Literatur als Medium der Aufarbeitung

Bei der Herbsttagung des Hilfsbundes karpatendeutscher Katholiken am 11. November 2023 im Hohenheimer Christkönigshaus wurde die Vertreibung der Deutschen in der tschechischen, slowakischen und ungarischen Literatur in den Blick genommen.

Die Vorsitzende des Hilfsbundes Ulla Nosko begrüßte Referenten und Teilnehmer und gedachte mit allen Anwesenden des langjährigen Vorsitzenden des Hilfsbundes und Geistlichen Beirats aller karpatendeutschen Katholiken Pfr. Johann Kotschner, der am 19. September 2023 im Alter von 84 Jahren verstorben war.

Prof. Dr. Dr. Rainer Bendel, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) in Stuttgart, hatte die vom AMK-Fonds der Deutschen Bischofskonferenz geförderte Tagung organisiert und leitete sie. Mit dem Tagungsthema sei man im Zentrum dessen, was der Hilfsbund als seine Anliegen und Aufgaben versteht, nämlich sich nicht nur mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, die eigene Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln, sondern dasselbe auch bei den ehemaligen Nachbarvölkern wahrzunehmen. Indem sie Erfahrungen aufgreift, weitergibt, reflektiert, verarbeitet und damit eine Wirkung erzielt, sei die belletristische Literatur auch eine Form von Historiografie und – nicht zuletzt, weil sie unsere Perspektivität bewusst hält – mindestens so spannend wie die Geschichtsschreibung im gewöhnlichen Verständnis. Wie sich die Geschichte vor, während und nach der Vertreibung in der Literatur mit ihren vielen, nebeneinander bestehenden Geschichten niederschlägt und Literatur als Medium der Aufarbeitung fungiert, sei selbst schon historisch geworden, sagte Bendel einleitend.

Referent Dr. Vaclav Maidl

Die Darstellung der Deutschen in alten tschechischen Schriftdenkmälern sowie in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts falle vorwiegend negativ aus, so der Prager Philologe, langjährige Sekretär der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission und Träger des Kunstpreises zur deutsch-tschechischen Verständigung Dr. Václav Maidl. Erheblich verstärkt habe sich dieses negative Bild durch den Zweiten Weltkrieg. Das Thema „Vertreibung“ wurde in der tschechischen Nachkriegsliteratur gemieden, verharmlost und marginalisiert, bis 1989 wuchsen zwei Generationen auf, die über das Leben der Deutschen auf dem Gebiet der Böhmischen Länder und über die Vertreibung so gut wie gar nichts wussten. Ende der 1950er Jahre sei durch eine Lockerung der Zensur in der Tschechoslowakei, die bis Herbst 1968 vorherrschte, bei Autoren wie Vladimír Körner, Jaroslav Durych und Bohumil Hrabal die Darstellung von differenzierten interethnischen Beziehungen in einer intimen Mikrowelt möglich geworden, in der die deutsche Figur nicht nur Feind, sondern auch Opfer sein kann. Die bipolare Sichtweise wurde nach und nach verlassen, in den 1990er Jahren erwecken Autoren wie Zdeněk Šmíd oder Václav Vokolek im tschechischen Leser das Interesse an der Welt „der Anderen“, das zu einem besseren Verständnis führt. Doch erst mit der Wende entfiel die Zensur durch Staat und Parteibehörden, die Öffnung der Grenzen 1990 erleichterte das Kennenlernen, nach 40 Jahren wurden zum ersten Mal Archivbestände zugänglich gemacht. In den letzten 30 Jahren erlebt die tschechische Gesellschaft eine politische Binnendiskussion, zu der auch die Debatte über die Vertreibung und „unsere Deutschen“ gehört. Besonders die junge und jüngste Generation betrachten die Ereignisse unvoreingenommen und ohne nationale Parteilichkeit. Den Boden zu einer kritischen Sicht auf die eigene Geschichte und die Vertreibung bereiteten die allgemein anerkannten und preisgekrönten Romane „Geld von Hitler“ (2006) von Radka Denemarková, „Grandhotel“ (2006) von Jaroslav Rudiš, „Gerta. Das deutsche Mädchen“ (2009) von Kateřina Tučková und „Die Deutschen. Geografie eines Verlustes“ (2012) von Jakuba Katalpa sowie Gedichtsammlungen von Radek Fridrich.

