Das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Staats- und völkerrechtliche Fachtagung, Kloster Banz 7./8. Dezember 2010

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – Eine Problemschau

Expertentagung in Kooperation mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht und der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Marburg
Prof. Dr. Hans-Detlef Horn, Marburg

“Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ – so heißt es gleichlautend in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen des Jahres 1966. Geboren aus dem Geist der Aufklärung, wurde die Idee des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ am Ausgang des Ersten Weltkriegs von US-Präsident Woodrow Wilson im Rahmen seiner Friedensbemühungen propagiert. Gleichwohl blieb dieses Recht sowohl in der völkerrechtlichen Theorie als auch in der politischen Praxis umstritten. Eine internationale Expertentagung fragte nach den Möglichkeiten einer für das konkrete friedliche Zusammenleben der Völker bzw. Nationen förderlichen Bestimmung und Weiterentwicklung des Begriffs.

Veranstaltet wurde die Tagung von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Zusammenarbeit mit der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht sowie der Hanns-Seidel-Stiftung am 7./8. Dezember 2010 im Bildungszentrum Kloster Banz. Die wissenschaftliche Leitung lag bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig und Prof. Dr. Hans-Detlef Horn, beide Marburg. Als Moderator fungierte Bernd Dieter Rill von der Hanns-Seidel-Stiftung. Der Vorstandsvorsitzende der Kulturstiftung, Hans Günther Parplies, wies einleitend darauf hin, dass die Veranstaltung genau an dem Tag stattfinde, an dem vor 40 Jahren der Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen unterzeichnet worden sei – ein Jahrestag, wahrlich geeignet, aktuelle Fragen der Selbstbestimmung aufzuwerfen.

Einen Rückblick auf die ersten Versuche einer Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor 90 Jahren bot der Historiker Dr. Gregor Ploch vom oberschlesischen Landesmuseum, Ratingen. Die nach dem Ersten Weltkrieg angestrebte Friedensordnung suchte man durch Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit abzusichern. In einer Vielzahl von Regionen – von Vorarlberg und Südkärnten über Eupen-Malmedy bis nach Schleswig, Ost- und Westpreußen sowie Oberschlesien – wurden solche Abstimmungen durchgeführt, wobei jeder Fall seine eigenen unterschiedlichen Aspekte aufwies. Am konkreten Beispiel Oberschlesiens führte Dr. Ploch aus, dass es ungeachtet der Abstimmungsergebnisse zu bisweilen kuriosen Grenzziehungen kam, die weniger der Problematik ethnisch gemischter Gebiete geschuldet waren als vielmehr vor dem Hintergrund der Interessen der Alliierten zu sehen sind: Wirtschaftliche und machtpolitische Gesichtspunkte bestimmten letztlich das Ergebnis, die Abstimmung diente weitgehend als demokratisches Mäntelchen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow, Marburg, betrachtete dieses Spannungsfeld des Selbstbestimmungsrechts zwischen Politik und Recht näher aus der Sicht des Völkerrechtlers. Nach einem Abriss der Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts stellte er fest, dass von einem Siegeszug dieses Rechts noch nicht gesprochen werden könne: Vielfach unterliege es der politischen Instrumentalisierung, und seine Durchsetzung sei durch eine Reihe von Konfliktlinien gekennzeichnet. Bis zum heutigen Tage reibe sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker an der territorialen Integrität der Staaten, beides Grundsätze, die in den UN-Menschenrechtspakten verbürgt sind. Im Hinblick auf die internationale Stabilität stelle sich die Frage, ob statt Abspaltung von einem Staat nur eine innere Autonomie des betreffenden Volkes zu rechtfertigen sei. Die menschenrechtliche Qualität des Rechts sei umstritten, da es das Recht eines Kollektivs sei, Menschenrechte aber Individualrechte sind. Im Falle der Unterdrückung eines Volkes, das Selbstbestimmung anstrebt, könne der Grundsatz der Gewaltfreiheit angefochten werden.

