Heinrich Göttel – Der lange Schatten des Maulbeerbaums

Von langen Schatten und Erinnerungen an Maulbeerbäume –
eine Rezension der gesammelten Werke von Heinrich Göttel

Von Thomas Dapper

Ein Buch, das einen Großteil des literarischen Lebenswerks von Heinrich Göttel enthält, zu beschreiben und einer objektiven Kritik zu unterziehen, ist zwar nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber eine Aufgabe, die in einer Rezension kaum zu leisten ist. Denn sie müsste dem Fassungsvermögen eines ganzen langen Menschenlebens gerecht werden.

Erkenntnisgewinn erwarte ich von der Lektüre der Bücher von Schriftstellern, die mir persönlich nahestehen. Heinrich Göttel, geboren 1930 in Jugoslawien, gehört qua Geburt der Generation meines Vaters an und wuchs unter den gleichen Bedingungen auf wie er. So kenne ich das Sujet seiner Erinnerungen aus den Erzählungen meines Vaters. Vertraut die Beschreibungen der Natur, der multiethnischen Kultur in der heute als autonome Provinz Vojvodina zu Serbien gehörenden Region. So ist mir der Schriftsteller Heinrich Göttel auch ohne eine persönliche Begegnung vertraut.

Heinrich Göttel erblickte das schöne Licht der Welt in der Batschka und erlebte mit kindlichem, aber wachem Bewusstsein den Einmarsch der Wehrmacht, SS, der Gestapo und des sogenannten Sicherheitsdienstes mit. Damit ergaben sich „erste Risse in der heilen Welt“ – so der zweite Titel der in acht Abschnitte unterteilten Sammlung seiner Kurzgeschichten.

Diese Kurzgeschichten haben es buchstäblich in sich. Meine eigene Verwunderung über eine zunächst als langatmig empfundene Exposition einer seiner Short Storys bereue ich angesichts dramaturgisch feinsinnig und geistreich gesetzter Wendungen und Überraschungen, die ich synchron zu meiner Ungeduld lesen durfte. Hier komisch, dort atemberaubend dramatisch zugespitzt und immer um eine realistische Darstellung der Ereignisse in der Weise bemüht, dass sie für möglichst viele Leserinnen und Leser nachvollziehbar sind – auch ohne den Bezug zu dem Themengebiet der Donauschwaben. Eben wie es das Schicksal eines Flüchtlingskindes am Ende des Zweiten Weltkrieges mit sich brachte und bei der schieren Anzahl von Millionen Vertriebener, Entwurzelter und Entrechteter „normal“ war.

So entwickelt sich bei der Lektüre seiner Kurzgeschichten immer wieder ein innerer Dialog mit dem Autoren Heinrich Göttel, voller Hochachtung für die Erzählkunst des Menschen, der in seinem Leben in wenigstes drei Kulturen
zuhause war: in seiner Heimat Pivnice in Jugoslawien als Kind; dann auf der Flucht im österreichischen Flüchtlingslager; schließlich später nach der Weiterreise – inzwischen verheiratet – in Kanada.

Dieser innere Dialog erinnert mich an Begegnungen mit längst verstorbenen Onkels meines Vaters. Herzensgut, alt, weise und sämtlich mit einem verschmitzten Grinsen ausgestattet, blieben sie alle trotz ihrer Traumatisierung
Lausbuben bis zur letzten Stunde. So zeichnet der Schriftsteller auch seine Landsleut hier und da, eben wie auch Filmfiguren entwickelt werden, mit allen Charaktereigenschaften, Schwächen, Lüsten, Sehnsüchten und Konflikten, die Menschen ausmachen. Das tut er meisterhaft und versieht die Darstellung seiner Figuren mit dem Anspruch, sie nicht zu verraten oder zu diskreditieren. Er behandelt die Figuren seiner Kurzgeschichten vielmehr wie Neffen und Nichten. Da ist eine wohlwollende und mitfühlende Distanz im Verhalten und ein tiefes Verständnis auch für irrationale Handlungen. Das macht Göttels Kurzgeschichten zu großen Erzählungen, hier und da auch dadurch, dass er bewusst Sentimentalitäten verwendet und sie bis zur Larmoyanz zuspitzt, dann beide plötzlich bricht, mit dem Ziel, als Gefühlsmensch, als der er von seinen Freunden (den echten aus seinen Erinnerungen und denjenigen, die er für seine Geschichten erfunden hat?) beschrieben wird, belastende Emotionen zu überwinden. Er leistet sich weder Tümelei noch Duselei und bleibt doch ein donauschwäbischer Schriftsteller, der nun eben in Kanada lebt. Der verschmitzte, bisweilen freche Humor scheint eine den Donauschwaben typische Wesensart zu sein. Göttel bestätigt mit seinem Werk meine Annahme.

