Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse 2015
Den 70. Jahrestag des Kriegsendes 1945 nahmen die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn, und das Kulturforum östliches Europa, Potsdam, zum Anlass, mit einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse nach der Entwicklung des Zusammenlebens der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa zu fragen sowie nicht zuletzt nach dem gegenwärtigen Stand des nachbarschaftlichen Verhältnisses.
Neben dem Europahistoriker Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Technische Hochschule Chemnitz, beteiligten sich hieran Tereza Vavrová aus Prag, die Leiterin des Vereins „Antikomplex“, einer Vereinigung junger Tschechinnen und Tschechen, die sich einer vorurteilsfreien Aufarbeitung der deutsch-tschechischen Vergangenheit widmen. Gleichfalls nahmen teil der Historiker und Direktor des Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Hauses, Dr. Winfrid Halder, sowie Dr. Jens Baumann, im Sächsischen Staatsministerium des Innern zuständig für die Kulturförderung der ethnischen und nationalen Minderheiten, vor allem in den benachbarten Gebieten Polens und Tschechiens.
Die Deutung des Kriegsendes als „Befreiung“, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes 1985 vorgenommen hatte und die seinerzeit kontrovers diskutiert wurde, ist heute, so Prof. Koll, durchweg akzeptiert. Die „Befreiung“ war jedoch, worauf sowohl er selbst als auch Dr. Halder hinwiesen, für die zahlreichen Deutschen östlich der Elbe nur sehr bedingt eine solche, waren mit dem Einzug der Roten Armee doch für die Ostdeutschen Flucht und Vertreibung, der Verlust der Heimat verbunden. Für die Mitteldeutschen bedeutete sie sehr schnell die Errichtung der nächsten Diktatur. Es erfolgte hier lediglich eine Art Etikettenwechsel und sollte bis 1989/90 dauern, bis auch sie und ihre Nachbarn in weiten Teilen Europas sich selbst wirklich zu befreien vermochten.
Als Vertreterin einer jungen, nach der Wende von 1989/90 herangewachsenen Generation, stimmte Frau Vavrová dieser Einschätzung zu. Dem von ihr repräsentierten Verein „Antikomplex“ gehe es darum, mit kritischer Reflexion, mit Büchern, Wanderausstellungen und öffentlichen Debatten in der tschechischen Gesellschaft fortbestehende Traumata zu überwinden, dies vor allem hinsichtlich der „Sudetendeutschen Frage“. Die Bemühungen, Deutsche und Tschechen zu einer ehrlichen und fruchtbaren Diskussion über die gemeinsame Vergangenheit zu bewegen, zeigten dabei durchaus Erfolge. Man finde immer mehr interessierte junge Leute, die sich unbefangen daran machten, die Geschichte ihrer Heimat zu entdecken. Allerdings gebe es in allen Generationen neben aufgeschlossenen auch alten Denkweisen und Ängsten verhaftete Menschen, werde das Thema von der Politik bisweilen immer noch sehr stark instrumentalisiert.
Auf die Rolle, welche die bei Kriegsende in den früheren Ostgebieten verbliebenen Deutschen in Tschechien und Polen im Versöhnungsprozess spielten, ging Dr. Baumann ein. Regelungen, die fortschrittlicher seien, als in manchen Alt-EU-Ländern, sicherten heute den Minderheiten, etwa der großen deutschen Volksgruppe in Schlesien, eine rege kulturelle Betätigung. Dies sowie die vermehrte Suche nach deutschen Spuren seitens der Nachkommen der dort nach dem Krieg angesiedelten Polen trügen wesentlich zur Entwicklung einer neuen, erweiterten Identität der gesamten Bevölkerung bei.
Auf die Frage von Prof. Kroll, wie es sich mit dem in Deutschland gesellschaftlich und politisch abgesicherten Versöhnungswerk in den Ländern Ostmitteleuropas verhalte, verwies Frau Vavrová darauf, dass angesichts der jüngsten Satzungsänderung der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die auf eine Unterstützung von Bestrebungen zur Rückgewinnung des Sudetenlands verzichte, den wenig versöhnungsbereiten tschechischen Politikern langsam die Argumente ausgingen. Auch Dr. Halder zeigte sich angesichts seiner Erfahrungen mit polnischen Partnern zuversichtlich, was die Fortschreibung dieses Versöhnungswerks angehe. Günstig hierfür sei auch, dass mit dem Siebenbürger Sachsen Bernd Fabritius nun der Vertreter einer neuen Generation mit einem anderen Erfahrungshorizont an der Spitze des Bundes der Vertriebenen stehe. Ein Defizit an Engagement oder auch an Initiative sieht er eher bei den Deutschen als bei den Nachbarn, vor allem bei den jüngeren Deutschen, die es daher vermehrt mit Ostmitteleuropa in Berührung zu bringen gelte.
Angesichts der weitgehenden Einigkeit der Diskussionsteilnehmer darin, dass man auf gutem Wege sei, dass sich ein friedliches Miteinanderumgehen eingestellt habe oder einstellen werde, fragte Prof. Kroll abschließend, ob denn die Versöhnung wirklich nicht mehr gefährdet sei. Die Gefahr, so Dr. Baumann, liegt in jedem von uns selbst. Gerade nach dem weitgehenden Abtreten der Vertriebenen als Brückenbauergeneration gelte es für jeden einzelnen, Engstirnigkeit und die Angst vor dem Nachbarn zu überwinden. In lebendigen Begegnungen, in Projekten, die die Menschen zusammenführen, sieht er die Chance, das 70 Jahre nach Kriegsende, Vertreibung und Neubeginn bereits weit gediehene Versöhnungswerk dauerhaft zu festigen.