Geboren wurde Wilhelm Treue, wie er es einmal formuliert, „im Zentrum von Berlin, Friedrichstraße 208, Ecke Kochstraße“, in eine preußische Beamtenfamilie. In Berlin besuchte er die Grund- und Oberschule. Im April 1928 erhielt er „nach je einem halben Jahr Unter- und Oberprima mit zwei weiteren Mitschülern das beste Abiturzeugnis“. Wilhelm Treue war nicht nur ein sehr guter Schüler in den theoretischen Fächern, sondern auch im Fach Sport, eine sicher seltene Kombination. Seine geradezu glänzenden Leistungen auf sportlichem Gebiet werden dadurch deutlich, daß er für ein Jahr Norddeutscher Meister im Hundertmeterlauf war.
Treue, der zunächst Medizin hatte studieren wollen, doch aus finanziellen Gründen davon Abstand nehmen mußte, begann 1928 Berlin mit dem Studium der Geschichte, der Botanik und der Kunstgeschichte. „Ich studierte nur bei wenigen Professoren“, bekennt Treue, und zwar bei Fritz Hartung, Ernst Perels und Hermann Oncken
Bemerkenswert erscheint, wie Wilhelm Treue seine Dissertation beurteilt. „Im siebenten Semester“ schriebt er, „promovierte ich mit einer Arbeit über Caprivis Landwirtschaftspolitik. Die Gutachter bewerteten sie mit „sehr gut“. Heute wäre sie eine mittlere Seminar- oder Semesterarbeit (dies als ein Beitrag zur Diskussion über den angeblich „ständigen Rückgang“ der studentischen Leistungen an den deutschen Universitäten).“
Nach der Promotion im Jahre 1932 entschied Treue sich für die Universitätslaufbahn, nachdem er durch Fritz Hartung dazu ermuntert worden war. 1937 habilitierte er sich mit der Arbeit „Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815-1825“ an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität. Die venia legendi erhielt er jedoch nicht, da er „weder (Mitglied) der Partei“ war noch einer der ihr angeschlossenen Organisationen angehörte. Die Universitätslaufbahn schien mithin für ihn verschlossen, jedenfalls solange die Nationalsozialisten regierten. Bitter bemerkt er hierzu: „Andere, nicht Tüchtigere, die (des Dozentenführers) Schering Bedingungen erfüllten, auch an den weltanschaulichen Dozenten-Lehrgängen der ,Partei‘ teilnahmen, wurden mir vorgezogen und konnten sich nach der Kapitulation als ,alte‘, ‚verdiente‘ Dozenten ausgeben … Sie erhielten also durch ihr Bekenntnis zum NS-Staat einen zeitlichen Vorsprung von rund einem Jahrzehnt und obendrein die wertvolleren Flüchtlingsausweise.“ Nach dem Kriege konnte Wilhelm Treue seine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität Göttingen fortsetzen, und zwar als Privatdozent, jedoch erst, nachdem er eine Probevorlesung hatte halten müssen. 1947 wurde er auf ein für ihn geschaffenes Extraordinariat der TH Hannover, das 1954 in ein Ordinariat umgewandelt wurde, berufen. Kurz nach Aufnahme seiner Lehrtätigkeit in Hannover erhielt er als einer der ersten deutschen Dozenten nach dem 2. Weltkrieg eine Einladung zu Lehrveranstaltungen und Forschungsarbeiten am Balliol College in Oxford. Nachdem er dort während drei ,terms‘ gewirkt hatte, kehrte er nach Deutschland zurück, wo sich seine Forschungsarbeiten mehr und mehr auf die Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Technikgeschichte konzentrierten.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entstanden die zahlreichen und zum Teil umfangreichen Werke vor allem zu den genannten Wissenschaftsdisziplinen; sie trugen Wilhelm Treue weltweites Ansehen ein. Daß die Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte heute zu den unverzichtbaren Disziplinen der Geschichtswissenschaft gehören, ist nicht zuletzt sein Verdienst. Die damit befaßten Arbeiten Treues behandeln in vielfacher Hinsicht neben Berlin den mittel- und ostdeutschen Raum bzw. das sächsisch-thüringische, das niederschlesische und das oberschlesische Industriegebiet. Genannt seien hierzu die folgenden Darstellungen: „Georg v. Giesche‘s Erben seit 1704“; „100 Jahre Caesar Wollheim“; „Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens“; „Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815 bis 1825“ sowie „Wirtschaft und Technik in Preußen bis zu den Reformen“. Die meisten Nachwuchswissenschaftler auf diesen Forschungsgebieten haben auf den durch ihn veranstalteten Assistenten- und Dozententagungen bei ihm gelernt und sich durch Veröffentlichungen in der durch ihn begründeten und über viele Jahre hinweg herausgegebe-Zeitschrift „Tradition“ die wissenschaftlichen Sporen verdient.
Daß der heutige Nestor der deutschen Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte wegen seiner großen Verdienste um diese Disziplinen in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien vertreten war, erscheint nur natürlich, auch daß er Rufe an die Universität Bochum I an die TH Berlin sowie Einladungen nach Südafrika und Paris erhielt und Träger der Karl-Sudhoff-Plakette der „Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik“, der Ehrenmedaille des „Vereins Deutscher Ingenieure“, des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse, Honorarprofessor der Universität Salzburg und Dr. h. c. war; ebenfalls daß er zum 65. Geburtstag eine Festschrift erhielt.
Beschlossen seien die Ausführungen zu Wilhelm Treues Leben und Wirken mit einem interessanten Zitat aus seiner Feder: „Blicke ich auf meine Kindheit und Jugend, insbesondere aber auf mein Studium und überhaupt auf mein wissenschaftliches Leben zurück“, schrieb er im Jahre 1982, „dann stelle ich dankbar fest, daß mir unverhältnismäßig viele Juden und Jüdinnen sowie ,Nichtarier‘ behilflich gewesen und freundschaftlich entgegengekommen sind, mir Bildungsgüter vermittelt und Maßstäbe nahegebracht haben.“
Werke (Auswahl): Die Eroberung der Erde; Kulturgeschichte des deutschen Alltags. – Politik und Wirtschaft. – Der Krimkrieg und die Entstehung der modernen Flotten. – Kulturgeschichte der Schraube (mit R. Kellermann) . – Gummi in Deutschland. – Die Geschichte der Ilseder Hütte. – Deutsche Geschichte von den Anfängen bis 1945. – Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. – Achse, Rad und Wagen. – 5000 Jahre einer kultur- und technikgeschichtlichen Entwicklung; Geschichte der August-Thyssen Hütte. – Georg v Giesche’s Erben seit 1704. – 100 Jahre Caesar Wollheim. – Eugen Langen und Nicolaus August Otto. Zum Verhältnis von Unternehmer und Erfinder, Ingenieur und Kaufmann. – 150 Jahre Köln-Düsseldorfer. – Über die Schicksale von Kunstwerken im Krieg, Revolution und Frieden. – Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens. – Wirtschaft, Gesellschaft und Technik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. – Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. – Entwurf zu einem Nekrolog oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Wege zur Wissenschaftsgeschichte II, Wiesbaden 1982, S. 111-139.