Ereignis vom 1. Januar 1621

DAS PRAGER „BLUTGERICHT“

2021 jährt sich zum vierhundertsten Mal das Gedenken an das Prager „Blutgericht“, das am 21. Juni 1621 auf dem Platz vor dem Altstädter Rathaus exekutiert wurde. Eine polarisierende nationale tschechische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts erblickte in den Ereignissen alleine einen Unterdrückungsakt gegen das tschechische Volk und seine Freiheit. Das „Blutgericht“ steht aber eng im Zusammenhang mit den Folgen der Schlacht am Weissen Berge und den Ereignissen, die zu dieser Schlacht führten. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges wird mit dem „Zweiten Prager Fenstersturz“ am 23. Mai 1618 in Verbindung gebracht. Vorausgegangen waren konfessionelle Streitereien. Wegen der umstrittenen Schließung eines evangelischen Gotteshauses kam es zunächst innerhalb Böhmens auf lokaler Ebene zu einem Streit unterschiedlicher Konfessionen, in den schließlich das ganze Land mit hineingezogen werden sollte. Der Kaiser wollte die Situation beruhigen, indem er ein Verbot der Adelsversammlungen verfügte. Aufgebrachte protestantische Adelige drangen daraufhin in die Prager Burg ein und warfen drei Vertreter der kaiserlichen Verwaltung kurzerhand aus dem Fenster. Der Kaiser traf darauf hin militärische Vorbereitungen, um gegen die aufsässigen Adeligen vorzugehen. Das hatte eine Abwendung der böhmischen Adeligen vom Hause Habsburg zur Folge. Es kam zur Ständerevolution. Die Aufständische Adelspartei erhielt Hilfe von vielen Seiten und die Erhebung gegen den Kaiser gestaltete sich zunächst erfolgreich. Die Meinungsverschiedenheiten sollten bei einem Vermittlungsversuch in Eger aus der Welt geschafft werden, doch ehe eine Verständigung erreicht werden konnte, verstarb Kaiser Matthias am 20. März 1619.

 

 

Als sein Nachfolger Kaiser Ferdinand II. die Regierung antrat, waren die böhmischen Stände nicht gewillt, erneut die Herrschaft eines Habsburgers anzuerkennen. Stattdessen wählten die Vertreter der böhmischen Stände am 26. August 1619 den jungen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum böhmischen König. Die Krönung fand am 4. November 1619 in Prag statt. Friedrich war calvinistisch geprägt, was sich zum Nachteil des Luthertums auswirken sollte. Dazu kam, dass die Radikalität von calvinistischen Bilderstürmen abschreckte. Es kam zu vandalistischen Exzessen, bei denen in katholischen Kirchen Heiligenfiguren und Kruzifixe unter Abhaltung von Schmähreden zerstört wurden. Diese Radikalität und die Benachteiligung des Luthertums brachten den jungen König um die Unterstützung der Lutheraner im eigenen Land, wie auch um die Hilfe der lutheranischen Fürsten im benachbarten Deutschland. Nach kurzer Zeit war der neue König Friedrich völlig isoliert und sah sich allein einem Bündnis zwischen Habsburg, der katholischen Liga und dem polnischen König gegenüber.

Ein weiterer Grund für die rasche Niederlage des so genannten „Winterkönigs“ dürfte in dem Umstand liegen, dass die Stände über keine Unterstützung in der Bevölkerung verfügten. Der Adel wurde als Großgrundbesitzer und Unterdrücker wahrgenommen, der kompromisslos auf seine Vorrechte pochte und seine Abgaben einforderte. Die rasche Isolation des „Winterkönigs“ und die mangelnde Unterstützung im eigenen Land waren somit die beiden Hauptauslöser. Die kaiserliche Armee war schnell herbeigeeilt, die Schlacht am Weissen Berg schon nach zwei Stunden entschieden, während man auf der Prager Burg noch tafelte. Als der junge König seinen kämpfenden Truppen zu Hilfe kommen wollte, traf er nur noch auf fliehende Soldaten. Die Stadt Prag ergab sich am 11. November 1620. Das Ständeheer war vernichtend geschlagen worden.