In Heinrich Göttels Buch zeigt sich die Sehnsucht nach der heilen Welt der eigenen Kindheit. Er beschreibt sie – ähnlich wie seine Schriftstellerkollegen Helmut Erwert („Elli oder Die versprengte Zeit“) und Ivan Ivanji („Das Kinderfräulein“ und „Geister aus einer kleinen Stadt“) – als reales und lebendiges Paradies auf Erden – zunächst. Diese Sehnsucht entspricht dem Urmotiv, Geschichten zu erzählen, wie etwa Joachim Hammann in der „Heldenreise im Film“ darlegt: Jeder Protagonist – hier der Schriftsteller in seinen gesammelten Werken – sehnt sich zurück nach dem Zustand der Geborgenheit in der Kindheit und noch früher im Mutterbauch. Die Sehnsucht, die als Unordnung empfundene Welt zumindest für sich selbst wieder „in Ordnung zu bringen“ als Motivation und Triebfeder eines Filmhelden, der Abenteuer erleben muss, Hindernisse überwinden und irgendwann die selbst gestaltete Geborgenheit erleben darf, das beschreibt das Geschenkband, das die 81 Kurzgeschichten umschließt und damit eingrenzt.

Es ist der Autor selbst, der sich nach der leider vergangenen und für immer verlorenen heilen Welt in seiner zu früh beendeten Kindheit zurücksehnt, auch weil sie ihm von anderen, kriegslüsternen Diktatoren genommen wurde.
Gleichzeitig weiß er natürlich, dass dies nicht möglich ist, nicht nur wegen des eigenen stetig fortschreitenden Alters, sondern auch wegen des Endes der deutschen Minderheitskultur im ehemaligen und ebenso vergangenen
Jugoslawien. So bleiben wehmütige Erinnerungen, Träume und Begegnungen mit Menschen, die den gleichen, also einen traumatischen Hintergrund haben wie er, der Schreiber, der um die Verführungen des erlittenen Schmerzes zu
genau weiß, als dass er diesen erliegen würde. So weist bereits der Titel „Der lange Schatten des Maulbeerbaums“ auf diese nicht zu erfüllende Sehnsucht deutlich hin. Der Maulbeerbaum ist Begleiter in der Erinnerung so vieler Kinder donauschwäbischer Herkunft, die oft auch als Waisenkinder Deutschland, Österreich, Brasilien, die USA und Kanada erreichten. Dieser Maulbeerbaum wirft seinen langen Schatten in die viel zu früh gebrochenen Kinderherzen, die auch im Erwachsenenalter nie völlig geheilt werden können. Ein Schatten ist aber nicht nur ein negativer Begriff. Im Gegenteil, der Schatten eines gesunden Maulbeerbaums mit dichter Krone kühlt die Sommerhitze. So tut es dieser Schatten vielleicht auch im Interesse der Heilung der verletzten Seelen, die oft auch als Erwachsene, noch Jahrzehnte nach der Flucht, die Gründe für das Ende des multiethnischen Zusammenlebens nicht verstehen konnten. Anders als Heinrich Göttel, der seine Erlebnisse literarisch aufgearbeitet hat. Zweifellos als eigene, innere Therapie. So steht Göttels Werk bereit, Flüchtlingsschicksale, zumindest aus einem zumeist unbeachteten Winkel Europas, nachzuvollziehen.

Wie oft nach diesen Kriegen, dem Zweiten Weltkrieg, den Balkankriegen in den 1990er Jahren und auch heute wieder, äußern wir alle emphatisch die Worte „Nie wieder“ und treten doch abermals in die gleichen Fallen wie vor 100 und 1000 und 5000 Jahren. Der Mensch will aus den Fehlern lernen und doch wiederholt er sie mit beängstigender Regelmäßigkeit.

Heinrich Göttels Buch „Der lange Schatten des Maulbeerbaums“ kann auch eine Anleitung sein, zumindest die eigene Seele nach der Traumatisierung durch Krieg, Genozid, Hunger, Leid, Verlust und Entrechtung wieder zu heilen.
Denn: So bitter die erlittenen Momente auch waren, hier und da erinnert er an Menschlichkeit, die beim vermeintlichen Feind natürlich nicht erwartet wird. Demgegenüber sind Leidensgenossen nicht immer solidarisch, und jeder Hungernde freut sich über ein bisschen Nahrung, wenn er sie unbeobachtet verzehren kann. Schlechtes Gewissen im Nachgang inklusive.

Der Herausgeber der gesammelten Erzählungen und Gedichte Heinrich Göttels, Stefan Teppert, weist neben der kenntnisreichen Beschreibung der literarischen Biographie und des Schaffens des Autoren zusätzlich auf dessen in
vielen Geschichten zu erspürende Sinnsuche und Wahrheitsliebe hin. Der Herausgeber ordnet ein und macht die Relevanz des von ihm herausgegebenen Werks deutlich. Diese Relevanz speist sich aus den vielfältigen Erfahrungen, die jeweils in einer eigenen Kurzgeschichte oder auch einem Gedicht beschrieben werden und im jeweiligen Kontext der kleine Spiegel monströser historischer Ereignisse sind. So ist Stefan Tepperts Einführung ein eigenständiger Text, der diese Rezension hier spielend ersetzen könnte. In den Worten des Herausgebers schimmert natürlich die Freundschaft zwischen ihm und dem Schriftsteller durch. Es ist dieser Freundschaft zu verdanken, dass Heinrich Göttels gesammelte Werke nunmehr vorliegen und einem breiten Publikum zugänglich sind.

