Biographie

Stieff, Hellmuth

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Widerstandskämpfer, Generalmajor
* 6. Juni 1901 in Deutsch-Eylau
† 8. August 1944 in Berlin

November 1939. Nach einem Besuch in Lodz und Warschau schreibt ein Generalstabsoffizier, nachdem er die Judenverfolgung, die Pogrome der SS und die scheinbare Ohnmacht der Wehrmachtdienststellen erlebt hatte: „Die blühendste Phantasie einer Greuelpropaganda ist arm gegen die Dinge, die eine organisierte Mörder-, Räuber und Plündererbande unter angeblich höchster Duldung dort verbricht. […] Diese Ausrottung ganzer Geschlechter mit Frauen und Kindern ist nur von einem Untermenschentum möglich, das den Namen Deutsch nicht mehr verdient. Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein!“

Der dies schrieb, war Hellmuth Stieff, Major im Generalstab und Gruppenleiter in der Operationsabteilung des Heeres. Die Reise nach Polen wurde für Stieff zu einem Wendepunkt seines Lebens. Nun erlebte er einen Aspekt des nationalsozialistischen Regimes, den er bislang nicht hatte wahrnehmen wollen. Und Stieff befand sich als Soldat, als Offizier, besonders aber mit seinem menschlichen Empfinden, in einem Gewissenskonflikt.

Hellmuth Stieff wurde am 6. Juni 1901 in Deutsch-Eylau, Westpreußen, geboren. Walter Stieff, sein Vater, diente als Premierleutnant im Feldartillerie-Regiment 35; seine Mutter, Annie, geborene Krause, stammte aus einer Juristenfamilie. Das Eltern­haus prägte ihn konservativ-liberal. Im Jahre 1907 wurde der Vater nach Graudenz versetzt. Für einen Truppenoffizier bot das preußische Heer kaum Aufstiegsmöglichkeiten. „Travailler pour le roi de Prusse“ – so die Devise.

Früh stand Stieffs Berufswahl fest: Auch er wollte Soldat werden. Im Juli 1918, nach dem Notabitur, trat er beim Feldartillerie-Regiment 71 als Freiwilliger ein. Hart war die Ausbildung. Noch im September 1918 wurde Stieff zur Fahnenjunker-Schule kommandiert; denn auch im fünften Kriegsjahr galt das strenge Ausbildungs-Reglement. Der 17-Jährige verfolgte, wie seine Briefe belegen, mit wachen Sinnen die politischen und militärischen Ereignisse. Es gärte; die Revolution kündigte sich an. Mit dem Ende des Krieges, dem 11. November 1918, schien auch die Laufbahn des Fahnenjunkers Stieff beendet zu sein. Wie sollte es weitergehen? Die Zukunft war ungewiss. Stieff blieb dennoch bei der Armee, die ihm, trotz der unsicheren Verhältnisse, Schutz bot. Sein Lebensunterhalt war vorläufig, wenn auch bescheiden, gesichert. Für Träume blieb keine Zeit. Bis 1920 gehörte Stieff dem Grenzschutz Ost an.

Sein Berufswunsch erfüllte sich. Im April 1922 zum Leutnant befördert, wurde er in das 3. (Preuß.) Artillerie-Regiment in Potsdam versetzt. Fünf Jahre danach, 1927, erfolgte seine Versetzung nach Schweidnitz, Niederschlesien. Dort lernte er seine spätere Frau, Ili Cäcilie Gaertner, kennen; im September 1929 heiratete das Paar. Die Ehe blieb kinderlos.

Hellmuth Stieff war ehrgeizig. 1921 hatte er die Fähnrichsprüfung als Bester seines Lehrgangs abgelegt; elf Jahre danach, 1932, bestand er die Wehrkreisprüfung mit der höchsten Punktzahl, um Führergehilfe, wie die Generalstabsoffiziere zu dieser Zeit hießen, zu werden. Zweiter Generalstabsoffizier der 21. Division in Elbing, Ostpreußen, danach Batteriechef in Landau/ Pfalz; dies waren Stieffs weitere Verwendungen bis 1938. Im Oktober desselben Jahres erhielt er seine Versetzung in die Operationsabteilung. Hier lernte er näher Adolf Heusinger, Major im Generalstab und Gruppenleiter, später, ab August 1940, Chef der Abteilung, kennen. Die dienstliche Zusammenarbeit war gut. Menschlich verstanden sie sich nicht. Zu unterschiedlich waren ihre Naturen. Immer wieder sollten sich die Lebenswege beider Offiziere, zuletzt im Herbst 1942, kreuzen.

