Astrid von Friesen zu Spätfolgen der Vertreibung – Rechberg-Tagung der Ackermann-Gemeinde der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Astrid von Friesen – nach eigenem Bekunden ein Flüchtlingskind in Westdeutschland – ist Diplom-Pädagogin, Psychotherapeutin, Publizistin und akademische Lehrerin an den Universitäten Freiberg und Dresden. Das Multi-Talent entstammt einem 800 Jahre alten sächsischen Adelsgeschlecht. Enteignung, Verfolgung und Vertreibung führten sie als Kind in den freien Teil Deutschlands. Damit entging sie dem Schicksal vieler ihrer Verwandten, die ihrer adeligen Herkunft wegen ermordet wurden: Astrid von Friesens Urgroßvater starb in einem Lager auf Rügen vor den Augen ihrer Vettern und Cousinen einen qualvollen Hungertod. Die Kinder waren damals zwischen einem und zwölf Jahren alt. Andere Verwandte kamen unter ähnlichen Umständen ums Leben. Astrid von Friesen war jetzt zu Gast beim „Bischof-Neumann-Kreis“ der Ackermann-Gemeinde der Diözese Rottenburg-Stuttgart auf dem Rechberg in Schwäbisch Gmünd. Ihr Thema: „Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener, Flüchtlinge, Aussiedler und Verstoßener“.
Die systematische Ausrottung ostdeutscher Adeliger trat einer breiteren Öffentlichkeit erst nach Öffnung der sowjetischen Staatsarchive ins Bewusstsein. Folterung, Erschießung oder Verschleppung nach Sibirien zeichnete das Schicksal von Menschen, deren Todesurteil ihr angeborener Name war. In zehn Sonderlagern der Sowjets kamen bis 1950 von den rund 140 000 bis 176 000 Inhaftierten etwa 40 000 Menschen an den direkten Folgen der Haft ums Leben.
Astrid von Friesen weiß also nicht nur aus eigener leidvoller Erfahrung, sondern auch aus ihrer breit angelegten wissenschaftlichen Basis, wovon sie bei der Ackermann-Gemeinde spricht: Flucht und Vertreibung haben nicht nur bei der unmittelbar betroffenen Erlebnisgeneration sichtbare und unsichtbare Spuren hinterlassen. Ihre Kinder (ab Jahrgang 1950) und sogar deren Kinder (die heutige dritte Generation) leiden unter den Folgen der Traumata ihrer Eltern. Die biblische Prophezeiung ´der Väter Sünden hat Nachwirkungen bis zur vierten Generation´ scheint sich zu erfüllen.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es für Millionen Menschen, die als Überlebende vor den Trümmern ihrer Existenz standen, keine Krisen-Interventions-Teams“, wie Michael Joachim Roos, Diözesan-Vorsitzender der der Ackermann-Gemeinde in seinerVertreibung und Flucht, das Unerhörte, Unaussprechliche wurden in der Folge nicht thematisiert, also auch nicht ausgesprochen, sondern verdrängt, also nicht verarbeitet. Es brannte sich dadurch unauslöschlich in die Seelen der Betroffenen ein. Für viele Menschen bedeutete das eine zweite Pein: Psychische und psychosomatische Erkrankungen, die Unfähigkeit die Last zu tragen, nicht selten schien der Suizid dann der einzig gangbare Weg.
Die „Zweite-Generations-Problematik“, eigentlich ein Begriff der Holocaust-Forschung, fand – gerade auch dank der Unterstützung israelischer Forscher – Eingang in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bei der Untersuchung von Spätfolgen der zweiten und dritten Generation in Vertriebenen-Familien. Erstmals, so erklärt Frau von Friesen, wird dieser Terminus damit im deutschen Bereich angewendet.
Die Forschung beschäftigt sich mit der Frage, was in den Seelen der Kinder von 15 Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen vorgeht, deren Eltern mehrheitlich an einem Trauma bedingten Stresssymptom litten. Eltern, deren Kraft im Alter schwindet, um den bisher mühsam aufrechterhaltenen Verdrängungszustand weiter halten zu können und die so nach und nach von furchtbaren Erinnerungen eingeholt werden.
