„Wir dürfen uns nicht abschließen!“ Diese Maxime, die der noch nicht 18jährige aufstellte, blieb charakteristisch für das ganze Leben des Josef Stingls, der zuletzt als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg zu den profiliertesten Persönlichkeiten nicht nur der sudetendeutschen Volksgruppe gehörte. Josef Stingl, Sohn eines Bäckermeisters aus Maria Kulm, einem bekannten Marien-Wallfahrtsort im Egerland bei Falkenau, machte sein Abitur in Eger und empfing eine entscheidende Prägung durch die katholische Jugendbewegung des Bundes Staffelstein, dessen Grundorientierung in Persönlichkeitsbildung und Gemeinschaftsbindung von der Synthese „Volk und Glaube“ bestimmt war. Das war auch der Titel einer intellektuellen Zeitschrift des sudetendeutschen Jungkatholizismus, die bis 1938 erschien. Volkspolitisch, gesellschaftlich und kirchlich war die gegenseitige Ergänzung von Volkstum und Christentum eine Antwort auf die Existenzfragen, die nach der Zerschlagung Österreich-Ungarns und durch die Gründung der auf sprachnationalen Grundlagen errichteten Tschechoslowakei auf die Sudetendeutschen zukamen. Die jungkatholische Bewegung war auch ein Teil der kirchlichen Erneuerung, wie sie sich in der Öffnung zur Gesellschaft im Geiste der katholischen Aktion und in der volksliturgischen Bewegung äußerte.
Bis zum Abitur konnten diese Gedanken einer Gemeinschaft Gleichgesinnter die Entwicklung Josef Stingls bestimmen. Im selben Jahr 1938 jedoch brachte die Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete in den NS-Staat („Münchener Abkommen“) zwar den „Anschluß“, aber auch das Ende der sudetendeutschen Eigenständigkeit, d. h. mit der Gleichschaltung auch die Auflösung der katholischen Volksgruppeneinrichtungen. Dann teilte Josef Stingl für ein Jahrzehnt das Schicksal seiner sudetendeutschen Generation: Die Ausbildung wurde unterbrochen, Berufspläne zerbrachen (Stingl hatte an Kulturarbeit in den Sprachinseln gedacht), Krieg, Vertreibung und Neubeginn stellten die Weichen für einen neuen Lebensabschnitt. Dazwischen lagen Einsatz als Flugzeugführer und Beobachter bei der Luftwaffe (Auszeichnung mit dem Deutschen Kreuz in Gold), zuletzt als Oberleutnant, und englische Gefangenschaft. In den Krieg fiel auch die Eheschließung mit seiner 1986 verstorbenen Frau Dorothea. In zweiter Ehe war Josef Stingl seit 1988 mit Elvira geb. Lougear verheiratet.
Im Zeichen des „Dreiklangs“: Arbeit – Studium – Besinnung begannen die Berliner Jahre. Arbeitsverpflichtung, Einsatz als Bauarbeiter, dann als Angestellter in einer Baugenossenschaft, seit 1948 Studium an der Hochschule für Politik – mit Abschluß durch eine Diplomarbeit über „Die Beamtenschaft als Pressure Group“ – Tätigkeit als Hilfsassistent an der Hochschule für Politik und als Referent für Sozialpolitik bei der IHK in Berlin sowie ein Lehrauftrag am Otto-Suhr-Institut kennzeichneten die Dynamik dieser Zeit – füllten sie aber nicht aus! Denn schon frühzeitig schloß sich Stingl der CDU an, wurde 1951 stellvertretender Kreisvorsitzender in Berlin-Reinickendorf, 1956 stellvertretender Landesvorsitzender, er war 1964-69 Leiter des Landesverbandes Oder-Neiße der CDU/CSU, wurde schon 1953 Mitglied des Deutschen Bundestages, leitete u.a. seit 1963 den Arbeitskreis „Arbeit und Soziales" und gehörte 1964-73 dem Bundesvorstand der CDU an.
1968 wurde Josef Stingl Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und damit Chef einer der größten und bedeutendsten Institutionen der Bundesrepublik Deutschland, deren Zuschnitt und Aufgabenstellung seiner Führungskraft und seinem Sozialengagement entsprachen. Lehrtätigkeit an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften inSpeyer – die ihm 1979 den Ehrendoktor verlieh – und an der Universität Bamberg belegte erneut, daß es außer dem Pragmatiker Stingl und dem Praktiker der Arbeitsverwaltung auch den aus theoretischen und werthaften Grundvorstellungen wirkenden Sozialethiker Stingl gab und gibt.
Aber damit nicht genug: Trotz der Zäsur war 1945/46 kein „Nullpunkt": Es gab das Wiedersehen mit alten Freunden, die Erneuerung, Festigung und Weiterführung alter Kontakte und Bindungen in Kirche, Volksgruppe und im sozialen Engagement. Auf diesen Ebenen wirkte der „andere Stingl“, wie 1982 eine große Tageszeitung schrieb.
Da war das prominente Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken: häufiger Referent, Vizepräsident des 80. Deutschen Katholikentages in Stuttgart, Leiter der Sachkommission Wirtschaft und Gesellschaft, Berater der Deutschen Bischofskonferenz, Mitglied der Gemeinsamen Konferenz von Bischöfen und ZK, des Katholischen Flüchtlingsrates usw. Und da war auch der sudetendeutsche Volksgruppenpolitiker: Nachfolger von Hans Schütz als Vorsitzender der Ackermann-Gemeinde, Mitglied des Sudetendeutschen Rates, der Bundesversammlung der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der Egerländer Gmoi usw. Stingl war aber auch Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des INTEREG, des Internationalen Institutes für Nationalitätenrecht und Regionalismus – mit einem ansehnlichen Aktionsradius; und er ist Leiter des deutschen e.V. der Ostpriesterhilfe („Kirche in Not“), woraus sich Stingls Eintreten für die verfolgte und schweigende Kirche ergibt …
Im letzten aber war er nicht „der eine“ und „der andere“ Stingl, sondern immer derselbe Sozialethiker, der in sich die „Welt der Dinge und der Menschen“ verband, für den Sozialpolitik und Arbeitsmarkt, Engagement für die verfolgte Kirche und Verständigung der Völker, d.h. Partnerschaft in einem künftigen Mitteleuropa auf den Fundamenten von Recht und Wahrheit eine feste Einheit bildeten, die von menschlicher Solidarität und christlicher Verantwortung getragen wird …
Ehrungen und höchste Auszeichnungen wurden Josef Stingl in großer Zahl als Anerkennung von kirchlicher, staatlicher (auch internationaler), gesellschaftlicher und landsmannschaftlicher Seite zuteil.
Lit.: Mensch und Arbeitswelt, Festschrift f. J. Stingl zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Alfred Kohl u.a., 533 S. Stuttgart 1984. – WER ist WER?, Das deutsche WHO’s WHO? 1987/88, S. 1383. – Weinmann, Egerländer fotografisches Lexikon, 2. Bd. 1987, S. 230. – Sudetendeutsche Zeitung v. 21.3.1969. – Mitteilungen des Sudetendeutschen Archivs 29 (1974) u. a.