Es ist nicht bekannt, wann Stieff erstmals mit dem Nationalsozialismus in Beziehung kam. Seine Briefe enthalten nur spärliche Hinweise auf die Partei. Über den 30. Januar 1933 liegen keine Zeugnisse vor. Bruchstücke früherer Äußerungen lassen den Schluss zu, dass Stieff diesen „Tag der nationalen Erhebung“ freudig begrüßte. Jetzt war das Reich, „an einem ebenso entscheidenden Wendepunkt“ angelangt wie 1871 und 1918, von dem er ein Jahr zuvor geschrieben hatte. „Hitler hat es eben geschickt gemacht“ urteilte Heusinger rückblickend über den Irrtum der Offiziersgeneration. Hitler hatte es verstanden, den Idealismus der jungen Offiziere, in dem sich nationalsoziale und nationalrevolutionäre Elemente, auch verflossener Freikorpsgeist unklar vermischten, für seine Absichten zu nutzen. Er wusste, dass diese Leutnante, Oberleutnante und Hauptleute die Führungsschicht seines nationalsozialistischen Heeres in wenigen Jahren bilden würden; noch brauchte er die Reichswehr als Kader. Oberleutnant Stieff brachte daher 1933 der Bewegung Wohlgefallen entgegen. Die jungen Offiziere glaubten an Hitler. „Nationaler Aufbruch“ lautete das Zauber- und Lösungswort, das sie blendete. Und Stieff hatte diese Ideale, die er stets hochgehalten hatte, im Gedankengut der NSDAP wiedergefunden. Noch durchschaute er nicht, wie gefährlich die Bewegung war. Der 21. März 1933, diese „Potsdamer Rührkomödie“ (Meinecke), diese inszenierte Beschwörung der Einheit von Nationalsozialismus und Preußentum, musste auf Stieff wie auf das Offizierskorps nachhaltig wirken.

Stieff war ein Bewunderer Hitlers geworden. „Ganz fabelhaft“ sei dessen Rede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg gewesen, schreibt er im September 1933 und hebt hervor, er „komme immer mehr dahinter, dass der Nationalsozialismus sich dadurch wesentlich vom Faschismus unterscheidet, dass er die Probleme viel gründlicher an der Wurzel anpackt, während der Faschismus sozusagen als Schrittmacher zu bezeichnen ist“. Hitler sei der „Begründer einer neuen unzweifelhaft epochalen Weltan­schauung“; dies sei, so betont Stieff, „meine innerste Überzeu­gung“. Er war „von einer ganz großen Wendung“ überzeugt. Durch Hitlers Reden habe er „ein sehr klares und sympathisches Bild der Bewegung“ erhalten.

Dann kam der 30. Juni 1934, die „Röhm-Affäre“. Unkritisch übernahm Stieff die amtlichen Verlautbarungen über die Erschießung Röhms und anderer SA-Führer; auch die Darstellung über den Tod Klauseners und Ritters von Kahr, der 1923 bayerischer Generalstaatskommissar gewesen war. Noch hielt er diese Morde für rechtens. Noch waren keine Zweifel an Hitler und seiner Partei aufgekommen. Ausschlaggebend für Stieff war, dass sie seine Vorstellungen verwirklichten, Deutschland, sein Vaterland, wieder stark zu machen. Er glaubte, alles müsse sich diesem Ziel unterordnen. Aber nach der Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß im Juli 1934 bezeichnete Stieff sein Deutschland als „Lauseland“, in dem man nicht offen schreiben könne. Seine Bewunderung für die nationalsozialistische Idee war erschüttert; nur eine kurze Zeit. Dann überwog wieder das Wohlgefallen, das lange anhalten sollte.