Referent Marcel Hanácek

Marcel Hanácek aus Bratislava kommentierte sein im vergangenen Jahr uraufgeführtes Theaterstück über das Schicksal der Zipser Deutschen und spielte einzelne Szenen in slowakischer Sprache daraus per Video ein. Für die Slowakei, wo die Vertreibung der Deutschen literarisch nie zuvor thematisiert worden war, ist dieses mit „Heim“ betitelte Dokudrama ein Novum. Etwa 3.000 Menschen haben die Auseinandersetzung mit der dunklen Vergangenheit des Landes bei vier interaktiven Aufführungen in Käsmark und einer in Bühnenform (daher weniger interaktiv) in Bratislava miterlebt. Auf die Erlebnisqualität kommt es dem Team an, ein Videomitschnitt könnte die intensive Atmosphäre, die komplexen Überlagerungen zwischen Schauspielern und Zuschauern, die in zwei Gruppen aufgeteilt sind und sich miteinander von Raum zu Raum bewegen, nicht simultan transportieren, deshalb sind im Netz bewusst nur Fotos der Darbietungen eingestellt (www.exteatro.sk). Die Inszenierung beginnt mit einem Sammellager, wo Zipser Deutsche darauf warten, abtransportiert zu werden, ins fremde Deutschland oder in sowjetische Zwangsarbeit. Ein kleines Kind stellt die wichtigste Frage: „Und wo ist das Zuhause?“ Im anderen Raum spielen sich parallel dazu zwei weihnachtliche Szenen ab: in einer tschechischen Stadt die noch vor Kriegsende erfolgende Abschiebung der Kinder – und Weihnachten in einem sowjetischen Lager, wo „Stille Nacht …“ gesungen wird. In einer anderen Szene sitzen die Schauspieler vor Radios, aus denen authentische Reden von Politikern der damaligen Zeit ertönen, die mit absurden Anschuldigungen von der Notwendigkeit sprechen, die Deutschen zu vertreiben. Überhaupt arbeitet dieses Aufklärungsdrama nicht mit Fiktionen, sondern mit Fakten und Originalzitaten. Die fünf Hauptfiguren sind aus dokumentierten Erinnerungen und Erlebnissen zahlreicher „ausgesiedelter“ Deutscher geformt. Das Echo der Medien war durchweg positiv. Eine Zuschauerin schrieb: „Ich habe geweint und mich geschämt. Und wie ist es möglich, dass ich nichts davon wusste?!“ Der allgemein begrüßte Wunsch, das erschütternde Dokudrama auch in Deutschland seine erleuchtende Wirkung entfalten zu lassen, wäre leider mit zu großem Aufwand verbunden.

Referentin Dr. Katalin Gajdos-Frank

Dr. Katalin Gajdos-Frank, die seit zwölf Jahren Leiterin des Jakob-Bleyer Heimatmuseums in Budaörs (Heimatmuseum des Jahres 2018, Museum des Jahres 2020 in Ungarn) und seit zwei Jahren Vorstandsmitglied des St. Gerhardswerks in Deutschland ist, stellte die Lage der deutschen Minderheit in ihrer ungarischen Heimat vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dar: von den Internierungslagern, der Russlandverschleppung, der Vertreibung einer Hälfte der Volksgruppe, der Unterdrückung und Enteignung der zu Hause gebliebenen Hälfte bis 1955, als im sog. „Gulaschkommunismus“ eine gewisse Kulturpflege und die Bildung von Landesverbänden möglich wurden. 1987 warf eine Historikerkonferenz in Budapest die Frage nach der Verantwortung auf. In der Folge kam es zur Aufhebung der Tabus, den Vertriebenen wurde eine Vermittlerrolle zugestanden. Seit 1993 können die 13 anerkannten Minderheiten in Ungarn politisch mitentscheiden. 2012 wurde sogar ein Gedenktag an die Vertreibung der Deutschen (19. Januar) eingeführt, der seinesgleichen in Mittel- und Osteuropa sucht. Die Referentin gab einen Überblick, was heute bei aller Loyalität zur Stephanskrone (Hungarus-Bewusstsein) zur Bewahrung der deutschen Identität sowie zur Traditions- und Kulturpflege getan wird. Wichtig sind dabei Veranstaltungen, Schulen, Kulturzentren, Museen sowie die Selbstverwaltung. Verschleppung, Vertreibung und das Prinzip der Kollektivschuld haben die deutsche Literatur lahmgelegt. Eine gewisse Konsolidierung wurde 1957 durch die Gründung der „Neuen Zeitung“ und des „Deutschen Kalenders“ möglich. Neue geistige Bewegung kam in den 1970er Jahren auf. Als 1992 der „Verband Ungarndeutscher Autoren und Künstler“ (VUdAK) ins Leben gerufen wurde (die literarische Sektion war schon 20 Jahre früher entstanden), ermöglichte dies zahlreiche Publikationen, Ausstellungen, Lesungen und Werkstattgespräche. Der Verband spielt eine wichtige Rolle als Brücke nach Deutschland, stärkt die kulturelle Identität der Ungarndeutschen, lässt ihre in Deutschland liegenden Wurzeln klarer erkennen (Anthologie „Tiefe Wurzeln“ 1974) und macht ihre gegenwärtigen kulturellen Leistungen als Teil des ungarischen Kulturgutes bekannt. Gajdos-Frank nannte eine Reihe von besonders der ungarndeutschen Jugend zugedachten Projekten zur Stiftung von Gemeinschaft und Förderung der Sprach- und Geschichtskenntnisse. Auch eine Liste von Autoren und Buchtiteln über die Vertreibung der Schwaben, ihre Suche nach Versöhnung und Identität fehlte nicht. Mit Zitaten der ungarndeutschen Autorin Valeria Koch (* 1949, † 1998) rundete sie ihren Vortrag ab: „Aus dem Wort kann man nicht vertrieben werden.” Auf Rollups konnten sich die Tagungsteilnehmer über den aktuellen Wettbewerb des Heimatmuseums Budaörs „Sprache des Herzens“ zur Pflege der deutschen Sprache informieren.

Stefan P. Teppert
Bilder: Armin Pogadl