Wissenschaftlicher Beitrag: Krisztián Ungváry. Mitarbeit: Rudolf Fath, Stefan P. Teppert, Hans Vastag. Mit Illustrationen und Bildanhang. Eigenverlag Ulm 2020. ISBN 978-3-00-066343-7. 271 S. 20.- € + Versand
Bezug: Georg Richter, Eichengrund 106, 89075 Ulm, Tel. 0731 / 26 77 77, E-Mail: richter.georg.ulm@t-online.de
„Wir wollen heim“ ist eine Zeile eines Gedichts von Richard Wagner. „Nirgendwo Hilfe, nirgendwo Trost, niemand will helfen, alles verlost“ geht das Gedicht weiter. Es beschreibt die hoffnungslose Lage von Männern, die in einem Internierungslager in Ungarn vor der Welt versteckt gehalten und zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Die ungarischen Politiker verleugneten die Existenz dieser Männer. Man kann sich kaum vorstellen, dass sich so etwas in den 1950er Jahren in Ungarn abspielen konnte.
Die Rede ist vom wenig bekannten, aber umso berüchtigteren Lager von Tiszalök. Besucht man diese Gemeinde an der Theiß in Ungarn, fällt vor allem das riesige Stau- und Wasserkraftwerk auf, das in den 1950er Jahren errichtet wurde. Ganz in der Nähe steht ein unscheinbares Denkmal. Es erinnert daran, unter welchen dramatischen Umständen das imposante Bauwerk errichtet wurde. Wie menschenverachtend es beim Bau zuging, das ist heute unverstellbar und gehört zu den düstersten Kapiteln der ungarischen Geschichte. Dass dieses Kapitel nicht vergessen wird, dafür hat sich Georg Richter sein Leben lang eingesetzt. Er hat das Grauen von Tiszalök selbst erlebt. In Reden bei Gedenkveranstaltungen und Veröffentlichungen machte er das Thema immer wieder publik. Nun hat Georg Richter ein Buch veröffentlicht, das die Geschichte des Lagers Tiszalök greifbar macht.
Die Waffen-SS gilt allgemein als eine Freiwilligenformation. Wenig bekannt ist, dass nach der nicht so erfolgreichen Anwerbung von Freiwilligen in Ungarn unter den Ungarndeutschen diese schließlich zwangsrekrutiert wurden. Als die ungarndeutschen Kriegsgefangenen 1950, also erst fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, aus den sowjetischen Gefangenenlagern entlassen wurden, kamen sie nicht nach Deutschland, wo nach der Vertreibung der Ungarndeutschen von vielen die Angehörigen lebten, sondern nach Ungarn. Sie hofften auf die Freiheit und kamen in eine neue Hölle. Der 1200 Männer bemächtigte sich der ungarische Staatssicherheitsdienst ÁVH und schaffte sie nach Tiszalök in ein neu errichtetes Lager. Dort mussten sie unter schwierigen Umständen, mit Schaufeln und Spaten Erdarbeiten verrichten. In einer Kurve der Theiß wurde in Handarbeit ein zwei Kilometer langer Kanal ausgehoben. So entstanden der Schifffahrtskanal mit einer 85 Meter langen Schiffsschleuse und das Kraftwerk.
„Als 17- und 18jährige wurden wir unter dem Zwang der Nazidiktatur um unsere Jugend betrogen und in einen grauenhaften Krieg hineingetrieben, der uns für das Leben zeichnete. Neun Jahre und mehr sowjetisch-ungarische Kriegsgefangenschaft unter unwürdigen Lebensbedingungen sollten einen Menschen ohne Gedächtnis schaffen, der sich nach vollzogener Gehirnwäsche nicht mehr daran erinnern sollte, was er vor dem Kommunismus war, Besaß oder tat.“ Dieses Zitat aus dem Buch (Seite 44) sei herausgegriffen, weil es prägnant die Situation beschreibt.
Hatten die Männer in der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion zumindest zeitweilig brieflichen Kontakt zu ihren Angehörigen, waren sie nun völlig von der Außenwelt abgeschnitten. So war ihnen sogar der Kontakt zu den Zivilarbeitern untersagt. Eine Erhöhung der Arbeitsleistung sorgte schließlich ebenso für Unmut wie die immer noch nicht absehbare Entlassung. Unter einem neuen Lagerkommandanten eskalierte am 4. Oktober 1953 die Situation. Er negierte gar eine Aussicht auf Entlassung vor Fertigstellung des Wasserkraftwerks. Auf Unmutsäußerungen reagierte er drastisch. Einige Männer wurden als „Rädelsführer“ verhaftet. Dass sich die anderen Gefangenen für sie einsetzten, darauf reagierte der Lagerkommandant drakonisch mit einem Blutbad. Fünf Tote und dreißig Verletzte waren das traurige Ergebnis. Zur Rechtfertigung wurde den Gefangenen Meuterei und ein Fluchtversuch unterstellt. Doch wurde tatsächlich bald darauf ein Großteil der Gefangenen entlassen. Die letzten kamen aber erst 1955 frei.