Frau von Friesen berichtet in diesem Zusammenhang von einem dementen alten Mann, der kurz vor seinem Tode noch einmal drei Monate gegen die „Russen kämpfen musste“. Diese Re-Traumatisierung erlebt der Betroffene „so, als ob es im Moment passiert“.
Die Eltern der zweiten Generation waren Nazis oder Mitläufern, Tätern oder Opfer, Kriegsgefangene, Vergewaltigte oder psychiatrisch Hospitalisierte, Widerstandskämpfer, Hungernde, Zerschossene, getötet habende oder selbst getötete Soldaten.
Viele Kinder waren Waisen, Vaterlose, Kinder aus Not-Ehen und Fehltritten, Ausgebombte, Umgesiedelte, Verwirrte und Geschockte. Was erfuhren sie von ihren Eltern über die – natürlicherweise idealisierten – „guten alten Zeiten“, was aus verschämten Andeutungen und Halbwahrheiten, was von den verleugneten Verstrickungen im Faschismus?
Was bewirkte die „überlastete Omnipotenz“ der alleinerziehenden Mütter, was die verstört und kaputt heimkehrenden Väter? Männer, die freiwillig in den Krieg zogen, um ideologisch überzeugt und in Siegerpose „Lebensraum für das Deutsche Reich“ zu erobern oder die als 18jährige Jungen unfreiwillig an die Front geworfen wurden.
Menschen, die nach dem Krieg, in welchem sie ihren Kopf „für alle“ hinhielten, keineswegs als Helden willkommen geheißen wurden, sondern sich verschämt und gedemütigt in zerrissenen Zivilkleidern nach Hause schlichen. Die sich nun verzweifelt ob ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Niederlage oftmals in Sarkasmen flüchteten, zu normalem Gefühlsempfinden unfähig waren, weil sie das Grauen des tödliche Gemetzels in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern durchleben mussten.
Die Folge: Eine „emotionalen Ertaubung“, wie von Friesen es nennt. Mit diesen Defiziten waren diese jungen Männer in ihren prägenden Jahren beschwert, unfähig, Familiensinn und Zärtlichkeit zu geben oder zu empfangen. Nach wie vor waren ihre Seelen gefangen im Erlebten: Brachiale Gewalt, vermeintliche Tötungsnotwendigkeit, der Kampf gegen monatelange Kälte von minus 30 Grad oder von Hitze und Durst in Afrika und von Hunger hinter der Front. Immer mit der quälenden Frage belastet, wenn monatelang Post aus der Heimat ausblieb, wie es der Familie zu Hause ergehen mag, ob die Frauen treu bleiben und ob die Bomben sie und die Kinder vielleicht verletzt oder getötet haben könnten.
Ein weiteres emotionales Defizit der Eltern aus dieser Erlebnis-Generation war in ihrer Sozialisation im Faschismus begründet. Hass und Schwarz-Weiß-Denken wird von ihren Kindern unbewusst übernommen, wie von Friesen am Beispiel einer Tochter von Sudeten-Deutschen berichtet. Sie war im Revanchismus ihrer Eltern stehengeblieben und lebte einsam und isoliert. Freunde konnten in der Wahrnehmungsstörung dieser Frau nur Sudetendeutsche sein. In diese freudlose Isolation waren ihre Söhne eingebunden.
Kinder wuchsen so atmosphärisch geprägt auf in einer diffusen Gemengelage von Schuld, Scham, Verzweiflung, Trauer, Sehnsucht und Wurzellosigkeit. Ihre Kindheit war gespalten, einerseits idealisierte, sehnsuchtsvolle Erzählungen ihrer Eltern über „alte Zeiten“. Andererseits die harte Lebenswirklichkeit in Notunterkünften, in Abhängigkeit von West-Verwandten oder Fremden. In dieser Situation in den 50er und 60 er Jahren erfuhren Flüchtlinge häufig Ablehnung. Sie waren anders, sprachen anders, kochten anders. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen und wurden als „zusätzliche Esser“ diskreditiert. Denn: manche Gemeinden mussten beispielsweise in Schleswig-Holstein einen Flüchtlingszustrom von 50 Prozent der ursprünglichen Einwohnerzahl verkraften.