Im Innersten war Stieff, wenige Tage nach seinem Dienstantritt in der Operationsabteilung, von dem Pogrom am 9./10. November 1938 getroffen. In Gegenwart seiner Schwester rief er zornig aus: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.“ Der Blockwart des Hauses, das die Stieffs bewohnten, Sybelstraße 66 in Berlin-Charlottenburg, hatte versucht, die jüdischen Mitbewohner zu demütigen. Stieff stellte sich ihm entgegen.

Der Bruch kündigte sich nun an. Dann, im November 1939, sah er „die Ruine Warschau“ und die Ausschreitungen – und er schaute nicht weg. Immer stärker wurde seine Ablehnung des Regimes; 1941/42 schlug sie in Hass um.

Nachdem Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres, Feldmarschall von Brauchitsch, und dem Chef des Generalstabes, Generaloberst Halder, am 31. Juli 1940 seinen Entschluss bekannt gegeben hatte, die Sowjetunion im kommenden Frühjahr anzugreifen, arbeitete die Operationsabteilung von August bis Oktober 1940 die Führungsrundlagen für den Ostfeldzug aus. Stieff lehnte ihn aus militärischen Gründen ab; bejahte aber die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus, übernahm Hitlers For­mulierung vom „Krieg der Weltanschauungen“ und schrieb, „daß es höchste Zeit war, diese ganz Europa bedrohende Gefahr auszuräumen“.

Ende Juni begann der Feldzug gegen die Sowjetunion. Die Anfangserfolge der drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd übertrafen alle Erwartungen. Der Generalstabsoffizier aber erkannte die Risiken der Operationen; sie enthielten viele Unwägbarkeiten. Das Unternehmen „Barbarossa“, so der Deckname, wurde kein Blitzkrieg. Stieff ließ sich nicht länger täuschen; er lehnte den „Führer“ ab: „Hitler führt Deutschland ins Unglück!“ Diese Äußerung wiederholte Stieff immer wieder, je länger er diese Operationen in der Abteilung miterlebte. Oft kam er nach Besprechungen mit Heusinger, seinem Chef, körperlich und seelisch erschöpft zu seinen Mitarbeitern und sagte: „Das hat der Verbrecher [Hitler] jetzt befohlen!“ Oder: „Hitler ist der Totengräber des deutschen Volkes!“ In Briefen an seine Frau bezeichnet er den Diktator als „größenwahnsinnig gewordenen Proleten“; zwei Wochen später heißt es: „ein wahrer Teufel in Menschengestalt“. Schon lange wollte Stieff an die Front versetzt werden. Die Atmosphäre im Hauptquartier war ihm zuwider geworden.

„Erkenne die Lage!“ Gottfried Benns Wort galt auch für Oberstleutnant im Generalstab Stieff. Der Feldzug gegen die Sowjetunion hatte die Natur des Krieges verändert. Ende September erfolgte seine Versetzung als erster Generalstabsoffizier in das Armeeoberkommando. Diese Armee war die Stoßarmee auf Moskau. Wenige Tage danach, am 2. Oktober, begann der Angriff, der scheiterte. Was folgte, war ein System der Aushilfen, ein Taktieren, aber keine zusammenhängende Operation. Seine Illusionen hatte Stieff verloren. Es waren Tage, Wochen und Monate unerhörter Anspannung bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung. Jedes Aufbäumen gegen dieses Erleben und gegen das Regime endete in Verzweiflung: „Ich bin von einem abgrundtiefen Haß erfüllt! […] Denn hier ist man hilflos einem unmenschlichen Schicksal preisgegeben“. Nun waren keine wohltönenden Worte mehr über die Infanterie, die „Königin der Waffen“, wie sie zuvor in markigen Reden bezeichnet worden war, zu vernehmen. Schon lange, seit Verdun, hatte der namenslose, unbekannte Soldat das Schlachtfeld betreten. Schonungslos enthüllen Stieffs Briefe die organisatorischen Mängel. Kälte und Schlamm, Hunger und Durst waren die ständigen Begleiter. Tag und Nacht wurde gekämpft. Dies war die Wirklichkeit und nicht jene Behauptungen, welche die Propaganda verbreitete.