Stefan Teppert ordnet die Lebensdaten des Literaten und stellt das Schaffen in den naturgemäß komplexen kulturellen und geschichtlichen Herkunftszusammenhang. Herkünfte – Hinkünfte heißt deshalb der letzte der acht Teile der Erzählungen. So widmet sich der Herausgeber auch der Einordnung von Göttels Werk in den ebenfalls umfangreichen literarischen Kontext. Die Spezialisierung auf das Genre der Short Story mit ihrer Beschränkung auf 1500 bis 1700 Wörter ist der Auswanderung des Schriftstellers nach Kanada geschuldet. Die kulturelle Prägung ist hier als Inspiration zu verstehen, die neugierigen Lesern den Zugang auch zu den härteren Themen – Kollektiver Amok überschreiben – erleichtert. Dadurch hebt sich das Werk Heinrich Göttels von zweierlei Arten von Vertriebenenliteratur wohltuend ab, die entweder eine klebrig-kitschige heile Welt beschreibt oder aber das selbst erlebte Leid beklagt, ohne es wie Heinrich Göttel in den kulturellen und historischen Zusammenhang zu stellen und mitunter auf psychologische und philosophische Fragestellungen abzuklopfen.

Die lebendige und jederzeit nachvollziehbare Figurenführung lässt vermuten, dass Heinrich Göttel unter anderen Lebensumständen auch große Romane oder gute Drehbücher geschrieben haben könnte. Für viele Momente mit Erkenntnisgewinn bin ich dem Autor dankbar. Glücklich bin ich über den durchscheinenden, charmanten Humor, der mich oft unvermutet zum Lachen brachte.

Das zweite literarische Genre, das Heinrich Göttel liebt, ist die Poesie. Die Verdichtung der Sprache ist bei ihm auch die Reduktion auf den Sinn, die Bedeutung der Kernaussage, also die Essenz der ihm zugrunde liegenden Gedanken, Erfahrungen und Erkenntnisse aus einem intensiv erlebten Leben. Dies in Kunst gegossen: das Gedicht.

So problematisch meiner Generation das Gedicht in der Schule beschrieben wurde, weil nach Auschwitz keine Reime mehr erlaubt seien, weil Gedichteschreiben barbarisch sei (Theodor W. Adorno, 1949 in seinem Text „Kulturkritik und Gesellschaft“), so wundervoll beantwortete mir bei einem Interview 2012 der Rapper Kappa der Band Genetikk die Frage, warum er nach dem Reimverbot nun doch reime: „Es muss auch Heilung eintreten.“

So spannt Heinrich Göttel mit manch effektvoll gesetztem Reim vor allem aber der Essenz seiner Dichtkunst einen Bogen um Generationen, die einander auf der geistigen, literarischen, künstlerischen und, ja, der philosophischen Ebene begegnen und sich um Erkenntnisgewinn bemühen und verdient machen. Wie schön wäre es also, wenn ein Gedicht des Schriftstellers Göttel eines Tages vertont, etwa als Hiphop-Song jüngeren Generationen zugänglich gemacht wird. Der Gedankentiefe und der Heilung von unbeabsichtigt weitergegebenen Traumata wegen.

Abschließend deshalb eines seiner Gedichte, das ich als Fazit verwende und den Poeten zugleich selbst zu Wort kommen lasse:

 

Dichter Sänger Prophet

Der du den Umgang mit
Worten pflegst doch das
Wort Grausamkeit meidest
du willst es mir leicht machen
ziehst es vor mich zu schonen
weil dies Wort erschüttert

Gegenwart denke Gegenwart
ich lebe in ihr in einer Schauwelt
du weißt es alles ist Schau und
erschütternde Bilder greifen
die Sicht an und greifen tiefer
gewaltiger bis das Herz stockt

es ist vergebens den Augen
anzuschaffen nicht zu sehen
dem Herzen nicht teilzunehmen
mich so loszusagen von der
bildhaften Grausamkeit auf
noch so schonende Weise

schone mich nicht mit Worten
ich bestehe auf freie Wahl
zwei Bilder bildlich gesprochen
ein unvernünftiger Vorschlag
das Herz schließen oder
Kopf in den Sand stecken

Ich weiß beides ist
sinnlose Ausflucht
ich weiß es und
will es nicht
wissen

 

Heinrich Göttel: Der lange Schatten des Maulbeerbaums. Gesammelte Werke. Erzählungen und Gedichte. Hrsg. von Stefan P. Teppert. Europa Verlagsgruppe, 2021, Paperback, 725 S., 19,90 € + Versand. Bezug: S. Teppert, Tel.: 0 1525 4191 226, E-Mail: stefan.teppert@gmx.de