Der Erste Weltkrieg kostete 1,8 Millionen und der Zweite Weltkrieg 5,25 Millionen deutscher Soldaten im „besten Mannesalter“ das Leben. Sie hinterließen jeweils Millionen vaterverlassene Kinder. Wer selbst vaterlos aufwächst, so von Friesens Folgerung, und den eigenen Schmerz verdrängt, könne nicht empfinden, was es heißt, dass eigene Kind zu verlassen. In letzter Konsequenz werde Vaterlosigkeit von den 70er Jahren an und auch teilweise heute noch als Ideal propagiert. Das führe zu einer Entwertung des männlichen Prinzips.
Von Friesen sieht in der millionenfachen Vater-Entbehrung nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die Ursache der 30 Jahre später gelösten noch heute anhaltenden Scheidungslawine. Bei Frauen habe die Abwehr des erlittenen Kinderschmerzes in Teilen der Frauenbewegung zu einer Werte-Umkehr des Vaterverlustes geführt:
„Das Matriarchat hat im zwischenmenschlichen Bereich gesiegt: Kinder erleben überbordende, oftmals distanzlose Weiblichkeit bei ihren Müttern, im Kindergarten und in den Schulen, bei weiblichen Therapeuten und Ärzten. Wie soll sich bitteschön ein Junge zurechtfinden, da er sich nicht mit Frauen identifizieren kann?“
Eine weitere Spätfolge für Angehörige der Vertriebenen in der zweiten bis hin zur dritten Generation sind Depressionen. Wenn bei Eltern- oder Großelterngeneration ein Besitz- oder Prestigeverlust auftrat, können ganze Familien erstarren. Ihr Blick ist ausschließlich nach rückwärtsgewandt. Alles Neue und alle Lebendigkeit muss deshalb abgewehrt werden. Das kann, so von Friesen, bei der Enkel- oder Urenkelgeneration zu psychischen Erkrankungen und schlimmstenfalls zum Suizid führen.
Generell sieht von Friesen bei Flüchtlingen und deren Kinder vier Bewältigungsstrategien: Trotz – man kultiviert trotzig das Anderssein. Resignation – mit der Folge von Krankheit, Depression und Sucht. Revanchismus – die Flucht in eine illusionäre Vergangenheit, häufig gepaart mit Hass in die nachfolgenden Generationen hinein und schließlich Überanpassung durch Leistung, um die innere Scham zu kompensieren.
Mit ihren Analysen der Spätfolgen, das zeigte sich bei der Rechberg-Tagung, traf Astrid von Friesen die Befindlichkeit der überwiegenden Zahl der Teilnehmer. Viele, selbst noch als Vertriebene der Ursprungs- oder Erlebnisgeneration angehörig, konnten die Sprechblockade über das Erlebte erst im späten Herbst ihres Lebens aktiv aufheben. Der Grund: Sie wurden von der heutigen dritten Generation, also ihren Enkelkindern bedrängt, über das Geschehene noch zu Lebzeiten zu berichten.
Professor Ralf Brückner, Deutsch-Böhme, Jahrgang 1931, vertrieben 1946, hat seine Geschichte 2012 aufgeschrieben, nicht immer ganz freiwillig, wie er selbst einräumt, sondern von einem Weggefährten unter- und gestützt, wenn es vonnöten war. Brückner schilderte eindrücklich, wie die Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit ihn an die Grenze des Erträglichen brachten. Nach Abschluss seiner Aufzeichnungen, die alle Wunden wieder aufriss, verdüsterte sich seine Seele.
Ein Besuch in der alten Heimat im Haus seines Vaters, des Zuckerbäckers, stellte seinen Versöhnungswillen und seine Bereitschaft, zur friedlichen Verständigung mit den tschechischen Nachbarn beizutragen, auf eine harte Probe: „Ach ja, der Zuckerbäcker“, so wurde ihm beschieden, der „hat ´mal bei uns im Haus gewohnt“, meinten die neuen selbsternannten Eigentümer seit 1946…Inzwischen hat Brückner diesen Schock und auch die Folgen der Aufarbeitung seiner Geschichte überwunden. Hilfe und Ermunterung fand er in „seiner Ackermann-Gemeinde“, wie schon 60 Jahre zuvor. Friedensdienst im kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Raum, das sind Brückner selbstverständliche Werte. Ganz im Geiste dessen, „was uns die frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus aufträgt“.
Walter E. F. Krämer