Immer wieder setzte sich Stieff mit „dem blutigen Dilettantismus“ Hitlers auseinander. Ein ganzer Erdteil sei „dem verbrecherischen Willen und krankhaften Ehrgeiz eines Wahnsinnigen ausgeliefert“. Im August 1942 war er zum Widerstand bereit: „[…] wenn jemand größenwahnsinnig wird und auf keinen Rat mehr hört, dann muß er eben verdorben werden. […] Denn jeder Gehorsam hat bestimmte Grenzen. Und ich habe durchaus die Absicht, auf der Seite der Vernunft zu bleiben.“ Sein Entschluss hatte zwei Motive. Das eine war die Einsicht des Fachmannes, sich gegen die unsinnigen Befehle Hitlers aufzulehnen, und das Bewusstsein der Pflicht, diesen Weisungen entgegen zu treten. Das andere Motiv, bedeutsamer noch, war sein moralisches Empfinden. Schon lange war Stieffs Rechtsgefühl zutiefst verletzt. In Berlin und in Polen war er 1938/39 Zeuge der Pogrome geworden. Von seinem Ausruf: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein!“ bis zu seiner Entschlossenheit im Sommer 1942 verlief eine folgerichtige Entwicklung. Im September 1941, vor seiner Versetzung an die Front, hatte er in Berlin den gelben Stern gesehen, jenes Stoffabzeichen, das die nationalsozialistische Regierung den Juden zu tragen befohlen hatte, um sie auszugrenzen. Trauer und Scham empfand er. Wenige Wochen später, im November, hatte er von den Deportationen der Juden aus dem Reich in den Osten erfahren. Er litt mit den Verfolgten, denn diese Verbrechen waren im Namen seines Volks begangen worden, und er war mitschuldig geworden und bereit, dafür zu sühnen.

Als er die Ostfront im Oktober 1942 verließ, um Chef der Organisationsabteilung im Generalstab des Heeres zu werden, war er, so scheint es, zu allem entschlossen. Oberst i. G. Stieff übernahm die Abteilung am 23. Oktober. Sie war, nach der Operationsabteilung, die wichtigste Abteilung im Generalstab, zustän­dig für den Aufbau und die Gliederung des Kriegsheeres. Das Allgemeine Heeresamt erließ die Anordnungen zur Durchführung. Die Abteilung stellte auch die Forderungen für die materielle Rüstung. Betriebsstoff und Munition waren ausgenommen. Major i. G. Graf Stauffenberg war einer der Gruppenleiter. Stieff: „Er ist mein Freund.“ Heusinger, der Chef der Operationsabteilung, hatte Stieff, den er „genau kannte“, vorgeschlagen, die Leitung der Organisationsabteilung zu übernehmen, nachdem General der Infanterie Zeitzler, Halders Nachfolger als Chef des Generalstabes, ihn gefragt hatte, ob er „einen geeigneten Mann“ für diese Abteilung kenne, deren Chefs seit Kriegsbeginn mehrfach gewechselt hatten. Der häufige Wechsel hatte eine stete und gleichmäßige Arbeit verhindert. „Das ist eine Aufgabe Scharnhorsts. Entweder ich bewältige es, oder es ist in einem Vierteljahre aus“, sagte Stieff zu seiner Frau. Auch wenn dieser Vergleich historisch unzutreffend ist, so kennzeichnet diese Aussage Stieff, der die Herausforderung annahm und sie meisterte.