Was nun folgte, war eine grausame Abrechnung mit den Aufständischen. Nur wenigen gelang die Flucht nach Sachsen oder Schlesien. Andere hofften auf Gnade, auf eine Generalamnestie. Schon zwei Tage nach dem Fall Prags hatten sich die Häupter der Stände versammelt. Diese Versammlung erkannte Ferdinand II. als rechtmäßigen König von Böhmen an und bat um Gnade. Darauf folgte ein Vierteljahr Ungewissheit. Am 20. Februar 1621 kam die Gewissheit, dass es keine Gnade geben werde. Alle Führer der Ständerevolution, derer man habhaft werden konnte, wurden eingekerkert. Was dann folgte, ist als „Blutgericht“ in die Geschichte Böhmens eingegangen. Der böhmische Historiker Ludwig Schlesinger schreibt darüber: „Ein schauerliches Blutgericht war es in der That, das über die Männer des Aufstandes nach mannigfachen Verhören und Bekehrungsversuchen am 21. Juni 1621 früh um 5 Uhr auf dem Platze vor dem Altstädter Rathause vorgenommen wurde. Von den 48 Verhafteten waren 27 zum Tode, die übrigen zu qualvollen und schimpflichen Strafen verurtheilt worden. Es waren durchwegs Männer im gereiften Alter, darunter Greise, die bereits mit einem Fusse im Grabe Standen; der jüngste war der vierzigjährige Bürgermeister Johann von Kutnauer, ein Deutscher seiner Nationalität nach.“ Die Bemerkung Schlesingers, dass der Bürgermeister ein Deutscher war, war dem Umstand geschuldet, dass im tschechischen Nationalbewusstsein das Prager Blutgericht noch dreihundert Jahre später als ein schwarzer Tag für die tschechische Nation galt, obwohl sich unter den 27 Hingerichteten auch Deutsche befanden. Das belegen die zehn deutschen Namen der Hinrichtungsliste. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass zur damaligen Zeit die Namen noch nicht unbedingt etwas über das persönliche nationale Zugehörigkeitsgefühl ausgesagt haben. Die Hingerichteten empfanden sich wohl in erster Linie nicht als Tschechen oder Deutsche, sondern insgesamt als Böhmen. Dennoch wurde 300 Jahre später dieses Tages immer nur aus tschechisch-nationaler Sicht gedacht, indem von der tschechischen Prager Bevölkerung Blumen an der Hinrichtungsstelle niedergelegt wurden.

Die Ereignisse um die Schlacht beim Weissen Berge mit dem folgenden Blutgericht sind wichtige Bestandteile des tschechischen Nationalmythos geworden. Für diese Art der Geschichtsbetrachtung markieren diese Ereignisse den Niedergang der tschechischen Nation. Es kam tatsächlich zu einem völligen Umschwung in religiöser und machtpolitischer Hinsicht. Der Adel wurde entmachtet und der Absolutismus katholischer Prägung etabliert. Die Gegenreformation wurde mit allem Nachdruck durchgeführt. Als sich schließlich das Kriegsglück immer mehr der katholischen Seite zuneigte, wurde ab 1624 die gesamte Bevölkerung zum Übertritt zum katholischen Glauben gezwungen. Lutherische Pfarrer wurden des Landes verwiesen. Hinzu kam, dass der Besitz von Aufständischen enteignet und Katholiken übergeben wurde. Diese rigiden Maßnahmen, so erfolgversprechend sie den damaligen kirchlichen und weltlichen Machthabern vorgekommen sein mögen, erwiesen sich in der Zeit des nationalen Wiedererwachens als schwere Hypothek für den Katholizismus in Böhmen.