Mit der Entlassung verlor der ungarische Geheimdienst keinesfalls das Interesse an den Männern. Georg Richter hat seine Geheimdienstakte 2006 eingesehen und war nicht nur erstaunt über die perfiden und frei erfundenen Spitzelberichte mit aberwitzigen Anschuldigungen, sondern auch über die weitere Überwachung. Eine Aktenübersicht eines Mitgefangenen ist insofern interessant, als die Akte erst 1986 (!) geschlossen wurde.
Georg Richter speist seinen Text aus persönlichen Erinnerungen, ergänzt um Berichte zu Gedenkfeiern. Im Zentrum des Buchs steht der auf sorgfältigen Recherchen beruhende Aufsatz des bekannten ungarischen Historikers Krisztián Ungváry „Doppelt unschuldig bestraft“, der die Lager deutlich als Konzentrationslager benennt. Er geht auch auf die Vorgeschichte mit den Rekrutierungen durch die Waffen-SS ein. Ungváry spürt darüber hinaus der Rechtsgrundlage der Internierung der Rückkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach und stößt auf gesetzeswidrige Vorgänge und ominöse Begründungen. Dazu wurden erst 1952 Verfügungen ausgesprochen über die Internierungen, also eineinhalb Jahre nach der tatsächlich erfolgten Internierung. Überhaupt analysiert Ungváry die Umstände ebenso genau, wie er sich der Zusammensetzung der Internierten nähert. In einem Punkt rechnet Ungváry heftig ab: die Haftzeit in Ungarn stuft er als wesentlich schlimmer ein als die in der Sowjetunion. Selbst die Versorgung im GULag sei besser gewesen. Außerdem seien die Insassen dort nicht von Wachmannschaften misshandelt und gefoltert worden. Genau das sei aber in den Lagern in Tiszalök und Kazincbarcika üblich gewesen. „Die Akten schweigen über solche Fälle, aber die Erinnerungen der Häftlinge sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache“ – resümiert Ungváry. Ganz am Ende sammelt Ungváry noch einige Daten über die ÁVH-Offiziere, von denen einer sogar Direktor der Salamifabrik Pick wurde.
Noch ein interessantes Detail schreibt Ungváry: das Leiden der ehemaligen Häftlinge ging auch nach der politischen Wende von 1989 in Ungarn weiter. Zwar wurden die Urteile aus kommunistischer Zeit aufgehoben – dabei fielen die Tiszalöker aber wieder durch die Maschen. Denn sie waren ja niemals verurteilt worden. Entsprechend wies das ungarische Justizministerium die Anträge auf Rehabilitierung zurück.
Im Anhang hat Georg Richter noch weitere Materialien zusammengestellt. So findet man die Mitschriften der Interviews des Dokumentarfilms „Tiszalök“ aus dem Jahr 1995. Es ist auch die Übersetzung der Originalmeldung vom 24. Oktober 1953 über die Geschehnisse am 4. Oktober 1953 abgedruckt. Es folgt unmittelbar die Kommentierung und Gegendarstellung durch Georg Richter. Außerdem findet man Einschätzungen zur Waffen-SS und die Rekrutierungen in Ungarn im Zweiten Weltkrieg.
Das Buch offenbart die Machenschaften eines perfiden Systems, das ohne gesetzliche Grundlage Menschen in Lagern zur Zwangsarbeit missbrauchte. Das Buch lebt durch die persönlichen Berichte Georg Richters, illustriert mit Zeichnungen von Heinz Schulze und Josef Ringhoffer. Richter erlebte Krieg, Kriegsgefangenschaft und Internierung als junger Mann. Mit 18 Jahren musste er in den Krieg. Erst neun Jahre später konnte er in ein ziviles Leben zurückkehren. Den wissenschaftlichen historischen Hintergrund liefert Krisztián Ungváry in einer prägnanten und detaillierten Darstellung, die sich auf mehreren Ebenen und unter Heranziehung vieler Aspekte dem Thema der ungarischen Internierungslager nähert. Ungváry analysiert die unmenschlichen Machenschaften und entlarvt damit das politische System der 1950er Jahre in Ungarn. Diese aufzudecken war wichtig. Die Grundlage für eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem langjährigen Tabu-Thema ist gelegt.
Klaus J. Loderer