Der Abteilungschef Stieff erlebte Hitler bei den Lagebesprechungen. Er sah in ihm den „größten Schauspieler“, den „Vater der Lüge“, der dem Offizier strahlend liebenswürdig, herablassend, verächtlich kalt innerhalb weniger Minuten begegnen konnte, so, wie es sich in sein Konzept fügte. Nach seiner Versetzung zögerte Stieff jedoch, sich der militärischen Opposition anzuschließen. War es die Bindung an den Eid, den er Hitler geschworen hatte? War es der Konflikt, der ihn abhielt, Frondeur zu werden? Dieser Konflikt, seine Pflicht zu tun und gleichzeitig Soldat im Widerstand zu werden? Stieff aber fühlte sich schon lange an den Eid, den er Hitler geschworen hatte, nicht mehr gebunden. Denn den Eid verstand er als eine gegenseitige Bindung, und der Diktator hatte ihn selbst gebrochen. War es die Skepsis, weil Stieff die Erfolgschancen der Fronde zu gering einschätzte? Sein Beispiel zeigt, dass beste Absicht den Willen zur Aktion noch nicht einschließt. Henning von Tresckow war es, der Stieff schließlich im Juli 1943 für die Konspiration gewann. Der Untergang der 6. Armee in Stalingrad hatte die letzten Skrupel beseitigt. Doch Stieffs Verhalten ist bei den Mitverschwörern umstritten. Obwohl er zum engsten Kreis der Opposition gehörte, war er in der Fronde keine eigenständige Persönlichkeit. Nie wurde er initiativ; er hielt sich bedeckt. War er gefordert, so zögerte und schwankte er. Dennoch gehört Stieff „zu den leidenschaftlichsten Feinden Hitlers“ (Stahlberg), den er als „das absolut Böse“ und als „Gegenspieler Gottes“ empfand. Er wollte seine „wahre Pflicht“ erfüllen, wie er im August 1943 schrieb. Damals hatte er sich zu der Auffassung durchgerungen, „daß man sich keiner Verantwortung, die einem das Schicksal abfordert, entziehen darf“. Das Zögern und Schwanken mag in Stieffs Charakter begründet gewesen sein: rasch begeistert, überschwänglich, dann wieder sehr nachdenklich, nachdem er die Möglichkeiten geprüft hatte.

Am 6. August war Stieff in Berlin, um an „ernsten Besprechungen“ teilzunehmen. Diese Formulierung ist weit auszulegen. Mit General der Infanterie Olbricht, dem Chef des Allgemeinen Heeresamtes, besprach Stieff sowohl dienstliche als auch konspirative Angelegenheiten. Vom 7. bis 9. September befand sich Stieff wieder in Berlin. Am 9. September kam Tresckow in Stieffs Privatwohnung. Im selben Monat traf Stieff auch mit Olbricht, Fellgiebel, dem Chef des Wehrmachtnachrichten-Verbindungswesens, und Stauffenberg zusammen. Die Frondeure baten Fellgiebel, am Tage des Umsturzes dafür zu sorgen, dass die SS das Nachrichtenwesen nicht besetzte. Jetzt erhielt der Staatsstreichplan eine Grundlage. Nachdem Stauffenberg im Oktober 1943 Chef des Stabes bei Olbricht geworden war, trieb er die Planung des Attentats voran. Die Kernfrage war, welcher Offizier Zutritt zu Hitlers Lagebesprechungen erhielte. Stauffenberg dachte an Stieff. Dieser nahm an den Besprechungen teil, allerdings nicht regelmäßig. Ende Oktober fragte ihn Stauffenberg, ob er das Attentat auf Hitler ausführen würde. Nach gründlicher Prüfung verneinte Stieff, bewahrte aber das Sprengmaterial (Sprengstoff und Zünder), das Stauffenberg aus Berlin mitgebracht hatte, bei sich auf.

Einen Monat danach, im November, unterstützte Stieff das geplante Attentat des Hauptmanns von dem Bussche; dieses Vorhaben konnte nicht ausgeführt werden. Im Januar 1944 wurde Stieff erneut gefragt, und wieder erteilte er eine Absage. Im folgenden Monat, am 11. Februar, war er bereit, bei der Vorführung neuer Uniformen vor Hitler neben Leutnant von Kleist eine zweite Sprengladung zu tragen. Aber diese Veranstaltung fand aus unbekannten Gründen nicht statt. Ende Mai 1944 wurde die Attentatsabsicht wieder erörtert. Vermutlich am 25. Mai übergaben zwei Offiziere aus Stieffs Abteilung, Bernhard Klamroth und Albrecht von Hagen, den Sprengstoff an Stauffenberg, der jetzt zum Handeln entschlossen war. Aber erst seine Ernennung zum Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Fromm, die Anfang Juli erfolgte, gab ihm die Möglichkeit, den Anschlag durchzuführen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Stauffenberg bis zum 7. Juli noch auf Stieff hoffte. An diesem Tage fand auf Schloss Kleßheim bei Salzburg die Vorführung neuer Uniformen statt, die bislang verschoben worden war. Man hatte erwogen, in einem der Tornister der drei Soldaten den Sprengstoff zu verbergen. Der 7. Juli verging, ohne dass etwas geschah.

