Ereignis vom 31. März 1895

Der Weichseldurchstich bei Schiewenhorst

Als in der Nacht zum 1. Februar 1840 die Danziger Weichsel, der westliche Mündungsarm der Stromweichsel, infolge einer Eisstopfung den Dünengürtel der Binnennehrung beim Dorf Neufähr durchbrach und sich eine neue Mündung in die Ostsee schuf (siehe OGT 1990, S. 283-285), war nicht nur eine akute Gefahr für die gesamte Niederung, sondern auch für die Stadt Danzig (heute: Gdańsk) abgewendet. Dieses für einen der großen Ströme Europas einmalige Ereignis behob zwar einen aktuellen Notstand, doch in der Folgezeit verschlechterten sich die Abflusssysteme im gesamten Niederungsgebiet. Zudem erwies sich die neue Mündung in die Ostsee als nicht schiffbar. Die Elbinger Weichsel – der östliche Mündungsarm – versandete mehr und mehr, sodass bereits 1845-50 der sog. Weichsel-Haff-Kanal quer durch das Große Werder gebaut werden musste, um die Schiffsverbindung von Danzig nach Elbing (heute: Elbląg) und Königsberg (heute: Kaliningrad) aufrechtzuerhalten. Die Neufährer Durchbruchsstelle blieb wegen der anhaltenden Sinkstoff-Ablagerungen unkontrollierbar und steigerte das Risiko bei Eisgang und Hochwasser.

Die Idee einer gezielt angelegten direkten Ausmündung des Stroms in die Ostsee trat verhältnismäßig spät auf den Plan, weil man vermutlich davon eine grundlegende Lösung der Wasserprobleme im Unterlauf der Weichsel zunächst nicht erhoffte und wohl auch die technischen Möglichkeiten dazu nicht ausreichten. Den beiden Hauptschwierigkeiten – Überschwemmungsgefahr durch Eisgang und Hochwasser sowie unregelmäßige und zu geringe Wassertiefen – begegnete man fast das ganze Jahrhundert hindurch mit planmäßig durchgeführten Baumaßnahmen, die 1835 einsetzten und in ihrer ersten Phase bis zum Jahr 1879 liefen, wofür rund elf Mio. Mark aufgewendet wurden. Hauptansatzpunkt der Arbeiten bildeten – neben den konventionellen, zumeist von den Anliegern zu besorgenden Deichsicherungen – die genaue Fixierung von Strombettbreite und Fahrrinne in Verbindung mit der Regelung der Nogat-Abzweigung (für die jedoch erst im 20. Jahrhundert eine befriedigende Lösung gefunden werden konnte).

Die zweite Ausbauphase basierte auf einer vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten erstellten Denkschrift aus dem Jahr 1879, die dem Preußischen Landtag die Bereitstellung außerordentlicher Mittel empfahl, um endlich eine den Erfordernissen der modernen Schiffahrt genügende, durchgehende Mindestwassertiefe der unteren Weichsel zu erzielen. Für die Kosten dieser Regulierung war eine Summe von 8,5 Mio. Mark ausgewiesen, die zunächst für die Arbeiten am Stromlauf im Regierungsbezirk Marienwerder (heute: Kwidzyn) galt. Hinzu kamen ab 1885 weitere 6,9 Mio. Mark für die entsprechenden Maßnahmen im Bezirk Danzig, die ihren Abschluss 1894 fanden. Diese Arbeiten, die im Wesentlichen durch den ungünstigen Zustand der Weichsel in Russisch-Polen verursacht wurden, dienten vorrangig wirtschafts- und verkehrspolitischen Erwägungen und führten zugleich zu entscheidenden Verbesserungen der Landeskultur. Sie betrafen den – die meiste Zeit des Jahres vorherrschenden – Normalwasserstand, während die Gefahren der unkontrollierbaren Hochwasser und Eisgänge für das gesamte Weichseldelta weiter bestehen blieben. Da die Nogat sich speziell für die Eisabführung als völlig ungeeignet erwies, andererseits auch die Neufährer Mündung von 1840 sich immer ungünstiger entwickelte, rückte die Frage einer grundlegenden Neugestaltung der Weichselmündung in den Mittelpunkt. Auf die dringenden Wünsche der Anlieger hin veranlaßte die Preußische Staatsregierung Anfang der 1880er Jahre die Erstellung verschiedener Entwürfe, die – in Details abweichend – das einheitliche Ziel eines Durchstichs vom Ende der ungeteilten Weichsel in gerader Richtung nach Norden in die Ostsee vorsahen. Eine erneute Hochwasserkatastrophe im März 1888, die das gesamte Kleine Marienburger Werder und die Elbinger Niederung unter Wasser setzte, beschleunigte die Entscheidung und führte zum Gesetz zur „Regulierung der Stromverhältnisse in der Weichsel und Nogat“ vom 20. Juni 1888. Danach war als oberste Aufgabe die „Herstellung eines Durchstichs für den Weichselstrom durch die Danziger Binnennehrung auf der Linie Einlage–Ostsee nebst Bedeichung und Molenanlagen“ genannt und ein Kostenbeitrag von 20 Mio. Mark bewilligt. Die nötigen Vorarbeiten begannen sofort, die Bauausführung wurde 1890 in Angriff genommen.