Das Prager Blutgericht war kein Verbrechen von Deutschen an Tschechen, wie es der Nationalismus des 19. Jahrhunderts vereinfachend und verzerrend zu kolportieren sich veranlasst sah. Das Prager Blutgericht war in erster Linie die Rache eines Siegers über die Besiegten, wie sie in jener Zeit gar nicht so unüblich war. Man denke an den wenig zimperlichen Umgang der katholischen Seite mit den unterlegenen Hugenotten in Frankreich. Auch Hugenotten wurden ermordet, hingerichtet, enteignet und vertrieben, ähnlich wie es die böhmischen Protestanten erleben mussten. Der Hauptgrund lag in der Anmaßung der Siegerseite, mit den Besiegten nach Belieben verfahren zu wollen. Das Hauptmotiv war wahrscheinlich sogar weniger genuin religiöser Art. Religiöse Spaltungen innerhalb der Länder hatten häufig eine Schwächung nach außen zur Folge. Es musste mit Aufständen und internen Machtkämpfen gerechnet werden, wozu die Religion leider oft genug einen willkommenen Anlass bot. Religion wurde zur Machterweiterung missbraucht.

Des Weiteren kann gesagt werden, dass mit dem Blutgericht nicht eine Zeit der Freiheit beendet worden ist, wie es von tschechisch nationaler Seite gerne behauptet wurde. Wie der Historiker Ludwig Schlesinger schon bemerkt hat, fehlte den aufständischen Adeligen die Unterstützung der breiten tschechischen Bevölkerung, weil die Adeligen auf ihren Gütern sehr wohl als Ausbeuter und Unterdrücker erlebt wurden. Die Einführung der katholischen Monarchie war nicht die Ablösung der Freiheit durch die Tyrannei, sondern eher die Ablösung einer Gewaltherrschaft durch eine andere, die sich allerdings effizienter ihrer Machtwerkzeuge bedienen konnte.

Und schließlich dürfte, so unglaublich sich das in tschechisch-national orientierten Ohren auch anhören mag, der Sieg der katholischen Seite die tschechische Nation vor dem Aufgehen in das deutsche Sprachgebiet bewahrt haben. Denn die im Norden an Böhmen angrenzenden Länder Sachsen und Schlesien waren protestantisch und gehörten zu den am dichtest besiedelten Gebieten in ganz Europa. Bei einem Sieg der protestantischen Seite wäre eine starke Einwanderung aus dem deutschsprachigen Norden in das südliche Böhmen wahrscheinlich gewesen. Möglicherweise wäre die deutsch-tschechische Sprachgrenze bei Melnik durch die protestantische Einwanderung aus dem Norden so weit nach Süden gedrückt worden, dass Prag keine Deutsche Sprachinsel im tschechischen Sprachgebiet mehr gewesen wäre, sondern in das deutsche Sprachgebiet integriert worden wäre, wie es bei Brünn in Mähren noch bis zur Industriealisierung der Fall war. Möglicherweise hätten die Tschechen somit auf Dauer ihre Mehrheit in Böhmen verloren. Diese Gedanken sind deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil sehr wohl nachweisbar ist, dass die Einwanderung aus den deutschsprachigen katholischen Ländern ins südliche Grenzgebiet nur wenig zu Ungunsten des Tschechischen Sprachgebietes ausfiel. Lediglich Böhmisch Krummau, weit im Süden Böhmens gelegen, wurde zu einer deutschsprachigen Stadt.

Bleibt zu hoffen, dass aus Anlass des vierhundertjährigen Jubiläums des Prager Blutgerichtes weniger nationale Befindlichkeiten eine Rolle spielen, wie dies in der Vergangenheit beim Gedenken an diese historische Begebenheit geschehen ist.

Bild: Gerhart-Hauptmann-Haus, Düsseldorf.

Helmut Gehrmann