Wies bereits von Prof. Bredow auf die Schwierigkeit hin, das „Volk“ als Träger des Selbstbestimmungsrechts zu bestimmen, unternahm gerade dies Prof. Dr. Christian Hillgruber, Bonn. Anerkannt sei, so Prof. Hillgruber, dass staatlich organisierten Völkern ein defensives Selbstbestimmungsrecht in dem Sinne zukomme, dass sie ihre Staatlichkeit vor Angriffen zu verteidigen berechtigt sind. Doch es stehe auch allen anderen Völkern zu, da die UN-Menschenrechtspakte von „all peoples“ sprechen. Wenngleich es vor allem bei der Entkolonisierung zur Wirkung gekommen sei, könne es nicht auf die diesbezüglich betroffenen Völker beschränkt werden. Unter einem Volk, das Selbstbestimmung beansprucht, müsse grundsätzlich eine Menge von Menschen verstanden werden, die territorial abgegrenzt lebt, sich durch eine Sprache auszeichnet, auch historische Dauer aufweist und insofern eine Schicksalsgemeinschaft bildet. Dabei müsse ein solches Volk bei der Durchsetzung des Rechts zumindest rudimentär durch Vertreter organisiert sein. Im Hinblick darauf, dass die Anerkennung als Volk und auch die Wege der Durchsetzung weitgehend von den Staaten bzw. der Staatengemeinschaft abhingen, kam der Referent zum Ergebnis, dass die Völker mehr nur Begünstigte des Rechts als vollberechtigte Träger sind.

Dass sich aus dem Rechtspostulat auf UN-Ebene schließlich tragfähige Rechtssätze entwickelten, zeigte Prof. Dr. René Kuppe, Wien, am Beispiel des Selbstbestimmungsrechts indigener Völker auf. Den Beginn dieser Entwicklung sah Prof. Kuppe in den 1970er Jahren in einem internationalen Treffen zu diesem Thema am Sitz der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Förderlich für die Selbstbestimmung von indigenen Völkern sei in der Folge das Wirken international aktiver Nichtregierungsorganisationen gewesen, denen es gelang, zu den einschlägigen Beratungen der UN entscheidend beizutragen. Es kam zur Deklaration der Rechte indigener Völker, die 2006 zunächst im Menschenrechtsrat und 2007 schließlich von der UN-Generalversammlung angenommen wurde. Die Deklaration garantiert eine Gleichbehandlung der indigenen Völker gegenüber den anderen Völkern im Staat. Den indigenen Völkern wird das Recht auf Selbstbestimmung in ihren eigenen kulturellen, gesellschaftlichen, organisatorischen und territorialen Angelegenheiten zuerkannt, das heißt, ihnen wird eine autonome Selbstverwaltung in Fragen ihrer eigenen Angelegenheiten zugestanden. Ziel sei jedoch nicht völlige Selbstregierung und territoriale Abtrennung. Diese Grenzlinie werde nur dann erreicht, wenn statt der Gewährung einer den kulturellen Bedürfnissen angepassten Autonomie eine diskriminierende Unterdrückung des indigenen Volkes erfolge.

Die grundlegende Unterscheidung zwischen „offensivem“ und „defensivem Selbstbestimmungsrecht“ wurde bereits in den 1980er Jahren von Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Freiburg, entwickelt. Prof. Murswiek verdeutlichte, dass das Selbstbestimmungsrecht von unterschiedlichen Rechtsträgern ausgeht, denen es Rechte unterschiedlichen Inhalts einräumt. Subjekt des „defensiven“ Selbstbestimmungsrechts ist demnach das Staatsvolk, ein Volk also, das sich in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bereits in einem Staat zusammengeschlossen hat. Das Selbstbestimmungsrecht ist damit nicht verbraucht, sondern beinhaltet nunmehr das Recht des Staatsvolks auf Abwehr von Interventionen durch dritte Staaten. Subjekt des „offensiven“ Selbstbestimmungsrechts hingegen ist das Volk im ethnischen Sinn, das sich durch gemeinsame ethnische und kulturelle Merkmale, ein Identitätsbewusstsein und den Bezug zu einem bestimmten Gebiet auszeichnet. Konfliktpotential ist gegeben, wenn in einem Staat das Staatsvolk und das Volk im ethnischen Sinn nicht übereinstimmen bzw. das Volk im ethnischen Sinn grenzüberschreitend angesiedelt ist. Ein Dilemma des Selbstbestimmungsrechts ist u.a., dass es mit dem Recht der Staaten auf Souveränität und territoriale Integrität konkurriert. Die Staatenpraxis zeige, dass die aufgeführten Rechte häufig nicht verwirklicht werden – so z.B. das Recht der Bretonen auf Autonomie in Frankreich im Sinne des „offensiven Selbstbestimmungsrechts“. Beispiel für die Durchsetzung des defensiven Selbstbestimmungsrechts sei dagegen die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990, bei der das deutsche Volk als Staatsvolk des Gesamtstaates Subjekt des Selbstbestimmungsrechts war. Dieses hätte, wie Prof. Murswiek darlegte, grundsätzlich auch das Recht umfasst, über den Status des gesamten Territoriums, also einschließlich der Oder-Neiße-Gebiete, zu entscheiden. Hier sei jedoch das Bestehen und die Durchsetzbarkeit eines Rechts zu unterscheiden: Da die Oder-Neiße-Gebiete lange nicht geltend gemacht worden seien, wäre das Erheben von diesbezüglichen Forderungen im Jahr 1990 illusorisch gewesen.

