Biographie

Kawerau, Gustav

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Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theologe, Lutherforscher
* 25. Februar 1847 in Bunzlau/Schlesien
† 1. Dezember 1918 in Berlin

Gustav Kawerau wurde als Sohn eines Gymnasiallehrers und späteren Organisten geboren. Er besuchte zunächst das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin. Hier studierte er von 1863 bis 1866 Theologie. Nach anfänglicher Tätigkeit als Hilfsprediger in Berlin wurde Kawerau 1871 Pfarrer der Landgemeinde Langheinersdorf (Krs. Züllichau), wo er auch mit mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen hervortrat. Von 1882 bis 1886 hatte er die Stelle eines Professors und geistlichen Inspektors am Kloster ”Unser Lieben Frauen” in Magdeburg inne. Am 1. April 1886 wurde er Professor für praktische Theologie in Kiel. Seine Arbeit auf diesem Gebiet war von Anfang an historisch ausgerichtet (vgl. dazu seine Aufsätze über die Trauung und seine Studien zu Luthers Taufbüchlein von 1523). Von 1894 bis 1907 wirkte Kawerau als Konsistorialrat und Professor für praktische Theologie an der Universität Breslau. Gleichzeitig nahm er hier die Aufgabe des Universitätspredigers wahr und wurde 1904 Rektor der Universität. In diese Zeit fielen auch seine Berufungen zum Nachfolger Julius Köstlins in das Amt des Vorsitzenden des ”Vereins für Reformationsgeschichte” (1903), zu dessen Mitgründern er gehört hatte, und zum Vorsitzenden der ”Kommission zur Herausgabe der Weimarer Lutherausgabe” (1905). 1907 wechselte er von Breslau nach Berlin, wo er zum Propst an der St. Petrikirche ernannt wurde. Daneben wirkte er als ehrenamtliches Mitglied des Oberkirchenrates und als Honorarprofessor an der Universität Berlin. Kawerau konnte während seiner Berliner Jahre zahlreiche Veröffentlichungen zur Reformationsgeschichte publizieren. Gleichzeitig bemühte er sich um die Förderung der Kirchenmusik durch die Mitgliedschaften in der Berliner ”Singakademie” und im ”Schlesischen Evangelischen Kirchenmusikverein”.

In seiner Predigtlehre und -praxis stand Kawerau mit einem betont biblisch-apologetisch ausgerichtetem Ansatz in der Tradition von T. Beck, K. Gerok und M. Kähler. Es kam ihm weniger auf rhetorische Darbietung an als vielmehr auf eine biblische Fundierung und Orientierung am inneren religiösen Leben auf lutherisch-reformatorischer Grundlage. Besondere Bedeutung erlangten seine Forschungen im Bereich der Reformationsgeschichte. 1885/86 edierte er Luthers erste Psalmenvorlesung von 1513/15 (Wolfenbütteler Glosse) und leitete damit das Studium des ”jungen Luther” ein. 1894 veröffentlichte er innerhalb des Lehrbuchs der Kirchengeschichte von W. Möller den Band über Reformation und Gegenreformation. Die als Standardwerk geltende Köstlinsche Lutherbiographie bearbeitete und vollendete Kawerau in fünfter Auflage (1903). Er veränderte den Charakter und den Aufbau des Werkes nicht, sondern beschränkte sich bewußt auf Ergänzung und Aktualisierung. Die durch den Tod von L. Enders unterbrochene Herausgabe des Briefwechsels Luthers führte Kawerau bis zum Band 16 fort. Außerdem edierte er drei Bände der Weimarer Lutherausgabe. Das Erscheinen der Braunschweiger Lutherausgabe (1889-1892) wurde durch Kaweraus tatkräftige Arbeit als Mitherausgeber ermöglicht. Von 1913 an gab Kawerau zusammen mit L. Zscharnack das Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichteheraus.

In der Auseinandersetzung mit katholischen Lutherforschern (Denifle, Janssen) tat sich Kawerau als sachlicher Kritiker hervor. In der Erkenntnis, daß man sich ”in einem Flusse theologischer Entwicklung” befinde, in dem das ”Bekenntnis zwar eine Stufe fortschreitender religiöser Erkenntnis” darstelle, ”aber doch nur unter Beimischung eines menschlichen Faktors, einer der betreffenden Zeit angehörenden theologischen Anschauungs- und Begriffsform”, trat er zwar für die Bekenntnisverpflichtung der Kirche als einer Bekenntnisgemeinschaft ein, er forderte aber auch für die Bekenntnisschriften eine Unterscheidung von ”Geist und Buchstaben, Ewigem und zeitgeschichtlich Bedingtem”. Kawerau wünschte daher eine ”freie, milde, die Gewissen und die individuelle Entwicklung schonende Handhabung des Bekenntnisses”.

Als einer der bedeutendsten Prediger seiner Zeit und als akademischer Lehrer hat Kawerau auf die evangelische Landeskirche in Preußen einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt und Liturgie und die Pflege der Kirchenmusik intensiv gefördert. Als ungemein produktiver Kirchenhistoriker und Forscher auf dem Gebiet der Reformationsgeschichte war er eine Autorität.

Lit.: Neue Deutsche Biographie, 11, 1977; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 3, 1992.

 

Harro Kieser