für Ostpreußen stärker begeistert könnte. Die damals aufgeworfene Hypothese der Gruppe war, dass dem Smartphone eine wesentliche Bedeutung zukommt. Florian Landes hat seitdem die Grundzüge einer App entwickelt, die die Nutzung historischer und digitaler Karten ortsunabhängig möglich macht. Das ist nicht nur für Familienforscher und Historiker interessant, sondern ermöglicht auch das spielerische Selbst-Entdecken Ostpreußens auf Reisen.

Insgesamt stellte sich im Workshop heraus, dass es kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern ein buntes Bild mit vielen unterschiedlichen Nuancen von Ostpreußen gibt. Im europäischen Ausland hat man schon länger einen unbeschwerteren Umgang mit dieser Thematik. Dieser findet vor allen Dingen im kleinen Kreis der akademisch Gebildeten statt. Ihnen geht es manchmal um eine ökonomisch verwertbare Vermarktung, aber auch um den Erhalt der kulturellen und historischen Substanz, die sie inzwischen auch als Teil ihrer eigenen Identität betrachten. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass zwar nicht die Geschichte Ostpreußens als Provinz, jedoch aber die ostpreußische Geschichte, also die Historie ihrer Menschen und ihres Wirkens nach 1945 bis heute weitergeht. Ein drittes Ergebnis ist die Schaffung eines neuen wissenschaftlichen Netzwerks zur Geschichte Ostpreußens, welches zum jetzigen Zeitpunkt darin besteht, dass die Experten sich in dieser Anzahl und Vielfalt erstmalig persönlich kennengelernt haben. Die Weiterentwicklung stellt ein Aufgabengebiet dar, dem sich auch die Landsmannschaft Ostpreußen nicht verweigern sollte. Das Wochenende wurde, viertens, nicht nur dazu genutzt, deutschland- und europaweit Kontakte zu knüpfen, sondern auch um neue, junge Mitglieder in die Landesgruppe zu integrieren.

Die „Zukunftswerkstatt Ostpreußen“ von 2018 wurde nie wiederholt und war somit überhaupt nicht nachhaltig, auch wenn einzelne Mitglieder im Alleingang versucht haben, die Gedanken selbst fortzusetzen. Dafür gibt es im Internetzeitalter mit Hybrid-Veranstaltungen heutzutage keine Entschuldigung mehr. Nun haben sich aus dem Workshop neue Zukunftsperspektiven in der Auseinandersetzung mit Ostpreußen und für die Landsmannschaft Ostpreußen ergeben. Sind die massiv schwindenden Mitgliederzahlen der Landsmannschaft Ostpreußen nicht nur auf den demographischen Wandel, sondern auch darauf zurückzuführen, dass man die Belange der an Ostpreußen Interessierten schon lange nicht mehr abbildet? Darüber muss man sich endlich ergebnisoffen austauschen und etwas daraus resultieren lassen, das wirklich zukunftsträchtig ist, gerade weil die Erinnerung an Ostpreußen allen am Herzen liegt.

von Dr. Andreas Borm