Der 7,1 km lange Durchstich verkürzte den Weichsellauf um 10 km. Er setzte 1,5 km unterhalb der Abmündung der Elbinger Weichsel an und führte zwischen den Nehrungsdörfern Schiewenhorst (heute: Świbno) und Nickelswalde (heute: Mikoszewo) in die offene See, wobei die Strombreite sich von 250 auf 400 m erweiterte. Die Ausführung geschah in offener (und trockener) Baugrube. In die abschließende Düne wurde nur ein 50 m breiter Leitgraben von 1400 m Länge gelegt, durch den der Strom sich nach Flutung des Hauptgrabens und unter Mitnahme der lockeren Sandmassen selbst den Weg ins Meer bahnen sollte. Der Bau schritt zügig voran, weil die Arbeiten in der Hand nur einer einzigen Firma lagen. Für den Durchstich mussten 700 ha Niederungsland sowie 67 Wohnhäuser und 25 Wirtschaftsgebäude erworben werden. Der Bodenaushub betrug 7,2 Mio. Kubikmeter, wofür an Arbeitsgerät ein großer Teil der beim Bau des Nord-Ostsee-Kanals verwendeten Maschinen zur Verfügung stand. Im Sommer 1894 konnte der Stromdeich, der die Weichsel vom neuen Bett trennte, abgetragen werden, und am 6. November wurde der letzte Schutzdamm beseitigt und das Wasser in das neue Bett eingelassen.

Nachdem der Eisgang des Frühjahrs 1895 noch den alten Weg genommen hatte, sollte das anschließende Hochwasser die neue Mündung benutzen. Am 31. März 1895 um 15.45 Uhr erfolgte der Durchstich der Seedüne bei Schiewenhorst – der Weg war frei. Am nächsten Morgen hatte die Strömung den Leitgraben schon auf 300 m verbreitert. Im Sommer desselben Jahres wurden die alten Stromarme in Richtung Danzig und Frisches Haff endgültig verschlossen und durch Schleusenwerke zur Hauptweichsel gesichert. 55 Jahre nach dem Durchbruch bei Neufähr hatte die Weichsel nun eine durch Menschenhand und Ingenieurkunst geschaffene, endgültige Ausmündung erhalten, die die Jahrhunderte währenden Gefahren für die Niederungsgebiete wohl dauerhaft beseitigte und zugleich die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Stroms entscheidend zu heben vermochte.

Lit.: C. Müller: Die Regulierung der Weichselmündung, in: Centralblatt der Bauverwaltung Jg. 15 (1895), S. 133-139.- Die Weichsel. Ihre Bedeutung als Strom u. Schiffahrtsstraße u. ihre Kulturaufgaben, hg. von Richard Winkel, Leipzig 1839. – Bruno Schmidt: Vom Weichseldurchbruch und vom Weichseldurchstich, in: Westpreußen-Jahrbuch 1962, S. 117-119.- Hans Hoppe: Die Regulierung der unteren Weichsel, in: ebd. 1969, S. 59-64.

Peter Letkemann