Vor dem Volksgerichtshof sagte Stieff aus, er habe dieses Attentat abgelehnt. Diese Aussage war zutreffend. Er wollte, vermutlich, den Tod der drei Soldaten verhindern. Am 11. Juli flog Stauffenberg nach Berchtesgaden. Den Sprengstoff nahm er mit; er zündete ihn indes nicht, weil nur Hitler, nicht aber Himmler, anwesend war. Am 15. Juli war Stauffenberg erneut im Führerhauptquartier, nun „Wolfschanze“ bei Rastenburg in Ostpreußen. Auch an diesem Tage fand das Attentat nicht statt. Himmler war wieder abwesend; doch andere Hinweise belegen, dass Stieff den Anschlag verhindert hatte. Er war in die „Wolfschanze“ gekommen, um an einer Besprechung zwischen Fromm und Heusinger teilzunehmen. Stauffenberg, nach langer Abwesenheit wieder im Führerhauptquartier, musste das Attentat vorbereiten und vor Beginn der Lagebesprechung die Zündung in Gang setzen. Die Gefahr der Entdeckung war groß. Stieff hatte dies erkannt und handelte. Er riet Stauffenberg nicht nur ab, den Anschlag auszuführen, sondern trug auch dessen Aktentasche aus dem Besprechungsraum heraus.

Donnerstag, 20. Juli 1944. Gegen acht Uhr fliegen Stieff, Stauffenberg und Oberleutnant der Reserve von Haeften, dessen Ordonnanzoffizier, von Rangsdorf bei Berlin nach Ostpreußen. Kurz nach zehn Uhr landet die Kuriermaschine auf dem Flugplatz bei Rastenburg. Stieff begibt sich in das Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, den Mauerwald, um mit Major i.G. Ferber, seinem Generalstabsoffizier, die operative Lage und die laufenden Angelegenheiten zu besprechen. Die Explosion von Stauffenbergs Sprengladung, das Attentat, erfolgt kurz vor ein Uhr. Hitler aber wird nur leicht verletzt.

Heusinger, der die Lage vorgetragen hatte, wird verwundet in das Lazarett nach Rastenburg gebracht. Er befiehlt Stieff, die Operations- und die Organisationsabteilung zu führen. Am Nachmittag, nach dem gescheiterten Attentat, erkennt Stieff, dass jede weitere Aktion sinnlos ist. Er verbrennt Akten und versucht, die Spuren seiner Beteiligung zu verwischen. Seine Hoffnung, den Häschern zu entkommen, kennzeichnet seine Naivität. Er warnt Freunde und berichtet wahrheitsgemäß Feldmarschall von Kluge, seinem ehemaligen Oberbefehlshaber, bei dessen abendlichen Anruf, dass Hitler lebe. Stieffs Bestätigung gibt den Ausschlag, dass Kluge, Oberbefehlshaber West und der Heeresgruppe B in Frankreich, sich dem Staatsstreich nicht anschließt und mit dem Gegner keine Verbindung aufnimmt.

„Stieff ist ausgebrochen!“, ruft Stauffenberg am späten Abend des 20. Juli in Berlin aus, wohin er nach dem Attentat zurückgeflogen war. Er ist enttäuscht über den Mitverschwörer, und diese Enttäuschung ist verständlich, nachdem Kluge versagt hatte. Stieffs Verhalten aber bedeutet keinen Abstand von der Verschwörung, sondern die sachliche Beurteilung der Lage. Zu diesem Zeitpunkt, etwa 22 Uhr, war der Staatsstreich- Versuch in der Hauptstadt gescheitert. Stieff bleibt in seinem Hauptquartier in Ostpreußen, bis er einen Anruf erhält, in das Führerhauptquartier zu kommen. Er wird am 21. Juli, kurz nach Mitternacht, verhaftet.

Stieffs letzte Aufenthaltsorte sind das Militärgefängnis, Lehrter Straße; die Zentrale des Sicherheitsdienstes, Prinz-Albrecht-Straße 8; der Volksgerichtshof, Bellevuestraße 15 und Plötzensee, Königsdamm 7; alle in Berlin. Zusammen mit sieben weiteren Gefährten und Freunden, einig in ihrer Opposition gegen das Regime, stößt Hitler Generalmajor Stieff am 4. August auf Vorschlag des „Ehrenhofes des deutschen Heeres“ aus der Wehrmacht aus. Noch viele sollten folgen, denn maßlos war des Diktators Hass auf die „ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere“.