Die ungebrochene Brisanz der sog. „Nahostproblematik“ kann als Beispiel dafür gelten, wie sehr die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht durch unterschiedliche Völker zu einem den Weltfrieden bedrohenden Konflikt führen kann. Mit Spannung wurde daher von den Teilnehmern der Tagung die Gegenüberstellung des Selbstbestimmungsrechts der Juden einerseits und desjenigen der Palästinenser andererseits erwartet. Für die jüdische Seite sprach Godel Rosenberg, in Lodz geboren, die meiste Zeit seines Lebens in München wirkend, heute in Tel Aviv lebend. Rosenberg räumte einleitend ein, dass es im Hinblick auf die Probleme des Nahen Ostens keine wirkliche Objektivität gebe. Er führte die Geschichte der heutigen 7,6 Millionen Israelis auf 4000 Jahre des Volkes Israel, bis zum Stammvater Abraham, zurück. Die Juden hätten sich stets als Volk definiert und ihre Identität bewahrt. Auch in den Zeiten der Diaspora in der ganzen Welt seit fast 2000 Jahren hätten sie sich nicht assimiliert. Das Selbstbestimmungsrecht der Juden sei nach dem Holocaust endlich verwirklicht worden und habe zu der Gründung Israels geführt. Rosenberg ging hier auf den Prozess der Entkolonialisierung gegenüber Großbritannien und die folgenden historischen Schritte ein, insbesondere den UN-Teilungsbeschluss der San-Remo-Konferenz und auf die nachfolgenden internationalen Anerkennungen des Staates Israel. Er sprach sich nachdrücklich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Palästinensern im Staat Israel aus, ebenso für einen souveränen Palästinenserstaat. Israel gewähre den Juden aus aller Welt ein Rückkehrrecht. Ein Rückkehrrecht der aus israelischem Gebiet vertriebenen Palästinenser schloss Rosenberg nach der Etablierung eines eigenen Palästinenserstaats indes aus.

Abdulllah Hijazi von der Generaldirektion Palästinas, Berlin, berichtete mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker über die Lage der Palästinenser. Das Selbstbestimmungsrecht sei für die Palästinenser von zentraler Bedeutung, da mit ihm ein unabhängiger und souveräner Staat des autochthonen palästinensischen Volkes errungen werden solle. Die Palästinenser sehen im Selbstbestimmungsrecht ein anerkanntes Menschenrecht und ein bedeutendes Element des heutigen politischen Lebens. Auch Hijazi ging auf die völkerrechtliche und politische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg ein. Man erkenne auf palästinensischer Seite, auch wenn dies schmerzlich sei, die 1967 geschaffenen Grenzen des Staates Israel an. Erst 1969 wurde mit einer UN-Resolution erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bestätigt. Als Hauptbedrängnis erlebten die Palästinenser seither die rigide israelische Besatzung der ihnen verbliebenen Westbank und des Gaza-Streifens, im Zuge derer insgesamt 79 % des verbliebenen Territoriums konfisziert wurden. Hijazi dokumentierte anhand detaillierter Karten die damit verbundene massive jüdische Besiedlung der Westbank und beklagte die Errichtung der weit in das verbliebene Palästinensergebiet eingreifenden, eine wirtschaftliche Entwicklung verhindernden Mauer seit 2002. Das unterdrückte palästinensische Volk beharre indes auf seinen unveräußerlichen Rechten, auf dem Rückkehrrecht der Vertriebenen und auf staatlicher Selbstbestimmung. Die Ausführungen von Rosenberg und Hijazi boten reichlich Stoff für eine kontroversen Diskussion, gleichwohl verabschiedeten sich die beiden Vortragenden schließlich mit einem respektvollen Händedruck voneinander.

Auch wenn die Tagung die Grundbegriffe des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu präzisieren, die Entwicklung von einem am Ende des Ersten Weltkrieges aufkommenden politischen Prinzip zu einer Rechtsmaterie des Völkerrechts anschaulich zu dokumentieren und konkrete – erfolgreiche und problematische – Anwendungsfälle zu benennen wusste, so erscheint die Diskussion über die schwierige Materie doch alles andere als abgeschlossen. Wie Prof. Gornig und Hans-Günther Parplies deutlich machten, bleibt dies für die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht und die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, die sich bereits in den 1990er Jahren mit dem Selbstbestimmungsrechts der Völker beschäftigten, eine lohnenswerte Aufgabe.

Bericht von Dr. Dr. Ehrenfried Mathiak