Montag, 7. August. Um neun Uhr eröffnet Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofes, den Schauprozess. Er verhöhnt die acht Frondeure, brüllt sie nieder. Stieff wird als erster vernommen. Er nennt, Freislers Beschimpfungen und Gebrüll missachtend, eines seiner Motive für seinen Widerstand: „Für Deutschland! Dienstag, 8. August. Um neun Uhr wird der Schauprozess fortgesetzt. Nach den Plädoyers der Verteidiger erhalten die Angeklagten Gelegenheit, ihre Abschiedsbriefe zu schreiben. Die Bedingung: Sie müssen ihre Schuld bekennen. Stieff schreibt an Ili: „Du weißt, daß ich nicht [aus] schlechtem Willen so gehandelt habe, auch wenn der Schein jetzt gegen mich steht.“ Nach 16 Uhr verkündet Freisler das Todesurteil. Die acht Angeklagten werden in die Strafanstalt Plötzensee in Charlottenburg gebracht. Noch in der Todeszelle tritt Stieff zum katholischen Glauben über, dem Glauben seiner Frau. In ihm will er sterben, und Pfarrer Peter Buchholz, der Gefängnisgeistliche, erfüllt seinen Wunsch. Um 17.34 Uhr wird Hellmuth Stieff durch eine Drahtschlinge qualvoll hingerichtet.

Albrecht Haushofer beschreibt in seinem Sonett „XXII. Gefährten“, im Gefängnis Moabit entstanden, die Haltung, die seelische Not und die Tortur:

„Den Weggefährten gilt ein langer Blick:
sie hatten alle Geist und Rang und Namen,
die gleichen Ziels in diese Zellen kamen –
und ihrer aller wartete der Strick.

Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt.
Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt.“

Quellen: Stieffs Briefe, soweit erhalten, liegen gedruckt vor: Horst Mühleisen (Hrsg.), Helmuth Stieff, Briefe, Berlin 1991 (Deutscher Widerstand 1933 – 1954. Zeitzeugnisse und Analysen). – Auszüge erschienen 1954: H(ans) R(othfels) (Hrsg.), Ausgewählte Briefe von Generalmajor Helmuth (sic!) Stieff (hingerichtet am 8. August 1944), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 291-305.

Lit.: Über Stieffs Widerstand unterrichtet ausführlich: Horst Mühleisen, Hellmuth Stieff und der militärische Widerstand, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 39 (1991), S. 339-377. – Stieffs Verhalten ist auch bei Historikern umstritten: Christian Müller, Oberst i.G. Stauffenberg. Eine Biographie, Düsseldorf 1970, S. 341, 358f., 384, 424, 498. – Wolfgang Venohr, Stauffenberg. Symbol der deutschen Einheit. Eine politische Biographie, Frankfurt/M u.a. 1986, S. 263, 280, 308, 317, 342, 344, 377, 392, 402. – Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 417f.Das Stahlberg-Zitat, das auf eine Äußerung des Bruders, Hans-Conrad Stahlberg, 1944 Mitarbeiter Stieffs in der Organisationsabteilung, zurückgeht, in: Alexander Stahlberg, Die verdammte Pflicht. Erinnerungen 1932 bis 1945, Berlin u. a. 1987, S. 388.– Heusingers Bemerkung: „Hitler hat es eben geschickt gemacht. Gespräch mit Adolf Heusinger“, in: Guido Knopp/ Bernd Wiegmann, Warum habt ihr Hitler nicht verhindert? Fragen an Mächtige und Ohnmächtige, Frankfurt/M. 1983, S. 103-108. – Das vorliegende Lebensbild ist ein Auszug aus dem Beitrag von Horst Mühleisen († 7.12.2021), Generalmajor Hellmuth Stieff – Zauderer und Patriot, in: Ernst Gierlich/ Hans-Günther Parplies (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Nordosten. Persönlichkeiten, Konzepte, Schicksale, Berlin 2021, S. 137-154.

Bild: 20. Juli 1944, 4. Aufl., neubearbeitet und ergänzt von Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn 1951.

Horst Mühleisen